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Antike und Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens. Jahrbuch 2002 - Band 48 PDF

200 Pages·2002·14.71 MB·German
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Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens herausgegeben von Wolfgang Harms · Werner von Koppenfels Helmut Krasser · Christoph Riedweg · Ernst A. Schmidt Wolfgang Schuller · Rainer Stillers Band XLVIII 2002 Walter de Gruyter · Berlin · New York Manuskripteinsendungen werden an die folgenden Herausgeber erbeten: Prof. Dr. Wolgang Harms, Institut für Deutsche Philologie, Universität, Schellingstraße 3, 80799 München - Prof. Dr. Werner von Kqppenfels, Boberweg 18, 81929 München - Prof. Dr. Helmut Krasser, Institut für Klassische Philologie, Universität, Otto- Behagel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen - Prof. Dr. Christoph Riedweg; Kluseggstr. 18> CH-8032 Zürich - Prof. Dr. Ernst A. Schmidt, Philologisches Seminar, Universität, Wilhelmstr. 36,72074 Tübingen - Prof. Dr. Wolfgang Schuller, Philosophische Fakultät, Universität, Postfach 556Qi 78434 Konstanz - Prof. Dr. Rainer Stillers, Leinerstr. l, 78462 Konstanz. Korrekturen und Korrespondenz, die das Manuskript und den Druck bejtriflt, sind an den Schriftleiter Prof. Dr. Helmut Krasser zu richten. Die Mitarbeiter erhalten von ihren Beiträgen 2J Sonderdrucke kostenlos; weitere Sonderdrucke können vorder Drucklegung des Bandes gegen Berechnung beini Verlag bestellt werden. Buchbesprechungen werden nicht aufgenommen; zugesandte Rezensionsexemplare können nicht zurückge- schickt werden. ISBN 3 11 01 7244-5 ISSN 0003-5696 © Copyright 2002 by Walter de Gniyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig' und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und'die Einspeicherung und Verarbeitung in. elektronischen Systemen. Printed in Germany . Satz: Dörlemanri Satz, 49448 Lemförde Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Mitarbeiter des Bandes IV Martin Hose, München Die Kehrseite der Memoria oder über die Notwendigkeit des Vergessens von Literatur in der Antike l Beate Czapla, Bonn Literarische Lese-, Kunst- und Liebesmodelle. Eine intertextuelle Interpretation von Longos'Hirtenroman 18 Gesine Manuwald, Freiburg Die Argonauten in Kolchis. Der Mythos bei Valerius Flaccus und Corneille. Argonautica oder lason und Medea in luppiters <Weltplan> 43 Thomas Baier, Bamberg Die Argonauten in Kolchis. Der Mythos bei Valerius Flaccus und Corneille. La Conquete de la toison d'or oder der Triumph der Liebe 58 Vittorio Hösle, Notre Dame, Indiana Interpreting Philosophical Dialogues 68 Rainer Henke, Münster Operam et oleum perdere (<Mühe und Öl vergeuden>): Zur Geschichte einer sprichwörtlichen Redewendung 91 Peter Kuhlmann, Düsseldorf Zur Neubewertung des Lateinischen in Leonardo Brunis Übersetzungen. Eine kritische Würdigung 105 Franziska Küenzlen, Münster Alonsos de Cartagena Verteidigung der mittelalterlichen Übersetzung der <Nikomachischen Ethik> gegen Leonardo Bruni Aretino 119 Claudia Klodt, Hamburg Ein trauriges Bild. Über das Motto von Lessings Abhandlung «Wie die Alten den Tod gebildet» nebst einer Beobachtung zu einem weiteren Statiuszitat im «Laokoon» 133 Meike Rühl, Gießen Das Epos als Roman. Homer-Rezeption in L. N. Tolstojs Krieg und Frieden . . 