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An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie: Politik und Soziologie der Mehrheitsregel PDF

324 Pages·1984·6.586 MB·German
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Bernd Guggenberger . Claus Offe (Hrsg.) An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie Bernd Guggenberger· Claus Offe (Hrsg.) An den Grenzen der Mehrheits deßlokratie Politik und Soziowgie der Mehrheitsregel Westdeutscher Verlag CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie: Politik u. Soziologie d. Mehrheitsregel/Bernd Guggenberger; Cl aus Offe (Hrsg.). - Opladen: Westdeutscher Verlag, 1984. ISBN 978-3-531-11651-8 ISBN 978-3-322-91542-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-91542-9 NE: Guggenberger, Bernd [Hrsg.] © 1984 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt, unter Verwendung eines Fotos von Ursula Speith Alle Rechte vorbehalten. Auch die fotomechanische Vervielfältigung des Werkes (Fotokopie, Mikrokopie) oder von Teilen daraus bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. ISBN 978-3-531-11651-8 Inhalt I. Einleitung Bernd Guggenberger/Claus Offe Politik aus der Basis - Herausforderung der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie ....................................... 8 11. Historische Grundlagen des Mehrheitsprinzips Otto v. Gierke Uber die Geschichte des Majoritätsprinzipes ..................... 22 Georg Simmel Exkurs über die Uberstimmung ............................... 39 111. Verschränkung von Verfassungsprinzipien - das Mehrheitsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat Heinz losef Varain Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips im Rahmen unserer politischen Ordnung ....................................... 48 Christoph Gusy Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Staat ................... 61 Giovanni Sartori Selbstzerstörung der Demokratie? Mehrheitsentscheidungen und Entscheidungen von Gremien ................................ 83 Norberto Bobbio Die Mehrheitsregel: Grenzen und Aporien ....................... 108 Heidrun Abromeit Mehrheitsprinzip und Föderalismus ............................ 132 IV. An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie? Claus Offe Politische Legitimation durch Mehrheitsentscheidung? ............. 150 Bernd Guggenberger An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie ...................... 184 [ring Fetscher Wieviel Konsens gehört zur Demokratie? ........................ 196 Bernd Guggenberger Die neue Macht der Minderheit ............................... 207 6 Inhalt Ulricb K. heuß Die Zukunft: Müllhalde der Gegenwart? 224 Roben Spaemann Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik 240 Dieter Rucbt Recht auf Widerstand? Aktualität, Legitimität und Grenzen "zivilen Ungehorsams" ..................................... 254 Walfgang Sternstein Keine Macht für niemand! ................................... 282 Urs Müller-Plantenberg Mehrheit und Minderheiten zwischen Macht und Markt. Formen der Abwertung des Mehrheitsprinzips .......................... 297 V. Literaturverzeichnis ..................................... 311 VI. Sachregister .......................................... 318 VII. Personenregister ...................................... 32 3 I. Einleitung Bernd Guggenberger/Claus Offe Politik aus der Basis - Herausforderung der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie* Die großen Themen der politischen Philosophie erlauben keine abschließen den Antworten. Zum Kreis solcher "auf ewig" fragwürdigen Bestände ge hört auch das Grundproblem aller politischen Philosophie und aller poli tischen Praxis: Wie wird aus Vielheit Einheit? Welchen sozialen Ursachen, welchen politisch-institutionellen Wirkungszusammenhängen verdanken sich die spezifisch aggregativen Leistungen des politischen Gemeinwesen? Wie gelingt es, die empirische Vielheit der einzelnen mit ihren ganz unterschied lichen Gefühlen, Meinungen, Vermögen, Interessen und Aspirationen zu einem aktionsfähigen Gesamtkörper zu "formieren"? Ganz unabhängig von der jeweiligen Staatsform und