Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften Geisteswissenschaften Vorträge· G 368 Herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften OTTO ZWIERLEIN Antike Revisionen des Vergil und Ovid Westdeutscher Verlag 427. Sitzung am 15. März 2000 in Düsscldorf Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. Alle Rechte vorbehalten © Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden, 2000 Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Fachverlagsgruppe BertelsmannSpring;er. Das Werk einschlieGlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung augerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das g;ilt insbe sondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem Papier. Herstellung: Westdeutscher Verlag ISSN 0944-8810 ISBN 978-3-663-05344-6 ISBN 978-3-663-05343-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-05343-9 Inhalt Einleitung 7 A. Antike Revisionsspuren im Vergil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1. Überschüssiger Text in Vergilhandschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 H. Überschüssiger Text in der Nebenüberlieferung ............. 10 1. Das Vorproöm [Aen.] 1,1'-d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2. Die Helena-Episode [Aen.] 2,567-588 .................. 12 III. Einhellig überlieferte Zusätze .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1. Im Zusammenhang anstößige Wiederholungsverse ........ 16 a) Die Abfahrt der Trojaner von Sizilien: [Aen.] 5,778 ..... 16 b) Der Lanzenschwinger Aeneas: [Aen.] 1,313 ........... 18 c) Creusas Abschied: [Aen.] 2,792-794 ................. 21 2. Sachlich anstößige Zusätze ........................... 25 a) Erweiterung programmatischer Proömienpartien . . . . . . . 25 [georg.] 2,42-46 ................................. 25 [georg.] 3,46-48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 b) Die zweite Helenus-Rede in [Aen.] 3,470-481 ......... 40 c) Die Tore der Träume: "a Vergilian enigma" . . . . . . . . . . . . 47 B. Antike Revisionsspuren im Ovid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Ein editorisches Experiment in den Metamorphosen ......... 54 H. Eine unechte Tageszeitschilderung in am. 16 . . . . . . . . . . . . . . . . 57 III. Der Schluß von Ovids Autobiographie .................... 58 C. Grenzen der Echtheitskritik ............................... 63 1. Ovids vitia und das Fehlen der letzten Feile ................ 63 H. Die unvollendete Aeneis ................................ 64 1. Tibicines .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Aen. 6,900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Aen. 1,297-304 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2. Fehlende oder unzureichende Exposition von Namensträgern 68 a) Dido .......................................... 68 6 Inhalt b) Vergils sonstige Praxis ............................ 69 c) Abweichungen (Iuturna - Creusa - Misenus - Latinus- Nisus und Euryalus - Dido) ....................... 71 3. Sprachliche und metrische Inhomogenität ............... 76 Schluß bemerkung ........................................... 80 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Einleitung Lukian von Samosata erzählt in seinem etwa zwischen 160 und 170 n. ehr. geschriebenen satirischen Roman ,Wahre Geschichten' (aAq31) olqyqllma), daß er einmal von den Säulen des Herakles aus in See stach, um zu erkunden, wo der Ozean ende und wie es mit den jenseits wohnenden Menschen stehe. Auf seiner Fahrt übers Meer, durch die Luft und wieder übers Meer sei er auch auf die Insel der Seligen gekommen. Dort habe er alle Heroen, alle Teilnehmer am Zug gegen Troia und viele berühmte Persönlichkeiten aus der Mythologie und der Geschichte verschiedener Völker angetroffen, darunter auch die Philo sophen Sokrates, Aristipp und Epikur und ihre trinkfesten Anhänger. Platon sei nicht zugegen gewesen, da er ja in der von ihm selbst erdichteten Stadt unter der von ihm entworfenen Staatsverfassung und den von ihm erfundenen Gesetzen lebe. Auch die Stoiker hätten gefehlt, da sie noch immer im Anstieg zur steilen Höhe der Tugend begriffen seien. Von den Akademikern habe es geheißen, daß sie zwar kommen wollten, aber noch immer