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Américo Castro und das interkulturelle Gedächtnis von Al-Andalus PDF

14 Pages·2015·0.79 MB·Spanish
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5 Mohamed Turki Convivencia und Toleranz in Al-Andalus 27 Rosa María Menocal Hasdai ibn Shaprut: Ein Großwesir in Córdoba 37 Antolín Sánchez Cuervo Américo Castro und das interkulturelle Andalusien Gedächtnis von Al-Andalus 49 Mohamed Mesbahi Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur 77 Europa und das philosophische Erbe von Andalusien Andreas Speer im Gespräch mit Mohamed Turki 85 Helmut Danner Patrick Chabal: »The End of Conceit: Western Rationality after Postcolonialism« 99 Rezensionen & Tipps 142 IMPRESSUM 143 polylog bestellen Antolín Sánchez Cuervo Américo Castro und das interkulturelle Gedächtnis von Al-Andalus Übersetzung aus dem Spanischen von Hans Schelkshorn Die Trias »Américo Castro – interkulturelles bis heute äußerst kontrovers diskutiert wer- Gedächtnis – Al-Andalus (oder das mittelal- den. Américo Castro, der sich aktiv an der terliche Spanien unter dem Islam)« bildet eine Reformpolitik der Zweiten Spanischen Repu- semantische Konstellation von enormer Dichte, blik beteiligte, war in den zwanziger Jahren mit polemischen Sinnspitzen und einem inter- eine herausragende Gestalt des renommierten Antolín Sánchez Cuervo ist pellativen Potenzial, das auch im 21. Jahrhun- Zentrums für Historische Studien in Mad- Professor für Philosophie im dert seine Bedeutung nicht verloren hat. Gewiss, rid. Während des Spanischen Bürgerkriegs Centro de Ciencias Humanas y die Arbeit und die intellektuelle Persönlichkeit (1936–1939) verlässt Américo Castro Spa- Sociales des Consejo Superior von Américo Castro (geb. 1885 in Cantagalo, nien, womit eine lange, schmerzhafte, aber de Investigaciónes Científicas Brasilien; gest. 1972 in Lloret de Mar, Spanien) auch fruchtbare Zeit des Exils beginnt, in der in Madrid. ist Teil einer der großen Exilsgeschichten der seine bedeutendsten Werke entstehen. Die [email protected] Zwischenkriegszeit, die wie das Exil der repu- Stationen des Exils sind die Karibik, Argenti- blikanischen Kräfte im Jahr 19391 in Spanien nien, Mexiko und schließlich die Vereinigten Dieser Beitrag ist im Rahmen des Forschungspro- Staaten von Amerika, wo er schließlich als jekts »El pensamiento del exilio español de 1939 y la construcción de una racionalidad política (FFI2012- ich mir auf meinen Sammelband Antolín Sànchez 30822)« verfasst worden, das durch das Ministerio de Cuervo: Las huellas del exilio. Expresiones culturales de Economía y Competitividad del Gobierno de España la España peregrina (Editorial Tébar: Madrid 2008) zu finanziert wird. verweisen, in dem ein gewisses Panorama über den polylog 32 1 Von den zahlreichen Studien über die Exilierung kulturellen Exodus spanischer Intellektureller ent- der Kulturschaffenden Spaniens im Jahr 1939 erlaube worfen wird. Seite 37 Antolín Sánchez Cuervo: Professor an der Universität Princeton lehrt. Deutungen entwerfen, die aus einem Bruch Erst 1971 kehrt er aus familiären Gründen fast mit seiner intellektuellen Entwicklung vor anonym nach Spanien zurück, wo er ein Jahr dem Bürgerkrieg hervorgehen. später stirbt.2 In der Zeit des Exils löst sich Castro vom Die Erfahrung des Exils war für Castro be- Europäismus und dem Modernisierungsdrang stimmend, und zwar nicht nur aus den nahe- der Generation 1914, der er mit Ortega y Gas- liegenden Gründen, die für jeden Menschen set und anderen angehörte. Aus diesem Grund gelten, der sich gezwungen sieht, aus politi- geht er in gewisser Hinsicht hinter seine frü- schen oder ideologischen Gründen sein Haus he Lektüre von Cervantes’ »Don Quijote« zu- In der Zeit des Exils löst sich zu verlassen und auf diese Weise in gewalt- rück, in der Erasmus und die Renaissance den Castro vom Europäismus und samer