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Antike und Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens. Jahrbuch 2001 - Band 47 PDF

212 Pages·2001·28.42 MB·German
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Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens herausgegeben von Wolfgang Harms · Werner von Koppenfels Helmut Krasser · Christoph Riedweg · Ernst A. Schmidt Wolfgang Schuller * Rainer Stillers Band XLVH 2001 Walter de Gruyter · Berlin · New York Manuskriptsendungen werden an die folgenden Herausgebet erbeten: Prof. Dr. Wolfgang Harms, Institut für Deutsche Philologie, Universität, ScheÜingstr. 3* 80799 München - Prof. Dr. Werner von Koppenfels, Boberweg 18, 81929 München - Prof. D* Helmut Krasser/Institut für Klassische Philologie, Universität, Otto-Behagel-Stt. 10, Haus G, 35394 Gießen - Prof. Dr. Christoph Riedweg, Kluseggstr. 18, > CH-8Q32 £ * rieh - Prof. Dr. Ernst A. Schmidt, Philologisches Seminar, Universität, Wjlhelmstr; 36, 72074 Tübingen - Prof. Dr. Wolfgang Schuller, Philosophische Fakultät, Universität, Postfach 5560, 78434 Konstanz - Prof. Dr. Rainer Stillers, Leinerstr. l, 78462 Konstanz. Korrekturen und Korrespondenz, die das Manuskript und den Druck betrifft, sind an den Schriftleiter Prof. Dr. Helmut Krasser zu richten. Die Mitarbeiter erhalten von ihren Beiträgen 25 Sonderdrucke kostenlos; weitere Sonderdrucke können vor der Drucklegung des Bandes gegen Berechnung);beim Verlag bestellt werden. Buchbesprechungin werden nicht aufgenommen; zugesandte Rezensionsexemplare gönnen nicht zurückgeschickt werden. ISBN 3 016968 l ISSN 0003-5696 © Copyright 2001 by Walter de Gjuyter GmbH & Co. KG, D-I0785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen' Und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Arthur Collignon, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin Inhaltsverzeichnis Werner v. Koppenfels, München oder der Blick von der Höhe: Ein menippeischer Streifzug.... l Rainer Thiel, Marburg Philosophie als Bemühung um Sterben und Tod. Tugendlehre und Suizidproblematik bei Platon und den Neuplatonikern .... 21 Stefan Büttner, Marburg Psychologie und Poetik bei Platon. Argumente für die Einheit der Platonischen Dichtungstheorie 41 Roman Dilcher, Heidelberg Die Einheit der Aristotelischen Rhetorik 66 Markus Asper, Konstanz Gruppen und Dichter: Zu Programmatik und Adressatenbezug bei Kallimachos 84 Mathias Eicks, Tübingen Triptychon der Liebe - die Oden III, 26-28 des Horaz 117 Alexander Rubel, Konstanz Caesar und Karl der Große in der Kaiserchronik. Typologische Struktur und die translatio impeni ad Francos 146 Hans Bernsdorff, Göttingen Goethes erstes Venezianisches Epigramm und seine antiken Vorbilder 164 Werner Schubert, Heidelberg Trimaichio ad symphoniam ailatus. Petrons Satyrica und Bruno Madernas Oper Satyricon 176 Anna Christoph, Bozen Der Horatier, Aeneas und das ExempeL Heiner Müllers Horatier als Lehrstück über die Verantwortlichkeit der Literatur 191 Klaus Döring, Bamberg Sokrates auf der Opernbühne 198 Mitarbeiter des Bandes Dr. Markus Asper, Untere Laube 43, 78462 Konstanz PD Dr. Hans Bernsdorff, Seminar für Klassische Philologie, Humboldtallee 19, 37073 Göttingen Dr. Stefan Büttner, Philipps-Universität Marburg, Seminar für Klassische Philologie, Wil- helm-Röpke-Str. 6, 35039 Marburg Anna Christoph, Münzbänkweg 19,1-39100 Bozen Dr. Roman Dilcher, Hauptstr. 139, 69117 Heidelberg Prof. Dr. Klaus Döring, Universität Bamberg, Kapuzinerstr. 16, 96045 Bambefg Mathias Eicks, Breuningstr. 30, 72072 Tübingen Prof. Dr. Werner von Koppenfels, Boberweg 18, 81929 München Dr. Alexander Rubel, Universitätsstr. 