den besonderen historisch-politischen Umständen, - jeder Politiker, ob Diktator, Demokrat oder Dauerrevolutionär muß auf diese Frage eine erfolgsverbürgende "Ant wort" finden, damit aus der Vielheit der spontanen Willensträger ein zur Durchsetzung verbindlicher Entscheidungen fähiges Willensaggregat wird. Bei der Gewährleistung dieser politischen Grundfunktion der Willensverein heitlichung wurde und werden höchst unterschiedliche Wege beschritten, die jeweils andere "Einigungsmittel" erfordern: Zwang und Terror, Gottes gnadentum und religiöse Gemeinschaft, Geschichte und Nation, ideologische Geschichtszielbenennungen und materielle Interessenübereinkunft, Experten meinungsmacht und Führercharisma und - last but not least - das für die modernen demokratischen Verfassungsstaaten dominante Mittel politischer Willensvereinheitlichung, der Mehrheitsentscheid. Die mehrheitliche Entscheidungsfindung zielt letztlich darauf ab, die Einheit aes Ganzen gegenüber dem Antagonismus der Teile zur Geltung zu bringen. Wahlen und Abstimmungen, bei denen auch die Minderheit sich schließlich dem Mehrheitswillen fügt, sind unter den Bedingungen modernen Regierens für die Gesellschaftsbildung wie für Existenz und Fortbestand des gesellschaftlichen Verbandes gänzlich unverzichtbar. Dabei trägt der Mehr heitsentscheid beidem Rechnung: dem Freiheitsanspruch der Subjekte und dem Verbindlichkeits anspruch des sozialen Ganzen. Er berücksichtigt den Führungs- und Konsensbedarf der Gesellschaft, ohne das gleichermaßen un vermeidliche wie sozial erwünschte Maß an Konflikt und individueller Ab weichung autoritativ einzuebnen. Er befähigt die Gesellschaft zu einheit lichem Handeln, ohne den Reichtum individueller Vielfalt zu ersticken. Er ist zweifellos der Mechanismus der Entscheidungsproduktion, welcher so wohl der neuzeitlichen Entdeckung des Individuums, seinen Subjektquali- Politik aus der Basis 9 täten als sozialem und politischem Handlungsträger, als auch dem kometen haften Aufstieg des Staates, dem dramatischen Anwachsen des kollektiven Handlungsbedarfs in modernen Gesellschaften, am deutlichsten entspricht. Er strukturiert in geradezu "genialer" Einfachheit den Meinungs- und In teressenstreit der Individuen und Gruppen, indem er ihn schließlich in ein einheitliches Beschlußresultat einmünden läßt. Die "modernen" politischen Systeme der kapitalistischen Industrie gesellschaften des Westens tragen dem Problem der politischen Versöhnung von Differenz und Einheit vor allem dadurch Rechnung, daß sie dem Ent scheidungsverfahren der Mehrheitsregel einen zentralen Platz zuweisen. Auf der einen Seite ist "Modernität" in gewissem Sinne gleichbedeutend mit struktureller und funktionaler Differenzierung der Gesellschaft, also mit ei ner Pluralität von koexistierenden Interessen, funktionalen Bezügen und Wertsystemen, deren Vielfalt sich kaum dauerhaft reglementieren und nicht einmal autoritär oder totalitär gleichschalten und politisch verantworten, ordnen oder in ein hierarchisches Schema pressen ließe; jedenfalls ließe sich ein solches Schema weder legitimieren noch implementieren. Auf der ande ren Seite scheint aber gerade jene Differenziertheit und Pluralität einen Einigungs-, Regelungs-, Koordinierungs- und Lenkungsbedarf nach sich zu ziehen, der weder ignoriert noch nach dem Vorbild materiell "wahrer" Norm-Erkenntnis abgearbeitet werden kann. Die Bewältigung dieses poli tischen Dilemmas der Modernität hat man sich nun davon versprochen, daß man das unverzichtbare Maß an Einheit nicht mehr über die materielle (und zeitlich unlimitierte) theoretische "Erkenntnisse" des politisch Richtigen zustandezubringen suchte, sondern vielmehr über formelle und befristete empirische Feststellung des mehrheitlich Präferierten. Diesem Gegensatz entspricht der zwischen Parteien als "Weltanschauungs parteien" und Par teien als programmpolitisch "opportunistischen" Machterwerbsgruppen, die den Test ihrer empirischen Mehrheitsfähigkeit laufend zu bestehen ha ben und sich demgemäß auf dessen Bewältigung konzentrieren. Die Einheit des politischen Gemeinwesens wird nicht mehr auf zeit lich prinzipiell unlimitierte