Weise entwurzelt ist. Nach der Nie- Schlüssel bildeten. In seinem erfolgreichen dem Modernisierungsdrang derlage der spanischen Republik, der er als Buch El pensamiento de Cervantes (1925) hatte der Generation 1914. Botschafter in Berlin gedient hatte, fühlte sich Castro den kritischen Humanismus der Welt Castro wie viele andere Exilanten in einem von Cervantes, der implizit nichts Gegenre- radikalen Sinn obdachlos, versetzt in einen formatorisches enthält, ergründet. Von 1936 »Nicht-Ort« bzw. Grenzort, wo alles proviso- an wird er jedoch in verschiedenen Essays so- risch und instabil ist. Die Erfahrung des Exils wohl seine Lesart von Cervantes als auch seine wird darüber hinaus für Castro auch Aus- Sicht des spanischen Mittelalters und der Re- gangspunkt für eine entscheidende Wende in naissance Schritt für Schritt modifizieren und seinem Denken. Gewiss, Gegenstand und In- verändern. Das Exil bildet nicht bloß einen halte seiner Studien werden dieselben bleiben: politischen Kontext oder die räumlichen und die Welt des mittelalterlichen Spanien und zeitlichen Koordinaten seines Denken, viel- die Prozesse, die seine historische Realität ge- mehr wird für Castro die Erfahrung des Exils formt haben. In inhaltlicher Hinsicht werden ein neuer hermeneutischer Schlüssel, der eine sich jedoch die Perspektiven auf diese Themen neue Perspektive eröffnet, von der aus alles in massiv verschieben. Trotz der weithin unver- einem anderen Licht erscheint. Castro wird änderten Datenlage wird Castro im Exil neue vom Exil aus einen weitaus kritischeren Blick auf die Realitäten der spanischen Geschichte 2 Die Bibliografie von und über Américo Castro ist werfen, die unter den kanonischen Deutun- inzwischen unüberschaubar geworden. Für eine erste Annäherung an seinen biographischen und intellektu- gen, zu denen er selbst im Centro de Estudios ellen Lebensweg und an sein Werk vgl. Américo Castro. Históricos de Madrid beigetragen hat, verbor- Antología, Prólogo de Leoncio López-Ocón, Introduc- gen geblieben waren. ción de Juan Jesús Morales Martín y Mª Carmen Ro- Das Exil von Américo Castro hatte viele dríguez Rodríguez (Madrid, AECID, 2012) und die Facetten. Erstens war das Exil eine Flucht vor exzellente Einführung von Francisco José Martín: polylog 32 Francos Spanien, in dem Castro wegen seines Epistolario. Américo Castro y Marcel Bataillon (1923–1972), Seite 38 Edición de Simona Munari: Mádrid 2012. Engagements für die Republik weder geistig Américo Castro und das interkulturelle Gedächtnis von Al-Andalus atmen noch sicher leben konnte, obwohl er Lebendigkeit (»vividura«) oder den »lebendigen die Gewalt auf beiden Seiten kritisierte. Aber Aufenthaltsort« der Spanier nennen wird. es war auch ein Exil von seiner eigenen frü- Die »vividura« oder die spanische Lebens- heren akademischen Laufbahn, durch die er form, und zwar in ihrer Differenz – nicht sich in der hispanoamerikanischen Welt, so- Rückständigkeit – zum Rest von Europa, wohl in Spanien als auch darüber hinaus, gro- besteht für Castro in der Konvivenz, die ßen Ruhm erworben hatte. In der Suche nach Christen, Mauren und Juden in der mittel- heterodoxen Deutungen, die ihn in die Peri- alterlichen Welt praktiziert haben, ein Zu- pherie des Hispanismo versetzten, verlor er sammen-Leben und Zwischen-Sein, das stets Die »vividura« oder die jedoch die akademische Spitzenstellung, die problematisch blieb, weil es von Spannungen, spanische Lebensform, und er sich zuvor erarbeitet hatte. Nach 1939 ver- Widersprüchen, aber auch fruchtbaren Anpas- zwar in ihrer Differenz – nicht woben sich in seiner intellektuellen Persön- sungen durchdrungen war. So war und verlief Rückständigkeit – zum Rest lichkeit Leben und Werk, wodurch die bishe- das Leben der Spanier inmitten von konflikti- von Europa, besteht für Castro rigen Inhalte seiner Arbeit in ein neues Licht ven und zugleich mestizischen