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Allgemeine Anatomie der Schildkröten (Chelonia) PDF

12 Pages·2000·1.3 MB·German
by  LemellP
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© Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Allgemeine Anatomie der Schildkröten (Chelonia) P. LEMELL Abstract Keywords Chelonids are unique within the phy- Reptilia, Chelonia, turtles anatomy. lum of vertebrates with respect to their anatomy and morphology. This paper gives an overview of the general anatomy with special remarks concerning the situation of the European pond turtle Emys orbicu- laris (LINNAEUS, 1758). The most charac- teristic anatomical features of the box, of all skeletal elements, of the major muscu- lature, respiration, digestive tract, exre- tory, genital, circulatory as well as nervous system are discussed. Stapfia 69, zugleich Kataloge des OÖ. Landesmuseums, Neue Folge Nr. 149 (2000), 1-12 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Einleitung Der massive Panzer der Schildkröten erwies sich in der weiteren Evolution der Tie- Anatomie und Morphologie von Schild- re sehr bald als hinderlich, was zu zahlreichen kröten sind einmalig innerhalb des Stammes Modifikationen führte. Die primäre Funktion der Wirbeltiere. Das ermöglicht es auch jeder- des Panzers besteht im Schutz des Körpers, mann, diese Tiere auf den ersten Blick richtig und die relative Unverletzbarkeit von adulten zuordnen zu können. Der folgende Text fasst Schildkröten mag ein wichtiger Grund für ihr die wichtigsten anatomischen Merkmale von Überleben in den unterschiedlichsten Lebens- Schildkröten (Chelonia) zusammen. Grundla- räumen sein. Mit der Panzerung ist eine deut- Abb. 1: Carapax (li) und Cervicale Plastron (re) der Europäischen Sumpfschildkröte Nuchale Epiplastron Emys orbicularis. Dünne Linien ent- sprechen den Grenzen der Kno- chenplatten (kursiv), dicke Lini- en den Grenzen Abdominale der Hornschilde (fett). Zeichnungen aus Fernande BOJANUS (1819). Xiphoplastron Anale ge dafür lieferten Bücher, die zum Teil in kei- liehe Gewichtszunahme sowie eine einge- ner Bibliothek eines Schildkrötenliebhabers schränkte Beweglichkeit, verglichen mit fehlen sollten (MtYNARSKl 1976, OBST 1985, anderen Reptilien ähnlicher Größe, verbun- PRITCHARD 1979, ROMER 1956). Die Abbil- den. dungen entstammen dem einzigartigen Werk Der Panzer ist aus Knochenelementen auf- „Anatome Testudmis Europaeae" von BOJA- gebaut, hauptsächlich Hautverknöcherungen, NUS (1819). Kein anderer Autor hat seitdem die mit dem dorsalen Teil der Brust- und die gesamte Anatomie einer Schildkrötenart Beckenwirbel, mit den Rippen, und mit eini- derart detailliert beschrieben und illustriert. gen Elementen des Schultergürtels verbunden sind. Bei den meisten Schildkröten ist dieser Panzer Knochenpanzer mit Hornschilden bedeckt. Anhand embryologischer Studien (KALIN Das charakteristischste Merkmal, das die 1945, ZANGERL 1939, 1969) lässt sich nach- Ordnung der Schildkröten (Chelonia) aus- weisen, dass fast der gesamte Panzer aus dem zeichnet, ist der Panzer, dessen Grad der Hautepithel abzuleiten ist, wobei die Epithel- Involvierung und Modifikation von so wichti- platten dann in charakteristischer Weise mit gen Skelettelementen wie Rippen, Wirbeln, den Knochenelementen des Innenskelettes als auch dem Schultergürtel einzigartig inner- verbunden werden. halb der Wirbeltiere ist. Über