Ambivalenz Heinz Otto Luthel Rainer E. Wiedenmann (Hrsg.) Ambivalenz Studien zum kulturtheoretischen und empirischen Gehalt einer Kategorie der Erschließung des Unbestimmten Leske + Budrich, Opladen 1997 Veröffentlicht mit finanzieller Unterstützung der Otto-von-Freising-Stiftung Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Gravur aus den "Songes drolatiques de Pantagruel", einer Sammlung aus dem Jahre 1565 Die Deutsche Bibliothek -CIP-Einheitsaufnahme Ambivalenz: Studien zum kulturtheoretischen und empirischen Gehalt einer Kategorie der Erschließung des Unbestimmten / Heinz Otto LuthelRainer E. Wiedenmann (Hrsg.). -Opladen: Leske + Budrich, 1997 ISBN 978-3-8100-1913-4 ISBN 978-3-322-91433-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-91433-0 ©1997 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und stratbar. Das gilt insbesondere ftir Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort ................................................... 7 Heinz Otto LuthelRainer E. Wiedenmann Einleitung ................................................. 9 Gerhard Gamm Die Flucht aus der Kategorie. Die Unbestimmtheit der modernen Welt im Spiegel philosophischer Diskurse ..................................... 35 Ursula A.J Becher Kontingenz und historische Erzählung ......................... 65 Wolfgang Brückner Spiegel-Erkenntnis. Mittelalterliche Realie und doppeldeutige Metapher ................ 83 Zygmunt Bauman Modernity and Clarity. The Story of a Failed Romance ............................... 109 Heinz-Günter Vester Ambivalenzen der postmodernen Geschichte .................. 123 Birgitta Nedelmann Typen soziologischer Ambivalenz und Interaktionskonsequenz ................................ 149 RudolfS tichweh Ambivalenz, Indifferenz und die Soziologie des Fremden ............................................. 165 Rainer E. Wiedenmann Tierbilder im ProzeB gesellschaftlicher Differenzierung. Überlegungen zu Struktur und Wandel soziokultureller Ambivalenzkonstruktion 185 Heinz Otto Luthe Validierungsprozesse -Zur Dynamik von Ambivalenz 223 Autorinnen und Autoren ................................... 245 Vorwort Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen auf Vorträge im Rahmen einer Arbeitstagung zum Thema "Ambivalenz und Kultur" zurück, die vom 23. bis 25. Oktober 1996 an der Katholischen Universität Eichstätt stattfand. Für ihre Unterstützung bei der TextersteIlung danken wir Herrn Arne Bladt, Frau Julia Ellis, Herrn Wolfgang Schäfer M.A. und Frau Dipl.-Soz. Kirsten Toepffer-Wenzel. Unser besonderer Dank gebührt Frau Ursula Niefuecker fUr ihre engagierte Mithilfe bei der Tagungsorganisation und der Anfertigung der Druckvorlage. Nicht zuletzt danken wir der Otto-von-Freising-Stiftung, die unser Projekt finanziell unterstützt hat. Die Herausgeber Einleitung Heinz Otto Luthe und Rainer E. Wiedenmann "Gegen Ende dieses Jahrhunderts ist die Ambivalenz der Modeme nicht nur ein Thema der Soziologie, sondern zumindest in den westlichen Industriegesell schaften die Erfahrungsgrundlage einer allgemeinen Krisenstimmung. .. ", I heißt es in einem kürzlich erschienenen Sammelband mit dem Titel "Modernität und Barbarei". In den letzten Jahren verbinden sich soziologische Gegenwarts diagnosen, die sich des Ambivalenzbegriffs bedienen, um diese "Krisenstim mung" einzufangen, vor allem mit dem Stichwort der "reflexiven Modernisie rung" und den Thesen von Zygmunt Bauman. Unabhängig davon, ob eine "spä te Modeme" sich nun durch reflexive Selbstmodernisierung vollenden soll,2 oder ob es um ein "ästhetisches Paradigma der Moderne"3 geht, das die Rele vanz von Ambivalenzen und Kontingenzen fiir die Entwicklungsbedingungen und immanenten Grenzen der "reflexiven Modernisierung" aufWeisen will, - unübersehbar ist allemal eine kaum verhüllte Ratlosigkeit angesichts eines Modernitätsbegriffs, der zusehens den Aufforderungscharakter einer allumfas senden Zeitdiagnose anzunehmen scheint. I Vor allem Publikationen von Zygmunt Bauman4 haben in den letzten Jahren wesentliche Orientierungsvorgaben eines soziologischen Diskurses geliefert, dessen Fluchtpunkt die Frage nach einer globalen Diagnose "der" Modeme zu sein scheint. Baumans Leitthese zufolge war es eine zentrale Tendenz der Modeme, in Wissenschaft, Verwaltung, Kunst und Politik "klare und distinkte" Klassifikationsordnungen zu etablieren, "Ordnungen", die darauf abzielten, Ambivalenz auszulöschen, d.h. die Universalisierung rational gebändigter Diskurse wie auch die fortschreitende Transparenz lebensweltlicher "Ordnun- I M. MiIler, H.