Identitäten, die in der Konvivenz, die Christen, rückten. Auf diese Weise kam es in Überein- eine multikulturelle Subjektivität beleuchten Mauren und Juden in der mit- stimmung mit dieser Erfahrung zu tiefgrei- und zur Erfahrung bringen, eine Subjektivi- telalterlichen Welt praktiziert fenden Re-interpretationen. Castro erlebte tät, die wohl allein im Exil, wo sie sich bricht haben. nun am eigenen Leib die spanische Intoleranz, und aus dem Gleichgewicht gerät, aufatmen die Teil einer langen Tradition von Häresien kann. Der große hermeneutische Schlüssel und Ausschließungen ist. Obwohl er sich mit zur geschichtlichen Realität Spaniens liegt manchen Elementen dieser Tradition identifi- für Castro von nun an nicht mehr im Geist ziert hatte, fragte Castro nun nach ihren ge- von Erasmus und anderen Strömungen, die schichtlichen Ursachen und suchte zugleich mit der Geschichte des übrigen Europa über- nach dem Schlüssel für eine mögliche, jedoch einstimmen, sondern in einer Erfahrung, die inzwischen verlorene Idee von Toleranz. Aus die spanische Geschichte in einem radikalen diesem Grund stellen Krieg und Exil einen Sinn von Europa unterscheidet, nämlich in Wendepunkt in der Geschichte von Castro der Konvienz zwischen Christen, Mauren und dar, in dem die Antworten auf neue Fragen Juden und ihrer mestizischen Verbreitung in nicht mehr bei den alten Lehrern der Gene- verschiedenen Gruppen von Konvertiten, Ju- ration von 1914 gesucht werden, auch nicht daisierten, Abtrünnigen, Morisken, Mozara- mehr in der nationalistischen Historiographie ben u.a. In einer Reihe zentraler Werke wie mit ihrem hispanistischen Kanon, den aufzu- España en su historia (Buenos Aires, 1948) La bauen er selbst beigetragen hatte. In und aus realidad histórica de España (México, 1954), dem Exil beginnt Castro diesen Kanon zu de- Aspectos del vivir hispánico. Espiritualismo, mesi- montieren, in der Suche nach einem verborge- anismo, actitud personal en los siglos XIV al XVI polylog 32 nen Schlüssel oder nach dem, was er selbst die (Santiago de Chile, 1949), Ensayo de historiolo- Seite 39 Antolín Sánchez Cuervo: gía. Analogías y diferencias entre hispanos y mu- war die Erforschung der Geschichte Spaniens sulmanes (New York, 1950), Origen, ser y existir mehr eine Frage der Erkundung lebendiger de los españoles (Madrid, 1959) und De la edad Ursprünge als der Systematisierung empiri- conflictiva (Madrid, 1961) wird die Bedeutung scher Daten. der Kreuzzüge, die Symbiose, aber auch die Der »lebendige Aufenthaltsort« bzw. die Konflikte zwischen den Gruppen oder »Kas- für Spanien eigentümliche »vividura« hat nach ten« und ihre Resonanz in der neuzeitlichen Castro seine Wurzeln nicht in einem unver- Geistes- und Kunstgeschichte aufgedeckt. änderlichen Wesen und Charakter, sei es der Die »spanische Differenz« war für Castro Rasse, der Geografie, dem Blut oder dem Tem- Das spanische Bewusstsein ist weder Synonym für Rückständigkeit – so die perament, noch in der Summe psychologischer nach Castro das Ergebnis einer rationalistischen Kritik – noch Geschenk ei- Züge, die zu einer Ontologie erhoben werden, Reihe von Schnitten, Rissen ner religiös verstandenen Vorsehung – so die noch in der Summe akkumulierter Tatsachen. und Hybridisierungen zwischen Sicht von Traditionalisten bzw. Reaktionären. Bei der spanischen »vividura« handelt sich viel- ethnischen, religiösen und Die »spanische Differenz« war vielmehr ein mehr um ein komplexes Phänomen, das im linguistischen Elementen, die Zeichen eines singulären Humanismus, der Sinne Ricœurs eine kontinuierliche Arbeit der sich über eine lange Zeit hin sich äußerst reichen, aber wegen des kon- Archäologie und Entmythologisierung erfor- ereignet haben. fliktiven Kontextes auch extrem schwierigen dert, und zugleich eine Konstruktion und Re- Entwicklungsmöglichkeiten verdankte. So kollektion des Sinns. Die Tatsachen