die Ursachen, die zur Ausbildung des Panzers geführt haben, Der Panzer besteht aus einem konvexen gibt es verschiedene H>pothesen. Die verbrei- dorsalen Anteil, dem Carapax, und einem fla- tetste Ansicht bringt die Entwicklung der chen ventralen Teil, dem Plastron; beide sind Panzerung mit der grabenden Lebensweise der miteinander über die sogenannte Brücke ver- Urschildkröten in Zusammenhang. bunden (Abb. 1). © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Ein Panzer nach diesem Grundtypus bietet durchbluteten Knochenpanzers. Bei jungen schon einen ausreichenden Schutz, dennoch Schildkröten bestehen noch keine Verbin- haben einige Vertreter zusätzliche Verschluss- dungen zwischen den einzelnen Knochenplat- mechanismen eingebaut, um einen noch ten; sobald diese sich treffen, bilden sich Sutu- größeren Schutz zu erreichen. Dabei wurde das ren (Nähte) aus, an denen das Wachstum fort- Plastron in zwei Teile gespalten - einen Vor- gesetzt wird. In sehr alten Individuen können derlappen und einen Hinterlappen - um als diese Nähte verknöchern und damit ein wei- maximale Möglichkeit einen völligen Ver- teres Wachstum verhindern. Die Hornschilde schluss zu ermöglichen. Durch diese Verbesse- wachsen durch graduelle Ablagerung von neu- rung der Schutzfunktion des Panzers waren em Hornmaterial über die gesamte Unterseite einige Umbauten nötig. Zwischen den beiden der Platten; dieses Material wird von einer Lappen wurde eine elastisch bindegewebig- Schicht von Malpighischen oder Horn sezer- knorpelige Substanz eingelagert, um eine nierenden Zellen an der Oberfläche des Kno- Scharnierwirkung erzielen zu können. Weiters chenpanzers abgegeben. Bei manchen Schild- musste ein Mechanismus zum Verschieben des kröten, vor allem jenen in Regionen mit kal- Schultergürtels geschaffen werden, um die ten Wintermonaten, gibt es Wachstumszy- Vordergliedmaßen hinter den einklappbaren klen, die sich in Wachstumsringen an den Vorderlappen zu bringen. Natürlich musste Hornschilden niederschlagen; somit kann vor auch im Inneren Platz für die Extremitäten allem bei jungen Individuen, wo die Ringe sowie den gesamten Kopf frei gemacht wer- noch deutlich sichtbar sind, das Alter den. Ein weiterer Punkt ist die Ausbildung bestimmt werden. Bei vielen aquatischen starker Muskelzüge, welche die Lappen ver- Schildkröten lösen sich Teile oder sogar ganze schließen sollen (für den vorderen Plastron- Hornschilde einfach ab. Es gibt einerseits die lappen: Musculus (M.) pectoralis major; für Möglichkeit einer Abschuppung wie bei der den hinteren Lappen: M. obliquus abdominis Rotwangen-Schmuckschildkröte Trachemys und M. transversus abdominis). Es gibt ver- scripta, wobei sich von der mehrlagigen Horn- schiedene Möglichkeiten der Ausbildung der schicht die oberste ablöst, oder sogar als extre- Plastronlappen: ein beweglicher Vorderlappen mes Beispiel die Möglichkeit der Obliteration mit einem starren Hinterlappen (z. B.: Pelusios wie bei der Tabasco-Schildkröte Dermatemys [Klappbrust-Pelomedusenschildkröten]); be- („Tortuga blanca" - die weiße Schildkröte) wegliche Vorder- und Hinterlappen (z. B.: Ter- oder anderen großen Sumpfschildkröten, wo rapene [Dosenschildkröten], Cuora [Scharnier- die Hornschicht so dünn ist, dass man den schildkröten]); bewegliche Vorder- und Hin- darunter liegenden Knochenpanzer sehen terlappen mit dazwischenliegendem starren kann. Mittelteil (z. B.: Kinostemon [Klappschildkrö- ten]). Einige Spezialisten besitzen sogar ein Gelenk im Carapax (z. B.: Kinixys [Gelenk- Skelettelemente schildkröten]). Schädel (Abb. 2) Auch Emys orbicularis weist bewegliche Plastronlappen auf, obschon der Panzer nicht Die Morphologie des Schildkrötenschä- komplett abgedichtet werden kann. Das Pla- dels wurde mehrmals gründlich bearbeitet, stron-Gelenk liegt zwischen Pektoralia und eine eingehende Besprechung der Schädelele- Abdominalia der Hornschilde; bzw. zwischen mente sowie der Morphologie hat SUKHANOV Hyo- und Hypoplastron des Knochenpanzers. (1964) gegeben, die derzeit gültige Nomenkla- Beide Lappen sind beweglich, der Hinterlap- tur der Schädelknochen basiert auf den Vor- pen wird jedoch über einen speziellen Mecha- schlägen von GAFFNEY (1972). nismus über die ligamentöse Brücke geschlos- Der Schädel der Schildkröten ist in typi- sen (zur Plastronkinese siehe BRAMBLE 1974). scher Ausprägung eher breit und flach gebaut, Das Größenwachstum eines Schildkröten- und hinter den Augenhöhlen stark erweitert. panzers erfolgt durch Angliederung von neu- Er ist akinetisch, hat also keine beweglichen em Knochenmaterial an den Rändern des gut Knochenelemente. Das primäre Gaumendach © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at bestehend aus Vomer, Pterygoid, und Anteilen „Fenster" werden vollständig von der mächti- des Sphenoids ist zuweilen sekundär durch ge Kaumuskulatur (externer Adductor Mandt- Maxillare und Palatinum überdeckt. Das Qua- bulae) eingenommen. Zähne sind nur von den dratum ist mit der Ohrkapsel fest verbunden ältesten bekannten Schildkröten (Triassoche- und erfährt eine große laterale Erweiterung. lys dux JAECKEL, 1918 bzw. Proganochehs dux Das Schädeldach ist ohne jede Fensterbil- [siehe GAFFNEY, 1990]) bekannt, bei allen dung. Chelonia zählen offiziell immer noch zu rezenten Formen sind diese funktioneil durch den Anapsida („Fensterlose"), obwohl in jün- Hornscheiden ersetzt, die je nach Ernährungs- gerer Zeit DNA-Untersuchungen (siehe RlEP- weise sehr unterschiedlich ausgebildet sein Abb. 2: Emys orbicularis: a) Schädel von lateral, Prfr Fr Par Socc b) Schädel von dorsal, c) Schädel von ventral, d) Hyoidapparat. Abkürzungen der wichtigsten Schädel- Tymp und Hyoidelemente: Bs - Basisphenoid, Cbl - Cornu branchiale I, Cbll - Cornu branchiale II, Max Ch - Corpus hyoideus, Chy - Cornu hyale, Fr - Frontale, Jb - Jochbogen (aus Jugale, Postorbi- 0 7 tale, und Quadratojugale), Max - Maxillare, Pal - Palatinum, Par - Parietale, Po - Postorbitale, Prli - Processus lingualis, Pt - Pterygoid, Q - Quadratum, Socc - Supraoccipitale, Bs Tymp - Tympanum, V - Vomer. Zeichnungen aus BOJANUS (1819). PEL 1999) eine Zugehörigkeit zu den Diapsida können. Bei der Fransenschildkröte Chelus (Wirbeltiere mit zwei Fenstern) herstellen fimbriatus SCHNEIDER, 1783 ist er sehr dünn wollen. Allerdings kommt es generell :u Ein- und zart - sie saugt die Beute durch ein sehr buchtungen in der Temporalregion (Redukti- rasches „Saugschnappen" ein, und benötigt onstypen siehe KlLlAS 1957). Diese die Kiefer nur, um die Beute nicht wieder zu © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at verlieren. Viele aquatische Räuber wie :. B. :. B. Sumpfschildkröten muß man sich eine die Schnappschildkröte Chelydra serpentina intermediäre Form hinsichtlich der Ausbil- LINNAEUS, 1758 oder Vertreter der Kinoster- dung von