10, Postfach D3, 78457 Konstanz Prof. Dr. Werner Schubert, Plöck 81a, 69117 Heidelberg PD Dr. Rainer Thiel, Philipps-Universität Marburg, Seminar für Klassische Philologie, WilhelnvRöpke-Stt. 6, 35039 Marburg WERNER VON KOPPENFELS ΟΣ ΠΟΚΣΑΤΑΚoder der B ck von der H he: Ein menippeischer Streifzug F r Rudolf S hnel ού ληψυος νίτϊν μήει δχωρίου Was wir brauchen, ist ein hochgelegener Standort (Lukian, Charon, 2) iuvat ire per alt a astra, iuvat terris et inerti sede relicta nube vebi validique umeris insistere Atlantis, palantesque homines passim et rationis egentes despectare procul... (OvidL, &Λ /. XV, 147 ff.) /. Paradoxie und Ex^entrik der menippeischen Standpunkte Das Bewu tsein f r die neuzeitliche Kontinuit t der Menippeischen Satire, die von den Humanisten und Aufkl rern wiederentdeckt und weiterentwickelt wurde, hat seit der ro- mantischen Epochenwende stark abgenommen*. Doch die satirisch-phantastische Erz hl- literatur von der Renaissance bis hin zur Antiutopie und Science Fiction der Gegenwart lebt in erstaunlichem Ma e immer noch von ihren Konventionen. Freilich: der Umfang des Begriffs Satura Menippea ist schon f r ihre antike Entfaltung, und erst recht f r ihr h chst vitales Fortleben seit der Renaissance, notorisch schwer einzugrenzen. Bedeutende Kritiker wie N. Frye und M. Bachtin haben sich bekanntlich mit einem gewissen Erfolg bei ihrer Anwendung des Begriffes auf die neuzeitliche Literaturen bem ht, durch Definition von Strukturmerkmalen der proteischen Gattung etwas' festere Konturen zu geben.1 Die Zunft ist dieser Anregung, wenn berhaupt, nur sehr z gerlich gefolgt. «When I started writing on such subjects,» schreibt Frye zwanzig Jahre danach, «there was not one in a thousahd university teachers of Gulliver** Travels who knew what Menippean Satire was: now there must be two or three.»2 , Die Existenz einer intrikaten und teilweise schwer zug nglichen Texttradition, die man erst einmal lesend und analysierend zur Kenntnis nehmen m te, steht dabei der abstra- * Die folgende Untersuchung ber hrt sich stellenweise mit einigen meiner fr heren Studien zum Fortleben der Menippea, auf die jeweils in den Fu noten verwiesen wird. 1 VgJ. N. Frye, Anatomy of Crit'msm, Princeton 1957, S. 308-312; S. 232-236; M. Bachtin, Probleme der Poetik Dosiojevskijs, M nchen 1971, S. 125-136; erg nzend Vf., Bild und Metamorphose, Darmstadt 1991, S. 144-151. 2 Zit. bei E. P. Kirk, Menippean Satire: An Annotated Catalogue o/Tcxts and Criticismt New York 1980, S. xxxi. 2 Werner von Koppenfels hierenden Verallgemeinerung störend im Wege^ Das Verschwinden des Lateinischen aus dem geistigen Horizont hat zentrale Mittlerfiguren wie Erasmus zu schattenhafter Existenz verdammt; ein weiteres tat die Altphilologie, zumal die deutsche, mit ihrer chronischen Unterschätzung der unklassischen Tradition - ohne Rücksicht auf die Weite und Tiefe ihrer literarischen Wirkung. Die lange Vernachlässigung Lukians ist nur ein besonders frap- pantes Beispiel unter vielen; die angelsächsischen Classical Studies haben sich freilich mittler- weile des Themas Lukian und Menippea mit einigem Erfolg angenommen.3 Wie die Dinge nun einmal liegen, wird man weder von einer modisch über den Niederungen der Texte schwebenden allgemeinen Literaturwissenschaft, noch von den nationalliterarisch ausge- richteten, und ihrer klassischen Wurzeln beschnittenen Sparten der Anglistik, Romanistik oder Germanistik viel Verständnis für die hier zu erforschenden Zusammenhänge erwarten dürfen, doch laßt die vielbeschworene komparatistisebe Öffnung dieser Fächer auf bessere Zeiten hoffen. Daß die