werden zu wandte sich Castro von alten Essentialismen Spuren, Fährten und Indizien (»Spuren« und ab. Vergessen wir nicht, dass Castro im Um- »Aura«, von der Benjamin im Passagenwerk feld der Generation 1914, die von der Genera- spricht) einer singulären Lebensform, die sich tion 1898 zu unterscheiden ist, dem Historis- aus christlichen und semitischen Elementen mus näher stand als dem Essentialismus, näher zusammensetzt. Die spezifisch spanischen Ortega als Unamuno, auch wenn zu Ortega Lebensformen erhellen sich erst aus ihrer ak- handfeste Differenzen bestanden. Und Castro tiven Konvergenz. Das »Spanische« wird hier steht näher auch bei Dilthey, in dessen Ent- als Ausdruck eines kollektiven Bewusstseins würfen er eine primordiale Referenz finden verstanden, das Glaubensweisen, Werte und wird, mit deren Hilfe er sowohl die essentia- symbolische Modelle enthält, unter der sich listischen als auch positivistischen Reduktio- seine Realität geschichtlich organisierte. Das nismen zu vermeiden sucht.3 Denn für Castro spanische Bewusstsein ist nach Castro das Er- gebnis einer Reihe von Schnitten, Rissen und 3 Zur methodologischen Koinzidenz zwischen Hybridisierungen zwischen ethnischen, reli- Castro und Dilthey vgl. Francisco Márquez Villa- giösen und linguistischen Elementen, die sich nueva: »La historia interdisciplinar de Américo über eine lange Zeit hin ereignet haben. »Das Castro«, in: Eduardo Subirats (Hg.): Américo Castro polylog 32 Originellste und Universalste des spanischen y la revisión de la memoria. El Islam en España, Ediciones Seite 40 Libertarias/Prodhufi: Madrid 2003, S. 83–102. Genius hat« – wie Castro in España en su his- Américo Castro und das interkulturelle Gedächtnis von Al-Andalus toria hervorhebt – »seinen Ursprung in den im spürbar sind, in denen, wie Castro aufzeigt, 9. Jahrhundert geschmiedeten Lebensformen Züge und Einflüsse der arabischen erotischen des christlich-islamisch-jüdischen Kontextes ... Poesie aufscheinen. Selbst »Mio Cid« war eine Die Geschichte zwsichen dem 10. und 15. Jahr- Übersetzung des arabischen »sayyidí« (»mein hundert war ein christlich-islamisch-jüdischer Herr«), während der existentielle Sinn des Kontext. Man kann diese Geschichte nicht in Lebens, der nach Castro die spanische Identi- undurchlässige Behälter unterteilen, nicht in tät in seinem keimhaften Moment charakteri- parallele und synchrone Strömungen, weil sich siert, nämlich »leben, indem man sich opfert jede der drei Gruppen existentiell in Kontex- (vivir desviviéndose)«, wie er oft sagt – viel dem »Das Originellste und Univer- ten bewegte, die jeweils durch die beiden ande- »hadit« verdankt, d.h. der arabischen poe- salste des spanischen Genius ren Gruppen entworfen worden sind.«4 tisch-existentiellen Deutung des Lebens, die hat seinen Ursprung in den im In diesem Buch werden zahlreiche Beispiele in Europa völlig neu war. 9. Jahrhundert geschmiedeten für diese These angeführt, beginnend mit der Castro hat als Pionier auf die große Be- Lebensformen des christlich- spanischen Sprache, in der trotz ihres abend- deutung des Humanismus der Konvertiten in islamisch-jüdischen Kontextes« ländischen Fundaments Momente und Struk- der Literatur des sechzehnten Jahrhunderts turen des Arabischen aufscheinen und die zu- hingewiesen, in die sich die unterdrückte Américo Castro erst von Juden verbreitet worden ist. Andere Spitualität und Kultur der Juden, wenn auch sehr bekannte Beispiele sind die Übersetzer- auf eine untergründige Weise, ausspricht. Als schule von Toledo, die künstlerlischen und Beispiele können hier der Schelmenroman kulturellen Figuren des Mozarabischen und und die bedeutenden Werke von Juan Luis Vi- des Mudejar-Stils, die jüdische Philosophie ves und Miguel de Cervantes genannt werden, des Maimonides, der in arabischer Sprache nicht zu vergessen die Mystik von Theresa von schrieb, oder die disciplina