155 Georg Wöhrle, Trier Zweimal Xanthippe bei Frank Wedekind und Bertolt Brecht 180 Bernhard Zimmermann, Freiburg Exil und Autobiographie 187 Mitarbeiter des Bandes Prof. Dr. Thomas Baier, Lehrstuhl für Klassische Philologie/Schwerpunkt Latinistik, an der Universität 5, 96045 Bamberg Dr. Beate Czapla, Am Hof le, 53113 Bonn PD Dr. Rainer Henke, Institut für Altertumskunde der Westf. Wilhelms-Universität Münster, Domplatz 20-22, 48143 Münster Prof. Dr. Vittorio Hösle, Department of German and Russian Languages and Literatures, University of Notre Dame, 318 O'Shaugnessy Hall, Notre Dame, Indiana 46556-5639 Prof. Dr. Martin Hose, Ludwig-Maximilians-Üniversität München, Institut für Klassische Philologie, Geschwister-Scholl-Platz l, 80539 München Dr. Claudia Klodt, Roonstr. 41, 20253 Hamburg Franziska Küenzlen, Institut für Deutsche Philologie I, Johannesstr. 1^4, 48143 Münster PD Dr. Peter Kuhlmann, Seminar für Klassische Philologie, Universitätsstr. l, 40225 Düsseldorf PD Dr. Gesine Manuwald, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Philosophische Fakultät 2, Werthmannplatz, Postfach, 79085 Freiburg im Breisgau Meike Rühl, Institut für Klassische Philologie, Otto-BehaghetStf. 10 G, 35394 Gießen Prof. Dr. Georg Wöhrle, Universität Trier, Fachbereich JI, Klassische Philologie, 54286 Trier Prof. Dr. Bernhard Zimmermann, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Seminar für Klassische Philologie, Werthmannplatz.3, 79085 Ffeiburgll MARTIN HOSE Die Kehrseite der Memoria oder ber M glichkeiten des Vergessens von Literatur in der Antike Die Sorge zu vergessen oder vergessen zu werden ist eines der gro en Themen unseres Kulturkreises. Da die Schrift ihre Erfindung dieser Sorge verdankt und als Speicherme- dium ihre prim re Funktion erf llte, ist eine nicht unplausible These.1 Wenn Herodot am Beginn seines Geschichtswerkes dem Buch die Aufgabe zuweist, da die Leistungen der Menschen nicht von der Zeit ausgel scht w rden (ως τε ήμτα γενόμενα εξ ανθρώπων τφ χρόνω έξίτηλα )ιατηνέγ, ist damit pr gnant dem Speichermedium eine Ged chtnis- funktion zugewiesen.2 Ein Verlust des Speichermediums impliziert daher den Verlust von Erinnerung. Das Resultat ist Vergessen. So kann man die materielle Seite der Kultur von Erinnerung beschreiben, und von dieser Warte aus betrachtet ist es erkl rlich, warum der Literaturhistoriker der Antike ber B cher- und Bibliotheksunterg hge mit besonderem Bedauern liest. Der Brand in Konstantinopel von 475 ist eine solche Katastrophe: Er griff auf die kaiserliche Bibliothek ber und vernichtete diese mitsamt einem Bestand von 120000 B nden. Unter den B chern, so wei sp ter Johannes Zonaras zu berichten, befand sich eine 120 Fu lange Rolle, die, mit goldenen Buchstaben beschrieben, den vollst ndigen Text von Dias und Odyssee enthielt.3 Ahnlich liest man ein Ereignis im Jahre 391 in Alex- andria. Bischof Theophilos lie dort das Serapeum, das sowohl Tempel als auch Bibliothek war, zerst ren4. Zwar ist unklar, in welchem Ma hierbei die ber hmten Best nde der Bi- bliothek5 getroffen wurden, da mindestens die Philosophin Hypatia bis 415 im Bereich des Serapeum unterrichtete;6 doch da die Nachricht, auf Befehl des Kalifen Omar sei 642 die 1 Siehe Jan