Hyoid (Verknöcherung und Flexibi- nidae (Schlammschildkröten) haben harte, lität) und Zunge (Größe und Oberflächen- scherenartige Kiefer ausgebildet. Kiefer mit struktur) vorstellen. Das Hypoglossum liegt Kauleisten gibt es bei vielen terrestrischen zwischen den Unterkiefern und ist bei fast Vegetariern wie den Testudinidae (Land- allen Vertretern eine knorpelige Scheibe. Die schildkröten). Ausnahmen davon sind Chelus fimbriatus. Hydromedusa, Platemys radiolata MlKAN, 1820 Erwähnenswert in der Schädelregion sind (siehe SlEBENROCK 1898), wo es mit zwei weiters die viszeralen Skelettelemente des sichelförmigen Skelettelementen versehen ist. Hyoidapparates (Abb. 2d) sowie eine nur bei Schildkröten vorkommende Platte zur Unter- Wirbelsäule (s. Abb. 3) stützung des Mundbodens, das Hypoglossum. Das Hyoid (Zungenbein) besteht aus einem Schildkrötenwirbel sind sehr charakteri- Körper (Corpus hyoidei), mit einem in die stisch und taxonomisch von großer Bedeu- Zunge ziehenden Fortsatz (Processus lingualis) tung. Man unterscheidet Halswirbel, Brustwir- sowie drei Paar Hörnern (Cornu hyale, das oft bel, Beckenwirbel, und Schwanzwirbel. Für reduziert ist, Cornu branchiale I, und Cornu die Taxonomie sind vor allem die Halswirbel branchiale II). Es wird bei der Nahrungsauf- von Wichtigkeit, da ihre Gelenktypen sogar nahme sowie bei der Atmung benötigt und ist innerhalb derselben Art stark variieren kön- je nach Lebensweise unterschiedlich ausgebil- nen. Bei den ältesten Schildkröten (Progano- det. Bei rein aquatisch lebenden Vertretern ist der in der ontogenetischen Entwicklung rasch ver- Schädel Halswirbel Dorsal wirbel knöchernde Zungenbeinap- parat massiv gebaut und bil- det eine starre Einheit. Bei terrestrisch lebenden Schildkröten ist der Hyoid- apparat (vor allem die Hör- Schwanzwiibel ner) eher klein, knorpelig, und sehr elastisch bzw. beweglich, um die massige Zunge bei der Nahrungsauf- nahme zu unterstützen. Die Zunge der aquatisch leben- den Tiere ist dagegen stark reduziert, um beim Beute- fang nicht allzu stark zu behindern. Eine große chelidae) waren noch sieben Hals- und elf Abb. 3: Skelett von Emys orbicularis. Zunge würde einem guten Saugschnappme- Brustwirbel präsent, bei den rezenten Formen Zeichnung aus BOJANUS (1819). chanismus, wie er bei einigen aquatischen und deren unmittelbaren Vorfahren ist die Spezialisten ausgebildet ist, hinderlich sein: Anzahl auf acht Hals- und zehn Brustwirbel Einerseits nähme sie zu viel Platz in der Mund- fixiert, was die Chelonia zur einzigen Wirbel- höhle ein, der für eine Volumsvergrößerung, tiergruppe mit konstanter Halswirbelzahl die zur Erzeugung von Unterdruck nötig ist, macht. gebraucht wird. Andererseits könnte eine zu Der Hals ist lang und flexibel, um die große Zunge störende Turbulenzen beim Ein- Starrheit des Körpers kompensieren zu kön- saugen erzeugen. Beides würde den benötigten nen. Zwei Möglichkeiten d^s Zurückziehens Kraft- und Energieaufwand unnötig erhöhen des Kopfes bzw. Halses sind ausgebildet, was (BRAMBLE 6k WAKE 1985). Bei semiaquati- ein Kriterium für die Einteilung in zwei Unter- schen bzw. semiterrestrischen Vertretern, wie ordnungen war. Die Halsberger bzw. Cryptodi- © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at ra ziehen ihren Kopf in sagittaler Richtung, Tibia und Fibula) zusammen. Die Arme zeich- Halswender bzw. Pleurodira in horizontaler nen sich durch ein nach