clericalis, die erste Avila und ihrem Seelenverwandten Johannes Sammlung von Gesängen, die zwischen dem vom Kreuz, deren Wurzeln in der Mystik der 11. und 12. Jahrhundert von Pedro Alfonso, Sufis liegen. einem Juden, vom Arabischen ins Lateinische Besondere Erwähnung verdienen die zahl- übersetzt worden ist. Der arabische Einfluss reichen Essays, die Castro Cervantes und übersetzt sich also simultan in einer Domi- Don Quijote widmete, bei denen wir jetzt nanz und in einer Art »Verzauberung« – nicht nicht verweilen können. Ich möchte zumin- im Sinne eines simplen Exotismus oder Ori- dest die kritische Divergenz gegenüber den entalismus –, die in der mittelalterlichen Lite- dominanten Interprerationen hervorheben, ratur wie dem Cantar del mío Cid, dem Libro del die ihren Grund in seinem Exil hat, in dem buen amor oder der Tragikomödie La celestina Castro, wie wir bereits erwähnt haben, keine Bedenken hatte, seine anfänglichen, an Eras- 4 Américo Castro: Obras reunida. Volumen tres. mus orientierten Deutungen zu korrigieren. polylog 32 España en su historia. Ensayos sobre historia y literatura, Trotta: Madrid 2004, S. 514. In seinem Werk Hacía Cervantes (1966) und in Seite 41 Antolín Sánchez Cuervo: anderen Essays5 distanzierte sich Castro von zumindest herabgesetzt hatte. Die großen dem zu einem nationalen Mythos erhobenen Literaturtheoretiker Marcelino Menéndez y »Don Quijote«. Die tiefgründige Ironie, in der Pelayo (1856–1912) und Ramiro de Maeztu sich ein unterdrücktes multikulturelles Sub- (1875–1936) hatten in ihren ideengeschicht- jet ausdrückt, kommt vor allem im berühm- lichen Werken die Inquisition und die Ver- ten Kapitel IX von »Don Quijote« zu Ausdruck, treibung der Juden wegen ihres angeblichen eine Ironie, die von früheren Interpretationen Wunsches, Proselyten zu werden, gerecht- nicht bemerkt oder nicht genügend herausge- fertigt; in ähnlicher Weise feierte Miguel arbeitet worden ist. In diesem Kapitel berich- de Unamuno die Gegenreformation, Ortega ... positionierte sich Castro ge- tet der Erzähler, dass er bei einem Spaziergang y Gasset entwickelte die These eines roma- gen den offiziellen Hispanismo durch Toledo – wo man mit verbotenen Mate- nisch-germanischen Spanien in einem ethni- von Gestern und Heute, der die rialien handelt, weil das Arabische eine verbo- schen und metaphysischen Sinn, in der das Existenz semitischer Wurzeln tene Sprache war – eines Tages einen Text in jüdische und arabische Erbe gegenüber der in der spanischen Kultur stets arabischer Sprache findet und einem getauften imperialen römischen Tradition und der go- geleugnet oder ihre Bedeutung Mauren befiehlt, den Text zu übersetzen. Das tischen Stammesgewalt, die die wahren Fun- und Qualitität zumindest Ergebnis war das Werk Don Quijote, verfasst damente der herrschenden spanischen Kaste herabgesetzt hatte. von einem Cide Hamete Benengeli. Diese seien, völlig unbedeutend waren. Geste von Cervantes ist ein Augenzwinkern Im Anschluss daran verband José Maria für ein interkulturelles Gedächtnis, das uns Maravall, ein Schüler von Ortega y Gasset, daran erinnert, dass unter der Oberfläche der die spanische Kulturgeschichte mit den his- Erscheinungen noch eine ganze Welt existiert. toriografischen Typologien und Kategorien Cervantes selbst deckt uns auf, dass seinem Europas, d.h. der Renaissance, des Barock großen Buch eine verborgene und verfolgte und der Aufklärung. Zu diesem Zweck muss- Tradition zugrunde liegt; denn die Texte sind te man die wissenschaftliche und literarische in einer verbotenen Sprache geschrieben und Renaissance der spanisch-arabischen Kultur hätten zerstört werden können. des 12. Jahrhunderts ausblenden und auch die Auf diese Weise positionierte sich Castro dunkle Seite der Religionsgeschichte Spaniens gegen den offiziellen Hispanismo von Ges- beiseite schieben, eine Geschichte, die durch tern und