Assmann, Erinnern, um dazuzugeh ren. Schrift, Ged chtnis und Identit t, in: Religion und kul- turelles Ged chtnis, M nchen 2000,101-123 (zuerst 1995), hier 105-114, der die Verwendung als zu Spei- cherzwecken vor die Verwendung als Kommunikationsmedium stellt, wobei er einerseits die Notwendig- keiten bei der Bildung fr her Staaten heranzieht, andererseits seine Definition von <Text> (Sein, das erinnert werden kann, s. ebenda S. 9) zugrunde legt. 2 Vgl. Wolfgang R sler, Alte und neue M ndlichkeit. ber.kulturellen Wandel im antiken Griechenland und heute, Der altsprachliche Unterricht, Jg. 28,4,1985,4-26, hier 20-26; ders., Die <Selbsthistorisierung> des Autors. Zur Stellung Herodots zwischen M nd chkeit und Schrifdichkeit, Philologus 135,1991, 215-220. 3 Zonaras 14,2,22, der auf Malchos beruht, siehe Herbert Hunger, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner, Bd. l, M nchen 1978, 285, wo Malchos Frg 7b (FGH Bd. 4) jetzt als Frg 11 Blockley (R. C. Blockley, The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire, Bd. 2, Liverpool 1983) zu zitieren ist. Siehe ferner mit weiterer Literatur Wolfgang Speyer, B chervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen, Stuttgart 1981, 20 mit Anm. 67. 4 Quellennachweis bei E. Roeder, REIA 2,1920, s. v. Sarapis, 2411; vgl. ferner Speyer 136 mit Anm. 31. s Zur Lokalisierung der Bibliothek siehe Rudolf Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologie. Von den An- fangen bis zum Hellenismus, M nchen 1978,127-132. *· Vgl. Richard Klein, Das christliche Alexandrien in heidnischer Sicht, in: ders., Roma versa per aevum, Hil- desheim 1999,295-321 (zuerst 1994), hier 318 Anm. 56. Siehe ferner ders., Sp tantike Tempelzerst rungen im Widerspruch christlicher Urteile, in: Roma versa per acvum, 284-294 (zuerst 1993). 2 Martin Hose alexandrinische Bibliothek verbrannt worden, wahrscheinlich eine Legende ist,7 bleibt der Sturm der fanatischen Mönche 391 der plausibelste Zeitpunkt für den Untergang der Bücher. Die Geschichte der Spätantike ist reich an Erzählungen über die Vernichtung von Büchern und Bibliotheken: Für jedes große geistige Zentrum läßt sich eine entsprechende Katastrophe ausmachen:8 In Rom waren es 546 die Goten, in Jerusalem 637 die Araber, in Antiochien bereits 363 Jovian.9 Und so lautet ein Fazit des Literarhistorikers: «Neben diesen bewußt getroffenen Auswahlen, die nicht ohne Einfluß auf den Umfang des Erhaltenen geblieben sind, stehen die Verluste, die im Verlauf einer vielhundertjähri- gen Überlieferung ungewollt eingetreten sind. Den größten Schaden haben Zerstörungen infolge von kriegerischen Einwirkungen und von Bibliotheksbränden angerichtet».10 Diese oder ähnliche Betrachtungsweisen sind buchstäblich richtig, können aber dazu ver- leiten, die gesamte griechisch-römische Antike (einschließlich der Spätantike) als einen homogenen, geschlossenen Raum zu betrachten, in dem alle Texte, sobald entstanden, zu- gänglich und verfügbar waren. Wenn man überhaupt Differenzierungen annimmt, dann infolge von Kanonisierungsprozessen, mit denen nicht berücksichtigte Texte in Vergessen- heit geraten seien, ein Vorgang, den die literarhistorische Siehtweise stets mit Bedauern konstatiert11. Hierbei ist allerdings bislang die'vielleicht wichtige Frage zu kurz