vorne gedrehtes Ell- Richtung zurück. bogengelenk aus, weil bei normaler Lage der Panzer im Weg wäre. Auch das Kniegelenk ist Die zehn Stammwirbel sind bis auf den etwas seitlich gestellt. Oberarm und -Schenkel ersten, der für die Eingelenkung der Halswir- sind mehr oder weniger horizontal ausgerich- belsäule verantwortlich ist, in den Knochen- tet, sehr kurz aber massiv gebaut, mit sehr panzer integriert. kräftiger Muskulatur versehen, um das relativ Bei den Cryptodiren folgen zwei Becken- hohe Körpergewicht mit möglichst wenig wirbel, die über Sakralrippen mit dem Energieaufwand tragen zu können. Beckengürtel verbunden sind. Bei Pleurodiren Die Fußstruktur ist so variabel, dass sie im ist der Beckengürtel starr mit Carapax und frühen 19. Jahrhundert als prinzipielle Basis Plastron verbunden, und es fällt schwer, eine zur Klassifizierung verwendet wurde, was Unterscheidung zwischen Stamm-, Sakral- wegen ihrer Adaptivität allerdings weniger gut und Schwanzwirbeln zu treffen. geeignet ist. Die meisten Schildkröten haben Die Anzahl der Schwanzwirbel ist varia- fünfstrahlige Extremitäten, fünf klauentragen- bel, und liegt normalerweise zwischen 25 und de Finger am Vorderbein, vier klauentragende 30. Zehen sowie eine reduzierte, klauenlose Zehe am Hinterbein. Von diesem Grundmuster gibt Rippen es etliche Abweichungen: Die Vierzehen- Landschildkröte (Russische Steppenschild- Bei allen modernen Schildkröten treten kröte), Testudo (Agrionemys) horsfieldi GRAY, acht gut entwickelte Rippenpaare auf, die 1844, hat nur vier Krallen, ebenso die batagur- zusammen mit den dermalen Knochenplatten Flussschildkröte Batagur baska (GRAY, 1831). den Carapax bilden. Die Weichschildkröten weisen Ruderbeine mit gut ausgebildeten Schwimmhäuten und Extremitätengürtel (s. Abb. 3) nur drei Krallen auf, weshalb sie den Namen Der Schultergürtel ist innerhalb des Rip- Dreiklauer (Trionychidae) erhalten haben. Die penbereiches aufgehängt, was eine einzigartige Meeresschildkröten haben paddelartige Vor- Situation bei den Wirbeltieren darstellt. Die derextremitäten (Flipper) mit stark reduzier- Hauptfunktion besteht darin, einen starken ten Krallen. Halt des Oberarmkopfes gewährleisten zu kön- nen. Aus diesem Grund sind die Elemente des Muskelsystem (Abb. 4) Gürtels einerseits nach oben gegen den Cara- pax (Scapula) und nach mesial (Acromion Die Muskulatur der Schildkröten stellt in scapulae, Coracoid), gegen die Mittellinie vielen Fällen eine radikale Abwandlung der abgestützt. typischen Vertebraten-Situation dar. Die Bewegungen der Extremitäten sind komplex Das Becken, das aus Pubis, Ischium und und werden von einer großen Anzahl von Ilium besteht, ist massiv gebaut. Aufgrund der Muskeln kontrolliert. Diese können in solche unterschiedlichen Morphologie spielt es taxo- der Kopf- und Halsregion, von Schultergürtel nomisch gesehen eine wichtige Rolle. und Vorderbeinen, Beckengürtel, Hinterbei- nen und Schwanzregion unterteilt werden. Extremitäten (s. Abb. 3) Namen, sowie Position und Funktion dieser Der Panzer beeinträchtigt die Beweglich- Muskeln sind von ASHLEY (1962) zusammen- keit der Extremitäten stark. Aus diesem gefasst worden. Im Kopfbereich sind Kiefer- Grund sind die Extremitäten der Schildkröten muskulatur bei allen Arten, Hyoidmuskulatur im Vergleich zu den anderen Wirbeltieren besonders bei aquatischen Arten stark ausge- unterschiedlich gebaut. Die Gliederung