Heute, der die Existenz semitischer die Kreuzzüge, die wiederholten religiösen Wurzeln in der spanischen Kultur stets ge- und ethnischen Verfolgungen, die theologi- leugnet oder ihre Bedeutung und Qualitität schen Strategien der Beherrschung Amerikas und die sukzessiven Wellen der geistigen Re- 5 Vgl. dazu Américo Castro: Obra reunida. Vo- pression, die durch die kirchliche Bürokratie lumen Uno. El pensamiento de Cervantes y otros estudios von 1492 an organisiert wurde, bestimmt cervantinos, Madrid 2002; ders., Obra reunida. Volumen polylog 32 ist. Auf diese Weise beugte sich der offizielle Dos. Cervantes y los casticismo españoles y otros estudios cer- Seite 42 vantinos, Trotta: Madrid 2002. Hispanismo den ideologischen Forderungen Américo Castro und das interkulturelle Gedächtnis von Al-Andalus des Traditionalismus und Europäismus. Die sen und, abgesehen von einigen Ausnahmen, spanische Idendität offenbarte sich wesent- weithin ignoriert. Das Ende der Franco-Dik- lich europäisch und modern, ohne aufzuhö- tatur beendete nicht die kulturellen, sozio- ren katholisch und römisch zu sein, mit einer logischen und ideologischen Trägheiten, die römisch-gotischen Wurzel, in der die Präsenz vielmehr nach Franco noch viele Jahre wei- der semitischen Züge akzidentell und »konta- terwirkten; dies erklärt die Abwesenheit von minierend« erschien.6 Das war kein Orienta- Américo Castro im gegenwärtigen Spanien . lismus, der die Repräsentationsstrategien der Gewiss, sein Werk legte einen Ursprung der arabischen und jüdischen Kulturen ausmacht, spanischen Kultur frei, der mit den Strategi- Das Werk von Castro stellte sondern sie einfach negiert. Nach ihrer physi- en des demokratischen Übergangs nur schwer [...] die Echtheit des liberalen, schen Vernichtung verblasste so auch die Erin- kompatibel war, ein Übergang, der noch im europäischsten und modernen nerung an diese Zerstörung. Sog des Franquismo stand, ohne reale Erin- Spanien in Frage. Mit seiner Dissidenz gegenüber dem offi- nerung an seine Opfer und die Exilorte, ein- ziellen Hispanismo verwandelte sich Castro schließlich der exilierten Intellektuellen wie in einen Häretiker, womit er in einer langen Castro. Mehr noch, es war ein Ort ohne Er- Tradition der Exilierten, die die spanische Ge- innerung an die Vergangenheit, da die Ver- schichte und Kultur durchzieht, steht und die gangenheit jetzt den Forderungen der neuen er selbst in der Ferne in seinem Werk analy- nationalen Erzählungen, die das postfrancisti- sierte. Castro ist ein Häretiker in Form und sche Spanien als Übergang zu einer modernen, Inhalt, der sich durch seine Methodologie liberalen und europäischen Nation redefinier- sowohl vom Positivismus als auch vom Exis- ten, angepasst wurden. So enstand ein gesell- tenzialismus abgrenzt und die Literatur als schaftliches und kulturelles Profil ohne poten- eine legitime historiografische Quelle reha- ziell konfliktive Elemente wie das Arabische bilitiert; er ist aber auch ein Häretiker durch oder das Jüdische. seine transgressive Genealogie der spanischen Das Werk von Castro stellte dieses Szenario Identität. Wegen des Exils und der heterodo- und die Echtheit des liberalen, europäischsten xen Spitze seiner Thesen ist er weder in der und modernen Spanien in Frage. Castro leg- Kultur des Franquismo noch in der Kultur des te die kollektive Amnesie bloß, die das Ende späteren Spanien gegenwärtig. So bleibt das des Francismo und die Wiederherstellung Werk von Castro durch die Diktatur hindurch der Demokratie prägte, die Ausblendung und und bis zum heutigen Tag außerhalb der spani- das Verschweigen der Exilierungen und Ver- schen Universität, eher disqualifiziert als gele- folgungen der Liberalen und Dissidenten der letzten Jahrhunderte mitsamt ihrer tragischen 6 Eduardo Subirats dokumentiert diese Bezüge in Bedeutung für die Entwicklung des modernen »La península