formale Bestimmung der Menippea durch die Vermischung von Vers und Prosa, das prosimetrum, das heute noch gern von den Minimalisten zum alleinigen Gattungsmerkmal erhoben wird, nicht hinreicht, hat bereits Erwin Rohde in einer läng- lichen Fußnote seines Buches zum griechischen Roman vor einiger Zeit festgestellt: Hört man die Worte des Probus [über die Beziehung zwischen Varro und Menippos], so sollte man meinen, Varro habe von Menipp nichts als die Vermischung von Vers und Prosa herübergenommen ... doch die societas ingenii kann nicht einfach durch eine ziem- lich nebensächliche Gemeinsamkeit in der äußeren Form begründet werden ... Denn Varro verbindet mit Menipp die Gemeinschaft der Sinnesweise ...4 Und die wiederum ist in ihrer paradoxen Bildhaftigkeit kynischen Ursprungs: der (die kynische Wendung, Gesinnung, Metapher, Perspektive) bedeutet Verrückung der vertrauten Sehweise zu umstürzlerischen Zwecken. Anders gesagt: die Menippea macht mit den Mitteln fiktionaler Phahtastik die philosophische Subversion des Überkommenen erlebbar, und zugleich als konische Verbildlichung anschaulich: ihre Fiktionen und Bilder sind letztlich Gedankenfiguren. Sie ist eine scherz-ernste Mischform, ein kynischer Färbung, und als erklärte Vermengung heterogener Bestandteile satura im ur- sprünglichen Wortsinn. Das Lehrziel des Kynikers Diogenes, das Überkommene und Fest- gesetzte exemplarisch umzustoßen und auf den Kopf zu stellen, von seiner anekdotischen Biographie nachdrücklich bezeugt, ist für das Genre, dem die literarische Schocktaktik als Denkanstoß dient, von hoher Relevanz. Da die Schriften des Gattungsbegründers Menip- pos völlig, die des römischen Hauptvertreters Varro weitgehend verloren sind,' darf das satirische Werk Lukians (freilich nicht in seiner Ganzheit) als das vollständigste Textkorpus der antiken Menippea gelten. In erster Linie bei Lukian setzen daher auch die Neumenip- peer aus Renaissance und Aufklärung an. Vgl. M. Coffey, Roman Satire, London 1976, Part III: «Menippean Satire»; J. G Relihan, Ancient Menippean Satire, Baltimore 1993. Auf den Spuren von Frye.und Bachtin wandelt H. K. Rükonen in Mtnipptan Satire · äs a Uterary Genre with special reference to Seneca's Apoc.ohcyntosis, Helsinki 1987. - Der Impuls für eine Neubetrachtung der Menippea kam aus den neueren Literaturwissenschaften und erreichte relativ spät die Altphilologie, für die immer .noch Relihans Feststellung gilt: «There is a general unwillingness among the classicists to treat Menippean Satire äs a genre in and of itself which Spans both Greek and Latin literature» (S. 3). - Zur deutschen Geringschätzung Lukians, einem post-Wielandschen Phänomen, vgl. N. Holzberg, «Luciap and the Germaris», in A. G Dionisotti et al., ed., The Uses of Greek and Latin, London 1988, S/199-209. [ Der griechische Roman und seine Vorläufer, Leipzig 1914^ S. 267, Anm. 1. ΟΣ ΠΟΚΣΑΤΑoΚ der der Blick von der H he; Ein menippeischer Streifzug 3 Im Gegensatz zur klassischen Verssatire ist die Menippea prosaisch und handlungs- betont; genauer, sie bedient sich vorwiegend der erz hlenden oder dialogischen Prosa und erstellt Fiktionen, die durch ihre scheinbare Inkoh renz und Phantastik auf ihre bertra- gene Bedeutung verweisen. Das urspr ngliche formale Merkmal der Vers-/Prosamischung ist nur ein Aspekt — und kein notwendiger - ihrer parodistischen Buntheit des Stils. Und die wieder bedeutet Aufk ndigung der sprachlichen Hierarchien, eine Art Umsturz im Stilbereich, und zugleich satirische Mimesis des verr ckten irdischen <Schauspiels> (die Theatermetapher erscheint regelm ig), wie es sich dem Menippeer pr