gekommen, welche Prozesse dem Umstand vorausgegangen sind, daß ein Buch eventuell nur noch in einer ein- zigen Kopie in einer einzigen Bibliothek vorhanden war. Dem materiellen Untergang ging, so die These dieses Aufsatzes, eine literatursoziologisch ergründbäre Konstellation des Ver- gessens voraus. Diesem Vergessen, will ich nunmehr nachgehen, wohl wissend, daß hier nur ein erster, wahrscheinlich ergänzungsbedürftiger Versuch unternommen werden kann. Seit etwa zwanzig Jahren gibt es eine zunehmend intensiver werdende Forschung zum <Kulturellen Gedächtnis>, die ein besonderes.Zentrum in den hier maßgeblichen Arbeiten von Jan Assmann12 äufweist, der den Terminus in Weiterentwicklung der Gedächtnistheo- 7 Siehe Speyer 21 mit Anm. 74; vgl. auch Luciano Canfora, Die verschwundene Bibliothek, Berlin 1990 (zu- erst italienisch 1986), 89-104; 117-120. 8 Siehe Speyer passim. 9 Speyer 135 mit Anm. 30: Johannes v. Antiochien Frg 181 (FGH Bd. 4). 10 Ernst Vogt, Die griechische Literatur, in: ders. (Hrsg.), Griechische Literatur, Wiesbaden 1981,1-18, hier 4, ähnlich Canfora 185-187. Siehe auch Jürgen Werner, Zur Überlieferung der antiken Literatur,' Symbolae Philologorum Posnaniensium 4, 1970, 57-77. 11 In diesem Sinne etwa Vogt 4. 12 Insbesondere Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frü- hen Hochkulturen, München (zitiert nach der Ausgabe 1999). Sofern nicht anders bezeichnet, ist im fol- genden stets auf dieses Buch verwiesen. Ferner dcrs., Ägypten - eine Sinrigeschichte, München 1996; ders., Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000. Eine Aufarbeitung der sich seit 20 Jahren dynamisch entwickelnden Forschungen zum Bereich der <Memoria> in Literatur-, Kultur- und Geschichtswissenschaf-. ten kann hier nicht geleistet werden. Lediglich hinweisen möchte ich auf einige wenige Arbeiten» denen die hier vorgelegten Gedanken einiges verdanken: Aleida Assmann, Jan Assmann, Christof Hartmeier (Hrsgg.), Schrift und Gedächtnis, München 1983; Aleida Assmann, Jan Assmann (Hrsgg.), Kanon und Zensur, München 1987; Jan Assmann, Tonio Hölscher (Hrsgg.)i Kultur und Gedächtnis, Frankfurt 1988; Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt 1990; Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hrsgg.), Memoria, Vergessen und Erinnern, München 1993. Die Kehrseite der Memoria 3 rie von Maurice Halbwachs13 geprägt hat. Forschungen zum Vergessen sind dagegen rar. Sie stammen - mit der Ausnahme von Harald Weinrichs Buch <Lethe>14 - von Historikern. Genannt seien Loraux, Yerushalmi und Flaig,15 die - wiewohl gedankenreich - für die Literaturgeschichte der Antike weniger Anknüpfungspunkte bieten als Assmann. In Kurz- form seien deshalb die für mein Thema wesentlichen Gedanken Assmanns in Erinnerung gerufen: Es geht ihm darum, den Zusammenhang zwischen Erinnerung bzw. Vergangen- heitsbezug, Identität bzw. politischer Imagination und kultureller Kontinuierung bzw. Tra- ditionsbildung in einer Kultur zu beschreiben.16 Kultur definiert sich für ihn als <konnektive Struktur>, als Träger einer doppelten Verbindungsstruktur, die sozial, da sie die Menschen im Jetzt verbindet, wie zeitlich wirkt, da sie die prägenden Erfahrungen gegenwärtig hält. Das <Wir> einer Gruppe oder Gesellschaft ist Ausdruck einer solchen konnektiven Struk- tur.17 