Wahrheitsansprüche gegründet, sondern auf zeit lich limitierte und sachlich spezifizierte empirische Mehrheitsentscheidun gen, die immer vorläufig und revidierbar sind und mithin die Differenz nicht auslöschen, sondern bewahren und bestätigen. Bei aller Konsequenz und Eleganz dieser auf dem Prinzip der Mehr heitsdemokratie aufbauenden modernen Lösung des Problems der politi schen Versöhnung von Differenz und Einheit bleiben zwei Fragen übrig, die als solche zwar keineswegs neu sind, heute (insbesondere) in der Bun desrepublik jedoch eine bemerkenswerte Virulenz zu entfalten scheinen. Mit diesen beiden Fragen und ihren verzweigten Folgeproblemen beschäf tigen sich die Autoren der in diesem Band zusammengestellten Arbeiten. Es handelt sich (1) um die Frage, ob im Rahmen dieser verfassungspoliti schen Problemlösung der Mehrheitsdemokratie (und ggf. wie) gewährleistet werden kann, daß tatsächlich nichts anderes als die numerische Mehrheit der politischen Aktivbürger zum Konstituens der jeweils amtierenden po litischen Eliten und ihres Herrschaftsrechts wird. Denn andernfalls könnte es - wie etwa in autoritären Regimes, die in Mehrheitsentscheidungen eben falls oft und gern Akklamation und Scheinlegitimation suchen - dazu kom- 10 Bernd GuggenbergerlClaus Offe men, daß zwar nicht explizite politische Doktrinen, sehr wohl aber fakti sche Machtpositionen von gesellschaftlichen oder politischen Minderheiten für den Inhalt politischer Herrschaftsausübung maßgeblich werden. Diese Frage bezieht sich also auf den Grad und die Zuverlässigkeit, in dem bzw. mit der die Gleichheitsnorm verwirklicht, die Agenda der politischen Ent scheidungsthemen "offen" und die Freiheit der politischen Willensbildung und Organisation verbürgt sind. Die andere Frage betrifft (2) das Problem, ob im Rahmen der verfaßten Körperschaft des Staatsvolkes damit gerech net werden kann, daß die Bindungskräfte einer historischen nationalen Ge meinschaft faktisch stark genug sind, um jedem Mitglied den Gehorsam gegenüber Mehrheitsentscheidungen abzunötigen, ob also ein konstitutiver Konsens unterstellt werden kann, der die Vielzahl der Bürger zu einem als existent betrachteten erlebten und gewollten Verband eint, - und in wel chen Grenzen ggf. das polItische Recht der Mehrheit von diesem Konsens gedeckt ist bzw. welche konkreten Entscheidungen ihn umgekehrt brüchig werden lassen. Hier geht es also darum, die Tatsache zu beherzigen, daß Mehrheiten nicht "von selbst" im Recht sind, sondern nur dank einer prä politisch verankerten, aber nicht unzerstörbaren kollektiven Identität, aus der sie ihr Recht der Herrschaftsausübung wie aus einer Lizenz herleiten. Beide Fragenkomplexe sind schon in der klassischen Begründung des Mehrheitsprinzips durch John Locke gegenwärtig. Ad (1): Er schuf in der Kombination des Vertragsgedankens mit der Annahme unveräußerlicher Grund- und Menschenrechte die systematische Basis für die ideen- und in stitutionenpolitische Grundlegung der Mehrheitsregel als gesamtgesellschaft lichem Entscheidungsfindungsmuster. Erst in diesem Begründungskontext erhält die Mehrheitsregel die höheren Weihen eines "Prinzips". Als tech nisches Instrument kollektiver Willensermittlung hat sie eine lange vorde mokratische Tradition, die sich von den im römischen (Adels-)Senat prak tizierten Abstimmungsverfahren über die Entscheidungsfindung in den mit telalterlichen Korporationen bis zur schließlichen Mehrheitswahl der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches erstreckt, welche die Goldene Bulle von 1356 endgültig sanktionierte. Zu fast allen Zeiten haben sich auch oligarchische Regimes auf Ver fahren nach der Mehrheitsregel gestützt. Erst dort, wo es wirklich auch die substantielle Bevölkerungsmehrheit ist, die mit Hilfe der Mehrheitsregel herrscht, wird diese Regel zu einem qualitativen Kriterium der Herrschafts ausübung und ihrer Rechtfertigung. Erst im demokratischen Verfassungs staat, der vorstaatliche Grund- und Menschenrechte anerkennt und sichert und in seinen Institutionen am Prinzip der politischen Gleichheit aller Ein zelglieder ausgerichtet ist, gewinnt das Mehrheitsprinzip