der bildet. Diese sind sehr anschaulich in Form Extremitäten ist hingegen typisch für Tetrapo- und Funktion von FÜRBRINGER (1922), GRÄ- den und setzt sich aus einem proximalen PER (1932), POGLAYEN-NEUWALL (1953), (Humerus, Femur) und zwei parallelen, mehr SCHUMACHER (1953/54, 1973) und SIEBEN- distal gelegenen Anteilen (Radius und Ulna, ROCK (1898) beschrieben worden. © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Atmung (Abb. 5) heißt, dass sich nur äußerst wenig CO in ihrer 2 Lunge befindet, wenn sich eine Schildkröte Die Atmung stellt aufgrund der Panierung rasch in den Panzer zurückziehen muss. Auf- fur Schildkröten ein Problem dar, da die Lun- gen die eimigen kompressiven bzw. expansi- fallend ist, dass das Fleisch von Schildkröten ven Organe in einem starren Panzer sind, und oft sehr rot gefärbt ist. Dies beruht auf dem nicht, wie üblich für Vertebraten, mit Hilfe hohen Myoglobingehalt der Muskulatur, was der Brustkorbbewegungen ventiliert werden bedeutet, dass Schildkröten große Sauerstoff- können. Anstelle eines Zwerchfelles sind die mengen nicht nur im Haemoglobin sondern Lungen durch eine bindegewebige Haut, das auch im Myoglobin speichern können. Abb. 4: Muskelsystem M. intermandibularis von Emys orbicu- laris. Zeichnun- gen aus BOJANUS M. constrictor colli - (1819). - Musk. des Schultergflitels M. pectoralis major M. transversus abdominis Musk. des Heckengürtels Diaphragma, von den anderen inneren Orga- nen getrennt. Die Lungen können einerseits M. diaphragmaticus M. transversus abdominis Lunge aktiv (Muskulatur; Heben und Senken des Hyoidapparates) andererseits passiv (Bewe- gungen der Extremitäten in und aus den Pan- zer) mit Sauerstoff versorgt werden. Die aktive Respiration wird einerseits durch M. obliquus abdominis und M. testocoracoidalis (Einat- men), andererseits durch M. transversus abdo- minis und M. diaphragmaticus (Ausatmen) gewährleistet. Schildkröten sind im Gegensatz zu den meisten anderen Wirbeltieren in der Lage, hohe CO2 - Konzentrationen zu tolerieren. Verdauungstrakt (Abb. 6) Abb. 5: Auch andere Modifikationen sind bei Schild- Emys orbicularis. Für die aktive kröten eingerichtet, um das Leben in Bezug Das Verdauungssystem entspricht mehr Respiration verwendete Muskulatur. auf die begrenzten respiratorischen Fähigkei- oder weniger dem typischen Wirbeltiersche- Zeichnung aus BOJANUS (1819). ten zu erleichtern. Einerseits können sie ihre ma. Der Ösophagus (Speiseröhre) ist jedoch je Lungen wesentlich mehr als andere Wirbeltie- nach Lebens- und Ernährungsweise unter- re mit Luft füllen bzw. wieder entleeren. Das schiedlich ausgebildet. Bei marinen Arten © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at und einigen Pleurodiren kann er mit dornarti- man funktionell in drei Teile gliedern: Copro- gen Fortsätzen versehen sein. Allgemein weist daeum (Einmündung von Darmtrakt), Uroda- der vordere Abschnitt bei aquatischen Vertre- eum (Einmündung von Urogenitalsystem), tern wenig, bei terrestrischen zahlreiche Fur- und Proctodaeum (Ausstülpung von Analbla- chen auf (muskulös, :um Weiterdrücken der sen). Die Analblasen dienen als Wasserspei- Nahrung mittels peristaltischer Welle), der cher, der einerseits bei der Eiablage benötigt hintere Bereich ist bei allen ähnlich gebaut. wird, andererseits aber auch in der passiven Feindabwehr Verwendung findet. So können Bei aquatischen Schildkröten wird der