Es gibt dabei Prinzipien, die konnektive Strukturen verfestigen, sie zeitresistent ma- chen und für Invarianz sorgen - für sie gebraucht Assmann in Erweiterung der üblichen Verwendung den Begriff <Kanon>.18 Da es nun einen Zusammenhang zwischen (kollekti- ver) Erinnerung, Schrifckultur und Ethnogenese gibt,19 will er diesen mittels des Begriffs des kulturellen Gedächtnisses erhellen. Das kulturelle Gedächtnis ist hierbei ein Teil der Außendimension des menschlichen Gedächtnisses, d.h. die Aufnahme und Organisation von Daten, die die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen betreffen. Vier Bestandteile hat diese Außendimension: das mimetische Gedächtnis, das Gedächtnis der Dinge, das kommunikative Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis. Für den hier untersuchten Bereich sind aus diesen vier, freilich ineinander übergehenden Bestandteilen insbesondere die beiden letztgenannten bedeutsam: Das kommunikative Gedächtnis bedeutet die Speicherung von Interaktionsmustern, die die Kommunikation mit anderen Individuen erlaubt, das kulturelle Gedächtnis bedeutet die Speicherung bzw. <Überlieferungs- und Vergegenwärtigungsform des kulturellen Sinnes>. Dieses kulturelle Gedächtnis erfordert, um über das einzelne Menschenleben hinausreichen zu können, Möglichkeiten externer Zwischenspeicherung> wie auch Mechanismen für die Auslage- rung und die Wiedereinschaltung. Abstrakt - und nach Assmann - formuliert: Es benötigt Kodierungssysteme, etwa Schrift oder Bild, und Speicher, etwa Bücher oder steinerne Mo- numente; daneben aber auch Spezialisten, die auslagern oder wiedereinschalten. Für Ass- 13 Maurice Halbwachs, Les Caches sociaux de la memoire, 1925; deutsch: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt 1985; ders., La memoire collective, 1950; deutsch: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt 1985. 14 Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997 15 Nicole Loraux, Uoubli dans la cite, Le Temps de la Reflexion l, 1980, 213-242; Y. H. Yerushalmi, Usages de l'oubli, Paris 1988; Egon Flaig, Soziale Bedingungen des kulturellen Vergessens, in: Wolfgang Kemp u. a. (Hrsgg.), Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 3, 1999, 31-100. Siehe ferner die aus philosophischer Per- spekme entwickelten Gedanken von Rainer Wiehl, Kultur und Vergessen, in: Assmann/Hölscher, Kultur und Gedächtnis 20-49. 16 S. 16. 17 S. 16/7 u S. 18; 103-129. " S. 19. 4 Martin Hose mann ist also das kulturelle Gedächtnis einerseits die Quelle für Tradition und Kommuni- kation, also für diejenigen Momente in einer Gesellschaft, die einen aktualisierten Sinn> verkörpern;20 andererseits kann die Gesellschaft auf Vergessenes zurückgreifen und es re- aktualisieren bzw. ihm einen neuen Sinn zuschreiben ^ Soweit läge hier eine klare Bestim- mung des.