multicultural«, in: Eduardo Subirats Spanien, und auch das Vergessen der Verfol- polylog 32 (Hg.): Américo Castro y la revisión de la memoria, (Fn. 3), S. 39–49. gung der humanistischen Reformen des Den- Seite 43 Antolín Sánchez Cuervo: kens des 16. Jahrhunderts bzw. das Schwei- schen Berufung, seinem kritischen Gepräge gen, das traditionellerweise die Literatur der und seinem Geschmack für die Ränder als ein Konvertiten und die Vertreibung der Mauren interkulturelles Gedächtnis erkennt, das sich umgibt. Über diese Themen arbeitete Cast- so in den Orbit der gegenwärtig global boo- ro mit seinen Schülern in Princeton. Castro menden Erinnerungskultur einschreibt oder deutete eine Vergangenheit an, die gegenüber vielmehr ihm vorangeht. Die interkulturelle dem Rest Europas, letztlich des rationalisti- Dimension dieser neuen Kultur verweist ohne schen und christlich-abendländischen Europa, Zweifel auf die postkoloniale Welt und auf das auch in seiner stärker säkularisierten Version, Gedächtnis des Kolonialismus, auf die Gewalt Das archäologische Bild eines diskordant ist, und dies in einem politischen des National-Staates und die Anerkennung multikulturellen Spanien hat Kontext, der durch die große Sorge um die der Unendlichkeit der ethnischen Exklusio- nicht aufgehört, ein europä- Zügelung der massiven Einwanderung aus nen und der xenophobischen Handlungen, die isches Gedächtnis zu beunru- dem Maghreb bestimmt war. Das archäologi- manchmal sogar zum Genozid geführt haben. higen, ein Gedächtnis, in dem sche Bild eines multikulturellen Spanien hat Im spanischen Kontext, in dem diese Erinne- das Jüdische und Islamische nicht aufgehört, ein europäisches Gedächtnis rungskultur trotz der Auflehnung der Zivil- pejorativ konnotiert sind. zu beunruhigen, ein Gedächtnis, in dem das gesellschaft auf zahlreiche große Hindernis- Jüdische und Islamische pejorativ konnotiert se7 stößt, bezieht sich diese Debatte über die sind und in dem die Koexistenz der verschie- Interkulturalität vor allem auf die Eroberung denen Religionen auf Phantasmen des Balkans und die Kolonisierung Amerikas, aber nicht verweisen, wobei hier den Einfluss der neo- ausschließlich: Im Fall von Castro hat diese liberalen These wie derjenigen des »Zusam- Debatte, ohne den zuletzt genannten Ereig- menpralls der Zivilisationen« (Huntington) nissen gegenüber blind zu sein8, eher eine nicht zu vergessen ist. Beziehung zu Al-Andalus oder zum Islam der Mit seiner Distanzierung von den kon- iberischen Halbinsel. ventionellen Historiografien entwarf Castro Gewiss ist Al-Andalus ein Begriff, der sich heterodoxe Wissensformen der Vergangen- nicht nur auf die Vergangenheit der konven- heit, die einem interkulturellen Gedächtnis tionellen gelehrten Geschichtsschreibung nahestehen. Castro bahnt den Weg für eine bezieht, sondern auch auf eine Weise, die- Erkenntnis der Vergangenheit, die den Ka- se Vergangenheit so zu rekonstruieren oder non und die Grenzen, die durch Erzählungen identifizieren, dass sie die Gegenwart bestim- mit einer monokulturellen Tendenz bzw. den Ausschlusskriterien einer nationalen Identität 7 Vgl. dazu z.B. Walter L. Bernecker, Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische gesetzt werden, überschreitet, um die darin Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2006, Verlag verborgene multikulturelle Realität wieder zu Graswurzelrevolution: Nettersheim, 2006, Kap. V–IX. polylog 32 finden. Es handelt sich eher um ein kulturelles 8 Vgl. dazu vor allem Américo Castro: Iberoamérica, Seite 44 Gedächtnis, das sich gerade wegen seiner ethi- su presente y su pasado, Dryden Press: New York, 1941.

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Américo Castro und das interkulturelle Gedächtnis Die Trias »Américo Castro – interkulturelles .. Cristianos, moros y judíos (1946), das seine.
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