an sich hielten und nachdächten (En:EXElV OE EU Kat OlaOKEn:u:03m); denn sie könnten noch nicht einmal Gewißheit darüber erlangen, ob es denn eine solche Insel überhaupt gebe, ganz besonders aber fürchteten sie das Gericht vor Rhadamanthys, da sie selbst doch sogar die Möglichkeit, ein Urteil zu fällen, aufgehoben hätten. Nach zwei oder drei Tagen Aufenthalt habe er, so fährt Lukian fort, sich zu dem Dichter Homer begeben und ihn u. a. auch über die für unecht erklärten Verse befragt, ob sie von ihm geschrieben seien. Dieser habe beteuert, daß sie alle von ihm stammten, worauf er, Lukian, die Grammatiker im Gefolge des Zenodot und Aristarch wegen ihrer zahlreichen frostigen Abhandlungen ver flucht habe: EU OE Kat m:pt n'j)v a3EwullEvwv mixwv En:qpcinwv, Ei un:' EKElVOU dEV YEypallllEvOl. Km oe; E<paoKE minae; auwG Eivm. Km:Eyi VWOKOV ouv l:hlV all<pt l:OV ZqVOOOl:OV Kat ' Apiol:apxov ypallllauKhlv n:OAAI)V l:{IV qruXpoAoyiav (VH 2,20). Bei der Schwierigkeit der Materie und der daraus resultierenden (verständ lichen) Zurückhaltung der Fachkollegen in echtheitskritischen Fragen darf man prognostizieren, daß dieser Fluch auch den hier unternommenen Versuch treffen wird, über unechte Verse in der Vergil- und Ovidüberlieferung nach zudenken. Gleichwohl sei der Versuch gewagt: Es müssen von Zeit zu Zeit 8 Otto Zwierlein auch unbequeme (und vielleicht nicht befriedigend lösbare) Fragen gestellt werden!. A. Antike Revisionsspuren im Vergil Den von Lukian gescholtenen griechischen Grammatikern, die den Homer erklärten und kritisierten und dabei selbst vor der Versathetese nicht zurück schreckten, stehen im augusteischen und kaiserzeitlichen Rom ebenso gelehrte Zunftgenossen gegenüber, die sich den - durch Q. Caecilius Epirota noch im letzten Fünftel des 1. Jahrhunderts v. Chr. in den Lektürekanon der Gramma tikschule aufgenommenen - Vergil vornahmen, ihn an seinen Vorgängern maßen, seine Vorzüge und Schwächen benannten und die Schwächen entwe der als obtrectatores geißelten oder sie mit dem unfertigen Zustand der Aeneis zu entschuldigen suchten. Günther Jachmann hat diese lateinischen Gramma tiker in einem 1935 vor der Historischen Vereinigung an der Universität Köln gehaltenen Vortrag2 auch darin ihren griechischen Vorgängern gleichgestellt, daß sie nicht den unverfälschten Text zur Verfügung hatten, sondern auf schwer interpolierten Handschriften fußten. Jachmann folgert dies vor allem aus der halbherzigen Kritik, die Valerius Probus in flavischer Zeit an den inter polierten Versen [Aen.] 1,21f. übte: "Wie die alexandrinischen Kritiker nicht annähernd in der Lage waren, auch nur bis zu der Textgestalt der homerischen Dichtungen, welche das Ende ihrer lebendigen inneren Entwickelung bezeich net, vorzudringen, sondern in weitgehender Abhängigkeit standen von Texten, wie sie die Diaskeuasten des fünften und namentlich des vierten Jahrhunderts mit dilettantischen Methoden, kunstferner Tendenz und schonungsloser Will kür hergerichtet hatten, so wurde auch Probus, zumindest stellenweise, das arglose Opfer der Textverderber, welche vor ihm in der Dichtung Vergils ihr Wesen getrieben hatten" (Ausgew. Schr. 393). Jachmann stellt sich damit in eine Reihe mit Kritikern des überkommenen Vergiltextes seit dem 18. Jahrhun dert (Markland, Peerlkamp, Pasquali)3 und formuliert ganz prononciert seine Auffassung, "dass die grosse Masse der Interpolationen bereits in unserer ältesten Handschrift fest verwurzelt war" (391). I Für kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich R. Cramer, J. Dclz, M. Deufert und R. Kassel. 2 Eine Elegie des Properz - ein Überlieferungsschicksal, RhM 84, 1935, 193-240 (= Ausgewählte Schriften 363-410). 3 Siehe O. Zwierlein, Die Ovid-und Vergil-Revision in tiberischer Zeit, Bd. 1: Prolegomena, Ber lin-New York 1999 (UaLG 57), 9ff. Antike Revisionen des Vergil und Ovid 9 Um diese These zu überprüfen, gehe ich zunächst auf überschüssiges Vers gut in der direkten und indirekten Überlieferung ein und behandle dann einige aus inneren Kriterien echtheitskritisch verdächtige Partien. I. Überschüssiger Text in Vergilhandschriften Vergleicht man die spätantiken Majuskclhandschriften des 4./5. Jahrhun derts untereinander und diese wiederum mit den frühen Minuskelhandschrif ten des 9. Jahrhunderts, so läßt sich eine gewisse Fluktuation im Textbestand des Vergil feststellen. Nur beiwege bemerke ich, daß von den 58 unvollständig überlieferten Versen der Aeneis mindestens 14 durch Interpolatoren aufgefüllt worden sind, davon 7 bereits in Kaiserzeit und Spätantike (vom 1.