<Vergessens>, sie bestünde darin, daß bestimmte Daten aus dem <gelebten> Feld von Kommunikation und Tradition ausgelagert würden. Eine solche Definition geht jedoch nicht auf, da Assmann seinen Begriff des Vergessens wie folgt erläutert: «Den positiven neuen Formen der Retention und des Rückgriffs über die Jahrtausende hinweg entsprechen die negativen Formen eines Vergessens durch Auslagerung und eines Verdrängens durch Manipulation, Zensur, Vernichtung, Umschreibung und Ersetzung.»21 Damit wird Vergessen mehrdeutig, da der Terminus zugleich Auslagerung und Vernichtung bezeichnen kann. An dieser Stelle, so scheint mir, ist das Assmannsche Gebäude defizitär *· wobei diese Feststellung weniger als Kritik22 verständen werden muß denn als .Arbeitsauf- trag. Doch zunächst sei noch auf die Applizierung verwiesen, die Assmann mit seinem Konzept unternimmt: Er untersucht die pharaonisch-ägyptische, die israelitische und die griechische Kultur als <Fallstudien> und unterscheidet drei verschiedene Ausprägungen der <konnektiven Struktur> bzw. des kulturellen Gedächtnisses, Im spätzeitlichen Ägypten er- folgt eine Stabilisierung dieser konnektiven Struktur nicht über einen Textkanon, sondern in Monumentalform, in Tempelanlagen; demgegenüber entwickelt Israel einen Textkanon. In beiden Fällen geht der Kanonisierung ein Traditionsbruch auf politischer Ebene voraus, die Fremdherrschaft und das Exil; diese Rahmenbedingung erzwang eine Reorganisation des kulturellen Gedächtnisses).23 Hiervon grenzt Assmarm Griechenland ab. Die erste Dif- ferenz sieht er in den Schriftsystemen: Während in Ägypten die Hieroglyphen sich über das gesprochene Wort hinaus in ihrer Bfldhaftigkeit auf die Welt beziehen, ist die griechi- sche Schrift <lediglich> Repräsentanz des gesprochenen Wortes - griechische Schriftlichkeit ist ferner im Gegensatz zum göttlichen Wort der israelitischen Texte <profan>.Sie stellt ein e offenes System ohne Bindung an heilige oder offizielle Räume dar, sie ist nicht auf Spezia- listen begrenzt.24 Damit ist zugleich eine Mehrstimmigkeit der Schriftkultur bedingt, die 20 S. 23. 21 S. 23. Eine andere Unscharfe des Vergessensbegriffs entsteht in Assmanns Buch Moses der Ägypter. Ent- zifferung einer Gedächtnisspur, München / Wien 1998, 279, aus dem Begriff der normativen Inversion^ mit dem «nicht verdrängtes Verworfenes» bezeichnet ist, das als Gegenbild in Erinnerung (!) gehalten wird. Hier liegt m. E. kein Vergessen vor, da es sich weiterhin um «Bewußtseinsinhalte mit Signifikanz» (Flaig 43) handelt. 22 Eine solche Kritik ginge auch insofern fehl, als Assmann an anderer Stelle (S. 96) eine Differenzierung von Aleida Assmann referiert, nach der bei wachsender Textmenge sich das kulturelle Gedächtnis in <Funk- tions- und Speichergedächtnis> gliedert: «Je weiter die Texte in den Hintergrund unbewohnter Archivbe- stände treten, desto mehr wird der Text zu einer Form der Vergessenheit; zum Grab des Sinns, der einmal aus der gelebten Bedeutung und Kommunikation in ijm ausgelagert worden war ...» - hier müßte noch ausgeführt werden, was die Texte zu diesen <Bewegungen> treibt. Zu erwägen ist, ob der von Stephen Greenblätt vor einiger Zeit geprägte Begriff der Zirkulation der sozialen Eriergie> (vgl. Stephen Greenblatt,, Shakespearean Negotiations. The Circulation öf Söcial Energy in Renaissance England, Oxford 1988, dort Kapitel 1), der seither in der Kulturwissenschaft Verwendung findet (etwa bei Ulla Haselsteuij Die Gabe der Zivilisation. Kultureller Austausch und literarische Textpraxis in Amerika, 1682-1861, München 2000, 153-173), hier eingeführt werden könnte. 23 S. 293. 