sentiert. Vom Mond auf die Erde herabschauend nennt etwa der luftreisende Menipp (im Ikaromenippos des Lukian) bzw. sein Gespr chspartner das Erdenschauspiel «bunt und mannigfaltig», «einen Mischtrank», «ganz und gar l cherlich und wirr» und einen «paradoxen Anblick».5 Die Menippea versteht sich als paradox, d. h. gegen die g ngigen Anschauungen ge- richtet, und sie spielt ihre Paradoxie lustvoll, manchmal auch mit einem kr ftigen Schu von erkenntnisf rderndem Sarkasmus aus. <Verr cktheit> als weise Narrheit ist die Grund- befindlichkeit des Menippeers; Diogenes (den Plato einen «rasenden Sokrates» nannte), Demokrit (der hohnlachende Philosoph) und Momus (der Miesmacher unter den G ttern) sind seine Leitbilder. Da die Menippea jede Tats chlichkeitsillusion f r ihre Handlungen letztlich untergraben mu , will sie sich nicht um ihre aufkl rerische Wirkung bringen, wird neben der Phantastik der Fiktion ihre konische Vermittlung zum entscheidenden Strukturmerkmal. Ihre Situationen und Handlungen sind nicht einmalig, sondern metaphorisch zu ver- stehen, denn sie ist nicht mit Individualit t befa t, sondern mit geistigen Haltungen. Mit konischer Selbstverst ndlichkeit hebt sie die Grenzen zwischen Alltag und Mythos, Erde, Himmel und H lle, Gegenwart, Vergangenheit und selbst Zukunft auf, um ber-, unter- und au erweltliche Standpunkte zu beziehen - oder sie schafft Situationen innerweltlicher Exzentrik. Das Totengespr ch, die kosmische Reise, die phantastische Vision, das saturnali- sche Gastmahl, die <pikareske> Tierperspektive, die Konfrontation mit Riesen und Zwergen sind nur die bekanntesten Beispiele solcher ber sich selbst hinausweisenden Situationen, in denen das Exzentrische, Skandal se, also der Normbruch als Moment der Entlarvung, inszeniert wird. Verk rzt gesagt: die Menippea ist eine Schockperspektive auf kdische Dinge, die die Verr cktheit der vermeintlich normalen Welt enth llt. 2. Schrumpfung der Menschheit unter dem olympischen Blick In vielen Texten der Gattung werden demnach exzentrische — und das hei t oft ganz konkret: ber- und unterirdische - Standpunkte eingenommen, und dies unweigerlich zum Zweck einer satirischen Teleskopie der vertrauten Welt. Diese wird durch die phantastische Fiktion des radikal fremden B ckes auf sie ihrer Hybris berf hrt, durch eine (bis zur Erfindung des Luft- und Raumschiffes) rein imagin re H hen- und Au enperspektive. Die Teleskopie bedingt eine drastische Wertreduktion: die Schrumpfung vertrauter Gr e durch Ferne und Verzerrung beansprucht mit der optischen zugleich moralische G ltigkeit. 5 λη ίκιοπαι πή καδοτναπις την ή 0·έα (16). - ό ών εκυκος τύο(17). - ιν σαπάτναΠ... παγγέλοιος αικ νη έμγαρατετ[ή ή]δφ (17). - "Ω ης του ξόδαραπας έθ(19), 4 Werner von Koppenfels Schon Lukian geht es in einigen seiner charakteristischen Texte um diese optische Di- stanz vom irdischen Schauplatz^ die eine Weltbetrachtung im Sinne der kynischen Herab- schau, und ihres Agenten, des oder «Spähers Von oben> erlaubt.^ Der Blick aus der Höhe umfaßt, wie gesagt, die Totalität der Welt um den Preis ihrer Schrumpfung. (Das Motiv taucht offenbar, wie die gefundenen Bruchstucke nahelegen, auch bei Varro auf, als kosmische Fernsicht und als Herabschau auf das verrückte Rom7). Bei Lukian präsentiert sich in Charon oder die Herabscbauenden ebenso wie im Ikaromenippos aus der Höhe dem Betrachter jeweils das gleiche Bild einer in ihrem zivilisatorischen Anspruch drastisch verkleinerten Menschheit. In einem Prozeß sekundärer Verbildlichung setzt die Menippea für diese Verkleinerung niedere Insektenmetaphorik ein: Der Freund: Aber ich bitte dich, die Städte