-G. Soeffner 1996: 10. 2 Vgl. besonders U. Beck, A,. Giddens, S. Lash 1996. 3 S. Lash 1992. 4 Vgl. bes. Z. Bauman 1989; 1990; 1992. 10 Heinz Dito LutheiRainer E. Wiedenmann gen" zu gewährleisten.s Freilich, gerade diese Ordnungsanstrengungen der Mo derne provozieren eine Wiederkehr der Ambivalenzen: "Die Gesamtsumme der Ambivalenz scheint sowohl auf personaler wie auf gesellschaftlicher Ebene unaufhaltsam zu wachsen. Allem Anschein nach gedeiht Ambivalenz besonders prächtig auf dem Boden der Anstrengungen, sie zu zerstören .. .'>6 Demgegen über sei es ein Signum der sich abzeichnenden Postmoderne, sich mit den Ambivalenzen zu arrangieren und den modernen Perfektionsidealen zu entsa gen. Baumans Ansatz rehabilitiert eine Ambivalenz, die den Traum der Ver nunft mitsamt seinen Ungeheuem bannen soll. Die Diskussionen und kritischen Einwände, die sich an diese Thesen an geschlossen haben,7 sollen hier nicht nachgezeichnet oder gewichtet werden. Problematisch erscheint weniger, daß diese Debatte immer dann Engfilhrungen aufweist, wenn ältere Befunde und Erträge einer sozial- und kulturwissen schaftlichen Ambivalenz- bzw. Ambiguitätsforschung vergessen bzw. nicht (oder kaum) zur Kenntnis genommen werden. Gravierendere Bedenken müssen dort angemeldet werden, wo Prozesse der reflexiven Modemisierung oder der gesellschaftlichen Ambivalenzproduktion bzw. -reduktion zu Leitformeln einer umfassenden oder linearistischen Entwicklung hypostasiert werden. Hier zeichnet sich die Gefahr einer spätmodernen, paradoxerweise sogar postmoder nen Version einer die Geschichtsphilosophie beerbenden "Metaerzählung" ab. Daß etwa Baumans Arbeiten 4erartige Deutungen eher unterstützen als unter minieren, darauf machen nicht nur einige der hier vorgestellten Arbeiten aufmerksam, -auch die jüngste Kritik weist auf diesen Sachverhalt hin.8 Unsere kritischen Anmerkungen sollten freilich nicht als Verabschiedung der Ambivalenzthematik mißverstanden werden. Im Gegenteil: Nicht nur die Soziologie, auch ihre Nachbarwissenschaften sind vielleicht nun "erst recht" angehalten, sich dem Facettenreichtum und der Plastizität der damit assoziier ten Sachverhalte zu stellen. In empirischer wie theoretischer Hinsicht meint der 5 Z. Bauman denkt hier an die verschiedenen Formen des Anomalien bereinigenden "social engineering", -bis hin zum Versuch einer physischen Ausrottung der Ambi valenz im Holocaust. 6 Z. Bauman 1992: 279. 7 VgL die Beiträge von W. Bonß (1993) oder U. Bielefeld (\993) im Heft 4 der Zeitschrift "Mittelweg". 8 So merkt z.B. B. Rommelspacher (1997: 260) in ihrer Besprechung von Z. Baumans "Postmoderner Ethik" zu dessen Modernitätskonzept an: "Die Modeme erscheint in Baumans Charakterisierung als monolithisch. Die Gegenseite wird nirgendwo sichtbar." Einleitung 11 Begriff der Ambivalenz zunächst ja sehr unterschiedliche Erscheinungen, Phänomene, die oftmals durch verwandte Konzepte wie Mehrdeutigkeit, Mehr wertigkeit, Unbestimmtheit, Fremdheit, Unordnung, Kontingenz usw. um schrieben werden. Sie alle markieren einen Gegenstandsbereich, der eine exak te Grenzziehung und Zuordnung von konkreten Erscheinungen nicht zuläßt, sondern jeweils die "beiden", diesseits wie jenseits der definitorischen Grenzen zu findenden Bereiche, also Bekanntes und Unbekanntes, Altes und Neues, Fremdes und Eigenes miteinander in Beziehung bringt und damit Grenz-und Passage- (Liminal-)bereiche enthält bzw. eröffuet. Das so bezeichnete For schungsfeld entgeht zumeist der definitorischen Auflnerksamkeit oder bleibt durch die Fraglosigkeiten alltagsweltlicher oder wissenschaftlicher Klassifika tionsusancen oftmals verdeckt. Insbesondere die Soziologie sucht "ambivalenzträchtige" Sachverhalte nicht selten durch Konzepte wie