ausgestoßene Enddarmrückstände und Stink- vordere Abschnitt der Speiseröhre als Aufbe- Abb. 6: Eingeweidesitus von Emys orbicula- ris aus ventraler Sicht. a) Weibchen, b) Männchen (Leber, Herz und Großteil des Darm- traktes entfernt). Magen Zeichnungen aus BOJANUS(1819). — Kloake wahrungsraum für das eingesaugte Wasser drüsensekrete zu erheblichen Geruchsbelästi- benötigt, das heißt er muss elastisch sein und gungen führen. eher glatt, um möglichst wenig Reibung zu erzeugen. Die Beute wird bis an den Beginn Exkretionssystem des hinteren Bereiches gesaugt, und dann von dort mittels peristaltischer Wellen wie bei den Der Urin gelangt von den Nieren über den terrestrisch lebenden Schildkröten in den Ureter in die dünnwandige zweilappige Harn- Magen weiterbefördert. Außerdem wird bei blase und wird von dort in die Kloake entleert. vielen Schildkröten (aquatisch wie terre- Die chemisch-physikalische Zusammenset- strisch) der vordere Abschnitt als eine Art zung des Urins korreliert mit der Abhängig- Kropf verwendet. Dort werden kleinere Nah- keit des Tieres vom Wasser. Marine Schildkrö- rungsbrocken gespeichert, bis es sich „aus- ten geben z. B. eine große Menge an Ammo- zahlt", sie in den Magen zu transportieren; ob niak ab, was allerdings auf Grund der Toxizität in diesem Kropf schon eine Vorverdauung sehr große Wassermengen für die Passage stattfindet, ist bislang nicht bekannt. erfordert. Viele semiaquatische Tiere, wie auch viele Säuger, geben Harnstoff ab, was weniger Der Magen selbst ist dick und gebogen, Wasser erfordert. Rein terrestrische Arten und ist an seiner konkaven Seite mit der sehr (Testudinidae) - vor allem solche, die sich an großen Leber verbunden. Der Verlauf des sehr trockene Gebiete angepasst haben und Dünndarms ist ohne Besonderheiten, der rela- für die zu hoher Wasserverlust tödlich sein tiv kurze Dickdarm mündet in die Kloake und kann, geben Harnsäure ab. Diese Tiere benut- schließlich in den Anus. Die Kloake kann zen die Harnblase vielfach als Wasserdepot. © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Genitalsystem Vermischung von sauerstoffarmem und -rei- chem Blut verhindert. Von der rechten Seite Bei beiden Geschlechtern sind die Gona- wird das Blut weiter in die Lungenarterie den paarig ausgebildet. Die weiblichen Keim- gepumpt, in den Lungen mit Sauerstoff ange- drüsen (Ovarien) können im reifen Zustand reichert, und über die Lungenvenen gelangt es eine beträchtliche Größe erreichen und einen zurück ins linke Atrium. Vom linken Atrium Großteil der viszeralen Masse im Panzer ein- gelangt das sauerstoffreiche Blut in den linken nehmen. Weibchen haben aus diesem Grund Ventrikel und von dort in weitere große Arte- auch einen höher gewölbten Carapax als rien (2 Aortenbögen in den Körper und Arte- Männchen. Die männlichen Gonaden sind rie, die Kopf- und Armregion versorgt). eher klein und rundlich. Eileiter sowie Harnsamenleiter münden in die Kloake. Eine Klitoris kann bei einigen Vertretern in der ventralen Kloakalwand vor- handen sein, sie ist von ähnli- cher Struktur wie der Penis. Dieser ist in entspanntem Zustand völlig in die Kloake zurückgezogen, und wird nur bei sexueller Erregung ausgestülpt. Die Erektion wird durch ein Ventrikel Anschwellen zweier Körper Atrium A. subclavia A pulmonalis (Corpus spongiosum, Corpus fibrosum) bewerkstelligt. Alle Schildkröten sind eier- legend. Die Eier variieren sehr stark