-5. Jahrhun dert)4. Wichtiger sind die knapp 30 interpolierten Plusverse in einer oder mehreren der Vergilhandschriftens. Das auffälligste Beispiel ist die nur in der Handschrift R aus dem 5. Jahrhundert überlieferte Vers gruppe [georg.] 4,472a-c: 4,472 umbrae ibant tenues simulacraque luce carentum, R 472" [quam multae glomerantur aves, ubi frigidus annus (= Aen. 6,311) R 472b lapsa cadunt folia, aut ad terram gurgite ab alto (= Acn. 6,310) R472c trans pontum fugat et terris immittit apricis.] (= Aen. 6,312) 473 quam multa in foliis avium se milia condunt, Vesper ubi aut hibernus agit de montibus imber. Diese Zusatzverse stammen aus dem 6. Aeneisbuch. An sie wurde ein Gram maticus aufgrund der verwandten Ausdrucksweise (man vergleiche die Unter streichungen) in georg. 4,473 und Aen. 6,310 f. erinnert. Er hat deshalb die Aeneisverse an den Rand geschrieben, von wo sie dann in den Text gedrungen sind6• Dies ist ein Überlieferungsvorgang, wie wir ihn nicht selten bei viel gele senen Autoren beobachten. Eine systematische Überarbeitung läßt sich aus dem letztgenannten Beispiel nicht erschließen, aus den übrigen ca. 25 Plusver sen nicht mit Sicherheit ableiten; doch könnten einige von ihnen sehr wohl von der gleichen Hand stammen7• 4 Siehe Proleg. 15-17. 5 Siehe Proleg. 17-30. 6 Siehe Proleg. 2l. 7 Siehe Prol eg. 30. 10 Otto Zwierlein II. Überschüssiger Text in der Nebenüberlieferung Die auf Sueton, also wohl auf die Zeit um 120 n. ehr. zurückgehende Ver gilvita des Donat und der im 4. Jahrhundert n. ehr. tätige Kommentator Ser vius schreiben dem Vergil nicht nur die angeblichen Jugendwerke Catalepton, Dirae, Ciris, Culex und Aetna (de qua ambigitur) zu, sondern überliefern im Rahmen der Aeneiskommentierung insgesamt 34 Plusverse, die in den auf uns gekommenen spätantiken Vergilcodices nicht enthalten sind8• Ich greife die beiden bekanntesten Versgruppen, das vierzeilige ,Vorproöm' und die 22 Verse umfassende sog. Helena-Episode heraus. Beide Textpassagen sollen nach dem Bericht des Servius (zu Beginn seines Aeneiskommentars) ursprünglich Bestandteil des vergilischen Epos gewesen, von Tucca und Varius, den angeb lich9 durch Augustus beauftragten Editoren der Aeneis, aber entfernt worden sein (esse detractos). In der Vergilvita Suetons (§ 42) wird der wohl im 1. Jahr hundert n. ehr. tätige Grammatiker Nisus aufgeboten: Er habe von Älteren (a senioribus) gehört, daß Varius bei der Publikation der Aeneis die Reihen folge der Bücher zwei und drei vertauscht und den Anfang des ersten Buches durch Tilgung der Verse 1a -d verbessert habe (primi libri correxisse principium, his versibus demptis: ,Ille ego ... ). Dies ist längst als unsinnige Erfindung erkannt; doch gewinnen wir durch diese Anekdote wenigstens annähernd eine Datierung dieses Vorproöms: Die seniores, auf die sich Nisus beruft, dürften der Zeit des Tiberius angehören10• 1. Das Vorproöm [Aen.] 1,P-J Die vier dem eigentlichen Aeneisbeginn arma virumque cano vorgeschalte ten Verse sollten offensichtlich anläßlich einer Gesamtausgabe Vergils die drei Einzelwerke Bucolica, Georgica und Aeneis in einen Entwicklungszusam menhang bringen, stammen also von einem Herausgeber, der den Aeneisdich ter wie folgt einführt: "Ich, jener Dichter, der einst auf zierlichem Rohr sein Lied spielte [gemeint sind die Bucolica] und dann, heraus geschritten aus den Wäldern, die benachbarten Ackerflächen zwang, dem Bauern - sei er auch noch so begierig auf Ertrag - zu Willen zu sein, ein willkommenes Werk den Landleuten [das geht auf die Georgica], singe nun von den starrenden Waffen des Mars und von dem Mann, der als erster von den Küsten Trojas, fliehend 8 Siehe Proleg. 604 f. 9 Zumindest die Rolle des Tucca ist in diesem Zusammenhang fragwürdig, s. Lco, Plaut. Forsch. 41 und Proleg. 605 f. [0 Siehe Proleg. 31.
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