Mehrdeutigkeit, Kontingenz, Risiko oder auch Ambiguität9 auf den Begriff zu bringen. Vor allem beim Konzept der Ambigui tät vermißt man häufig eine erkennbare Abgrenzung der bei den Konzepte. So behandelt etwa Lothar Krappmann in seinen Überlegungen zu den Bedingun gen und Facetten der "Ambiguitätstoleranz"l0 nicht nur Studien der sozial-und persönlichkeitspsychologischen Ambiguitätsforschung, 11 sondern auch die Ambivalenzkonzepte von Robert K. Merton, E. Barber, Lewis Coser oder Erving Goffinan.12 9 So gibt es einige soziologische Fachwörterbucher, die beide Stichwörter (Ambivalenz, Ambiguität) anfilhren, z.B. K.-H. Hillmann (1994: 22f.), G. Reinhold (1991: 13) und W. Fuchs u.a. (1994: 34,427). Letztere filhren "Ambivalenz", "Ambivalenzkonflikt" "Am biguitätstoleranz" sogar als gesonderte Stichwörter an, unter "Ambiguität" findet sich ein Verweis auf das Stichwort "Mehrdeutigkeit". Hier wird der Leser dann auf For schungen von E. Frenkel-Brunswik und auf das Problem der "Intoleranz gegen Mehr deutigkeit" aufinerksam gemacht (sowie auf die Stichwörter "Rigidität" und "autoritäre Persönlichkeit"). Daneben finden sich Soziologielexika, die ausschließlich "Am bi valenz"f'ambivalence" auffiihren (z.B. G. Marshalll994: 13). Vgl. zur Abgrenzung von Ambivalenz und Ambiguität im übrigen die Arbeit von I. Bindseil 1976. 10 Vgl. L. Krappmann 1975: 150ff. Ein jüngeres Beispiel ist hier H. Geller, der Formen und Bedingungen der "Ambiguitätstoleranz" nachspürt (vgl. H. Geller 1994: 127ff.). In der Konfliktsoziologie wurde der Ambiguitätsbegriffneben dem Ambivalenzkonzept vielleicht besonders häufig verwendet; vgl. etwa J. Galtungs (1973: 149ff.) Diskussion der Ambiguität (hier: der "Zweideutigkeit") bzw. der Unzweideutigkeit der Entschei dungsmechanismen bei der Konsensfindung. II Z.B. E. Frenkel-Brunswik 1949/50, P. O'Connor 1952, J. Block und J. Block 1951, A. Davids 1955; 1956. 12 Vgl. R. Merton, E. Barber 1976, L. Coser 1972: 74ff., E. Goffinan 1981. 12 Heinz Otto Luthe/Rainer E. Wiedenmann Im Vergleich damit sind Studien sehr viel zahlreicher, in denen zwar einzelne Bezüge zu unterschiedlichen "Ambivalenz"-Facetten anklingen, die aber die inhaltlichen Implikationen und Grenzen dieses Konzepts höchstens andeutungs weise erkennen lassen. Im Bereich der Soziologie ruraler Lebensverhältnisse ist Z.B. von einer "farmer ambivalence toward agricultural research"13 die Rede, andernorts von der "Ambivalenz der Arbeiterschaft" gegenüber ihren Unter nehmenl4 oder von der Ambivalenz der politischen Öffentlichkeit gegenüber der RegierungiS usw. Andere Untersuchungen behandeln Ambivalenzen im Ralunen so umfassender Fragestellungen, wie: des Naturverhältnisses der Mo deme, der Kontingenzen gesellschaftlicher "Möglichkeitshorizonte", der gesell schaftlichen Kommunikationsstrukturen oder der Ästhetik des Posthistoire.16 Wieder andere Beiträge diskutieren die immanenten oder ideengeschichtlich aufweisbaren Ambivalenzen theoretischer Ansätze. Hier geht es darum, die "Ambivalenz der Modeme" bei Ernst Troeltsch aufzuzeigen oder auch die Ambivalenzen und Ambiguitäten in Max Webers, Max Horkheimers oder Theodor W. Adornos Sicht der Modeme auszuloten.17 Nicht zuletzt benutzen Studien über soziale Bewegungen oftmals das Ambivalenzkonzept als In strument zur Erfassung widersprüchlicher Tendenzen oder gegenläufiger Auswirkungen sozialer Bewegungen.18 Seltener sind Arbeiten, die im Rahmen themenspezifischer Fragestellungen weitergehende Differenzierungen des Ambivalenzkonzepts vornehmen.19 11 Dennoch: In den Sozial-und Kulturwissenschaften finden sich durchaus auch vergleichsweise "ausgearbeitete" Ambivalenz-bzw. Ambiguitätskonzeptionen, 13 G. Gillespie, F. Buttel 1989. 14 V. Perez-Diaz 1988. 15 V gl. am Beispiel der Gesundheitsreformprojekts der Clinton-Adminstration L. Jacobs 1993. 16 K. Eder 1992; M. Makropoulos 1990; J. Westerbarkey 1991; D. Kamper 1988. 17 H. Fischer 1984; S. Benhabib 1982: bes. 127, 137. 18 Vgl. z.B. K. Eder 1986; K.-W. Brand 1989. 19 Vgl. zur Ambivalenz des Sicherheitsstrebens Z.B. F.-X. Kaufmanns (1970: 28ff.) Dar stellung des Verhältnisses von "innerer" und "äußerer" Sicherheit.