24 S. 264-268. Die Kehrseite der Memoria 5 eine Gegenl ufigkeit der Positionen erlaubt. Mindestens in der Ausleguhgstradition ist eine derartige potentielle Widerspr chlichkeit der israelitischen Schriftkultur fremd, wie eine Notiz bei Josephus erhellt: ... τέ ατε ήμου τ ύπογράφειν αύτεξουσίαν ιν σαπόντος τε ήμτίνος εν ιςοτ γραφομένοις ένούσης διαφωίας ... «Bei uns steht es nicht allen offen, Geschichte zu schreiben. Darum, gibt es im Geschriebenen auch keine Widerspr che ...».25 Oder anders formuliert: «In der griechischen Welt hat eine <Tyrannei des Buches> sich nie ausbreiten k nnen ...», so Rudolf Pfeiffer.26 Von diesen Voraussetzungen aus entwirft Ass- mann folgendes Bild der Geschichte des griechischen kulturellen Ged chtnisses: Die grie- chische Identit t, also das panhellenische Bewu tsein, habe sich formiert durch R ckgriff auf die Ilias, die eine dem israelitischen Corpus der heiligen Schriften vergleichbare Bedeu- tung als fundierender Text erlangt habe: F r Griechenland sei «die zentrale Erinnerungsfi- gur die Geschichte einer Koalition ... gegen den Feind im Osten».27 Diese Modifizierung von Erinnerung> sei im 8. Jh. erfolgt, da hier die arch ische Aristokratie gegen Ende ihrer bisherigen Lebensform (<loose society>), unmittelbar im Umbruch in eine Polis-Gesell- schaft, noch einmal eine Summe der berlieferung in einem Werk neuen Typs vereint fin- det. Dieses Werk habe unabh ngig von der urspr nglich tragenden Erinnerungsgemein- schaft> berdauert. Da die Ilias zun chst bei Festen etc. rezitiert wurde, resultierte daraus . <auf panhellenischer Ebene eine nationale Einverseelung> des Textes, woraus sich seine in- tegrative Kraft speiste.28 Die zweite Phase in der Geschichte des griechischen kulturellen Ged chtnisses sieht Assmann im Hellenismus. Er diagnostiziert zun chst einen tiefen Bruch im 4. Jh., der alle Lebensbereiche umfa t habe und als dessen Resultat man auf die <Klassik> und ihre Literatur als eine nicht fortsetzbare Vergangenheit blickte. Alexandria mit der Bibliothek und der Arbeit der Philologen bilde dabei den Versuch, sich auf die Ver- gangenheit jenseits des Bruches unter Konstruktion einer kulturellen Identit t zu beziehen. Hierbei sei ein Zwang zur Selektion entstanden, an deren Ende ein Kanon der Klassiker ge- standen habe. Damit, so Assmann, sei eine Verfestigung des kulturellen Sinnes wie in Israel entstanden, eine Kultur, «die ihre Koh renz und Kontinuit t ganz auf Texte und deren Aus- legung gr ndet».29 Die so konstruierte griechische Klassik hat f r Assmann Grundlagen- funktion f r das kulturelle Ged chtnis des Abendlandes.30 So weit (und stark verk rzt pr sentiert) Assmanns Behandlung des griechischen kulturel- len Ged chtnisses. Mir scheint, um es pointiert zu formulieren, da hier der falsche Akzent gesetzt ist: Abgesehen von der hochproblematischen Sicht auf die Ilias, deren Rolle keines- 25 Josephus, Gegen Apion 1,37; zitiert von Assmann 270 unter Verweis auf Hubert Cancik, Geschichtsschrei- bung und Priestertum. Zum Vergleich von orientalischer und hellenischer Historiographie bei Havius Josephus, Contra Apionem, Buch l, in: E. L. Ehrlich, B. Klappert, U. Ast (Hrsgg.), Wie gut sind deine Zelte, Jaakow ..., Gerungen 1986,41-62. 2* Geschichte der klassischen Philologie 52, zitiert von Assmann 270. 27 S. 273. 28 S. 275/6. 29 S. 277-280, Zitat 279. 30 S. 280.

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