legitimitätspoli tische Qualität, ja kann es zum Synonym für Demokratie schlechthin wer den. Die demokratische Mehrheitsherrschaft war für Locke die einzige Re gierungsform, welche das Spannungsverhältnis zwischen individuellem Frei heitsanspruch und kollektiver Regelungsbedürftigkeit nach beiden Seiten angemessen berücksichtigt und damit das. kontradiktorische Verhältnis von Freiheit und Herrschaft im Modus der "politischen Freiheit" überwindet_ Sein beredtes Plädoyer für die "Rechte der Mehrheit" verbindet erstmals wert- und zweckrationale Argumente: Die Mehrheitsentscheidung ist, als Politik aus der Basis 11 technische Verfahrensregel, unverzichtbar zur Produktion von Entschei dungen, da Einstimmigkeit und individueller Zustimmungsvorbehalt nach dem Muster des berüchtigten "liberum Veto" das Zustandekommen von Entscheidungen überhaupt blockieren würden; sie ist es jedoch nur im Rah men einer anderen politischen Ordnung, für die politische Freiheit nicht essentiell wäre, würde nicht die Mehrheitsentscheidung den Zusammenhalt des Gesamtkörpers verbürgen, sondern, wie etwa noch bei Hobbes, aus schließlich die "auctoritas" und die von ihr ausgehende Furcht. Für Locke genügt es, daß die Mehrheit zustimmt, weil die Zustimmung aller praktisch nicht möglich ist; andererseits muß es aber eine Mehrheit sein, die für alle. verbindlich beschließt, weil sonst die Freiheit unerträglich beschnitten wür de. Ad (2): Locke begründet jedoch nicht nur die Alternativlosigkeit der Mehrheitsreg"eI in der Demokratie, sondern er benennt zugleich ihre wohl wichtigste Voraussetzung: Sie kann ihre legitimitätschaffende Wirkung nur im Rahmen einer geeinten politischen "Körperschaft" entfalten. Das Eini gungswerk selbst, der "original compact", ist nicht Ergebnis einer Mehr heitsentscheidung. Ein politikfähiger Körper kommt nur durch den Willen aller zustande; er besteht jedoch nur dann weiter und ist nur dann hand lungsfähig, wenn in der Folge die Mehrheit das unbezweifelte Recht hat, für die Gesamtheit verbindlich zu entscheiden. Ansonsten gliche das Ein treten in den Gesellschaftszustand nur Catos Besuch im Theater, der dieses bekanntlich nur betrat, um es alsbald wieder zu verlassen. Die einstimmige Vereinbarung, sich unter einer gemeinschaftlichen Regierungsgewalt zu sammenzuschließen, beinhaltet für Locke automatisch auch die Zustim mung zum Recht der Mehrheit, für alle verbindlich zu entscheiden. Eine politische Körperschaft ohne dieses anerkannte Recht der Mehrheit ist politisch inexistent. "Denn wofern die Mehrheit die übrigen nicht binden kann, können sie nicht als eine Körperschaft handeln und folgerichtig wer den sie unverzüglich wieder aufgelöst werden." Der Wille zur Gesellschafts bildung schließt, wenn er sich nicht selbst ad absurdum führen soll, die Respektierung der Mehrheitsentscheidung ein. Und umgekehrt: Damit die Mehrheit für die Gesamtheit entscheiden kann, muß erst ein geeinter, von allen bejahter Verband existieren, welcher Mehrheitsentscheidungen auch für dissentierende Minderheiten erträglich macht. Die Voraussetzung für politisches Handeln ist ein tragfähiger vorpolitischer Konsens, die Teilhabe aller an eiller über die formelle Rechtsgemeinschaft hinausweisenden poli tisch-kulturellen Identität. Nur fundamentale Gemeinsamkeiten dieser Art, deren Existenz und Erhaltungswürdigkeit von aktuellen Mehrheiten und Minderheiten gleichermaßen anerkannt werden, sichern langfristig die Mög lichkeit und Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen. übergangszeiten, Zeiten des tiefgreifenden Wert- und Orientierungs wandels, die mit einem hohen Grad an Ungleichzeitigkeit in der Wahrneh mung und Deutung von Situationen einhergehen, können daher für die Anwendbarkeit der Mehrheitsregel als Pazifizierungsillstrument sehr enge Grenzen ziehen. Wenn eille Gesellschaft - von ihren maßgeblichen Motiven und Maßstäben her gesehen - sich gleichsam in mehrere Teilkörperschaften aufspaltet, gewinnen regelmäßig zusätzliche Konfliktlösungsstrategien jen seits der Mehrheitsentscheidung an Aktualität, was gegenwärtig etwa die

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