selbst und die Menschen darin, wie kamen dir diese aus solcher Höhe vor? Mentppos: Du hast doch schon manchmal eine Ameisenwirtschaft gesehen, wie das alles durcheinanderwimmelt, die einen im Kreis herumlaufen, andere hinausgehen, andere zu- rückkommen, diese einen Unrat hinausschafft, jene mit einer irgendwo aufgelesenen Bohnenhülse oder einem halben Gerstenkorn im Munde dahergerannt kommt: und wer weiß, ob es nicht auch Baumeister, Vplksredner, Ratsherren, Musiker und Philosophen nach ihrer Weise unter ihnen gibt? Wie dem auch sei, ich fand zwischen diesen Ameisen- nestern und den Städten mit ihren Einwohnern die größte Ähnlichkeit. (Ikaromenippos > 19; Wielands Version) Diese Ameisen-Perspektive, die das vermeintlich Weitbewegende radikal verkleinert und zum massenhaften Gewimmel entindividualisiert, ist ihrem Wesen nach eine niederburleske Verzerrung, die ihren Gegenstand, die alltägliche Existenz der Menschen mit ihren verzeh- renden Ambitionen, jener Lächerlichkeit aussetzt, die ihm unter dem olympischen Blick zukommt.8 All die irdischen Tragödien und Heldentaten werden dabei zur buntscheckigen 6 Die (ursprünglich kynische) phantastische Kataskopie wird m. W. in den neueren Untersuchungen zum Genre nicht als zentraler, über Jahrhunderte hinweg klär ausgeprägter menippeischer Bildkomplex er- kannt und verfolgt; zur älteren Forschung vgl. die knappen Bemerkungen in R. Heim, Lucian und Mtnipp, Leipzig 1906, S. 94, und K. Mras* «Varros menippeisehe Satiren und die Philosophie», Neue Jahrbücher, 33, 1914, S. 408. 7 Die Bruchstücke dreier Menippeen Varros lassen einen deutlichen Bezug auf die Kataskopie erkennen: In den Eumenides beobachten mehrere Kataskbpoi von einer Warte (speculä) aus, wie das Volk von den Furien der Leidenschaft gepeinigt wird; Marcipor scheint eine Luftreise zu enthalten; zu Endymiones be- merkt L. Alfonsini bei seiner Rekonstruktion der Handlung: «la satira va indubbiamente collegata al motivo menippeo della osservazione degli uomini e delle loro azioni da un luogo elevatö quäle potrebbe essere la luna» («Le <Menippee> di Varrone», in H.Temporini, ed., Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Teil I, Bd 3, Berlin 1973, S. 41 f.); v$. dazu auch Relihan (s. Anm. 3), S. 68: «This is a use of the Cynic catascopia-, the attempt to spy on human life resembles the end of Lucian*s Callus^ 8 Im Hermotimos (6) untergräbt skeptische Ironie den philosophischen) Aufstieg zum Gipfel der Weisheit, von dessen Höhe der unerleuchtete Rest der Menschheit als Ameisen- und Pygmäengewimmel, als· <Kriechgewürm auf dem Leib der Erde> erscheint, und entlarvt den in diesem Bild enthaltenen Über- legenheitsanspruch der (falschen) Weisen als posenhaft. Hier gilt die Irohisierung dem philosophischen Topos der Weisheitsschau von der Höhe, wie er zu Beginn des 2. Buches von Lukrez* De rerum natura begegnet: sed nil dulcius est bene quam munita tenere / edifa doctrina sapientium templa serena, / despicere unde qmas aliaspassimque videre / errare aique viampalantis quaerere vitae... (II, 7ff.). Zum Nachleben dieses Bildes vgl. das ovidianische Motto der vorliegenden Studie, sowie H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt 1979.'- Enttäuschend einseitig und beliebig ist der historische Rückblick auf die Kataskopie im 1. Kapitel von Th. Ziolkowski, The Viewjrow the Tower, Princeton 1998. ΟΣ ΠΟΚΣΑΤoΑΚ der der Blick von der H he: Ein menippeischer Streifzug 5 Kom die (17) oder wie es im Charon (15) hei t, zum bunten Zeitvertreib und Wirrwarr: Όρώ ην λίκιοπνά ιτ ην τ διατριβήν αι κον τσέμ ταραχής ον τ ν.οίβ Im selben Atemzug vergleicht Charon die St dte der Menschen mit Bienenschw rmen, in denen jeder einzelne seinen Stachel hat und auf den Nachbarn einsticht, w hrend andere wie Wespen die Niedri- gergestellten plagen und auspl ndern: hier erh lt die Tierbildlichkeit einen Zug ins Aggres- sive. Die Menschheit bei ihren mehr oder minder heroischen Verrichtungen erscheint dem Blick von oben als Gewimmel sinnlos zappelnder und aufeinander einstechender Insekten. Da dieser Blick von oben urspr nglich der kynisch-h ndische Blick von unten war, zeigt die Figur des Charon als typisch kynische Persona: der F hrmann der Unterwelt l t sich vom G tterboten Hermes, in Parodie des Gigantensturmes, einen Hochsitz aus berein- anderget rmten Bergen bauen, der ihm nicht als Himmelsleiter, sondern, als Standort f r den R ckblick, f r die irdische Herabschau, dient; seine Perspektive der irdischen Dinge sub specie mortis wird durch die paradoxe Umkehr von unten nach oben nur um so eindring- licher. Die phantastisch-satirische Herabschau auf eine verkleinerte und verfremdete Menschen- welt geh rt zu den Bildkomplexen von au erordentlicher L ngen- und Tiefenwirkung, die die bildfreudige, respektlose und relativistische kynische Diatribe den europ ischen Literaturen vermacht hat; ein Verm chtnis, das in weit auseinanderliegenden Epochen und Texten dank seiner prototypischen Motivik identifizierbar bleibt und dabei seine urspr ng- lich philosophische Pr gung nicht verleugnet. So sieht etwa Johann Fischart, ausschweifen- der bersetzer des Menippeers Rabelais und Zeitgenosse einer von Kriegen heimgesuchten Epoche, im 1. Kapitel seiner Geschichtklitterung die gro en historischen V lkerbewegungen auf der Erde als M use-, Schnaken- und Hornissenschw rme, «wie ein Hafen voll Beelze- bubmucken: also da es dem Wolffio im Scipionischen Himmel noch ein lust herab zu- sehen gibt, da die Mirmidonische zweibeynige Omeysen hie unten noch also durch einan- der haspeln und graspeln».9 Der «Scipionische Himmel» erinnert daran, da auch Ciceros Traum des Scipio mit seiner Umkehr der Perspektive und Verkleinerung des Irdischen letztlich der hier verfolgten menippeischen Tradition angeh rt. Scipios posthume Herabschau auf die parva terra er- ffnet eine lange Reihe spezifisch philosophischer, sp ter christlicher Adaptionen der me- nippeischen Kataskopie. In diese Reihe geh ren u. a. Senecas Erde als orbis angustus aus der Vorrede der Quaestioms naturales, ein blo er Punkt vom Himmel aus betrachtet, dazu die angustissima area, in mintmi puncn quodam puncto aus der Consolatio Philosophiae des Boethius (II, Prosa 7), ferner Dantes Blick aus dem «Paradiso», nach seinem Aufstieg ber die sieben Planetenhimmel, zur ck auf die Erde als <kleine Tenne> (aiuola\ Boethius' area, an die diese Stelle anschlie t, hei t zugleich <Platz> und <Tenne>): L'aiuola ehe ci fa tanto feroci ... Tutta m'apparve dai colJi alle foci ... Die Tenne, drauf wir uns so wild bekriegen ... Ich sah sie ganz von Berg bis Meerflut liegen.10 9 Geschichtklitterun& (Ausgabe letzter Hand, 1590), cd. U Nyssen, D sseldorf 1963, S. 34. <Wolffms> ist der . Aiigsburger Humanist Hieronymus Wol£ der 1569 Schotten zum Somnium Scipionis ver ffentlichte. 10 Paradiso, XXII, 151; deutsche Version von R. Zoozmann, Darmstadt 1958, S. 417. - Ein weiterer bedeut- samer mittelalterlicher Beleg zu dem menippeischen Komplex «Erde als Tenne> findet sich im Kontext der <Greifen£ahrt Alexanders) in verschiedenen Fassungen des Alexanderromans: Da der Held die Erde erobert hat, bleiben seinem Tatendrang nur die unbetretbaren R ume, zu denen das irdische Paradies

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