in Anzahl (1 bis >200), Größe (2 bis max. 8cm Durch- messer), Form (sphärisch bis länglich), und Härte (flexibel und ledrig oder spröde und reichlich verkalkt). Das Blut aus allen Körperregionen wird in Abb. 7: den zwei großen vorderen Venen (Venae Arterieller Kreislauf von Emys orbicular is. Die Eier von Emys arbicularis sind zwi- cavae anteriores) und in einer hinteren Vene Zeichnungen aus BOJANUS (1819). schen 2 und 3 cm lang. Durchschnittlich wer- (Vena cava posterior) gesammelt und in den den etwa zehn Eier pro Gelege abgegeben. Die Sinus venosus abgegeben. Die prominentesten Venen im hinteren Körperbereich sind die Neststelle wird vor dem Graben mit Wasser zwei Venae abdominales, die das Blut aus den aus den Analblasen aufgeweicht. Die Hinterbeinen und dem Beckenbereich auf- Nesthöhle wird mit dem Schwanz vorgebohrt, nehmen und in die Leber transportieren. An bevor die Hinterbeine in Aktion treten und ihrem Hinterende sind die Abdominalvenen eine birnenförmige Grube graben. über eine weitere Vene mit der Nierenpfort- ader (Vena portae renalis) verbunden. Blut Kreislaufsystem (Abb. 7) aus der Darmregion wird über die Leberpforta- der (Vena portae hepatis) in die Leber geführt. Das Hen der Schildkröten ist wie bei allen Von dort gelangt es entweder über die hintere anderen Reptilien dreikammrig, da der Ventri- Hohlvene oder direkt über die Lebervene kel noch nicht vollständig geteilt ist. Der (Vena hepatica) in den Sinus venosus. Herzschlag wird vom Sinus venosus erzeugt, der das sauerstoffarme Blut ins rechte Atrium Erwähnenswert beim Kreislaufsystem ist, pumpt, von dort in die rechte Seite des Ven- dass es sogar innerhalb einer Art zu sehr trikel, wobei eine teilweise schwammige Tei- großen Unterschieden in der Ausbildung der lung (Septum interventriculare) die völlige großen Arterien kommen kann. © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Nervensystem (Abb. 8) den werden: Telencephalon (Vorderhirn - Riechhirn/unser Großhirn; paarig), Dience- Das Nervensystem der Schildkröten phalon (Zwischenhim mit dorsaler Ausstül- weicht nicht stark vom üblichen Wirbeltier- pung = Epiphyse [bekannt als Parietalauge der schema ab. Das von einer weichen (Pia mater) Abb. 8: Brückenechse und einiger Lacertilia; bei Gehirn von Emys orbicularis. und harten (Dura mater) membranösen Schildkröten ist diese Funktion nur bei Der- a) Lage in der Hirnhöhle, Schicht umgebene Gehirn ist in der stark ent- mochelys, die ein kleines Loch in der Schädel- b) von dorsal und ventral, c) von lateral. wickelten Hirnhöhle gut geschützt. Von vorne decke ausgebildet hat, möglich] und ventralen Zeichnungen aus BOJANUS (1819). nach hinten können tünt Anteile unterschie- Ausstülpungen [2. B.: Hypophyse = Hormon- drüse]), Mesencephalon (Mittel- hirn mit paarigem Tectum opti- cum,), Metencephalon (Cerebel- Tectum opticum lum bzw. Kleinhirn, wichtig für Telencephalon I Cerebellum Bewegungskoordination), und My- a elencephalon (Nachhirn mit Medulla oblongata, dem verlänger- ten Rückenmark). Die am besten ausgebildeten und somit auch Hypophyse Myelencephalon größten Hirnabschnitte bei Schild- kröten sind das Telencephalon für Jen Geruchsinn und das Mesence- phalon für den Sehsinn. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Schildkröten mit ihrer Anatomie und Morphologie einzigartig innerhalb der Wirbel- tiere sind. Zusammen mit der Brückenechse und den Krokodilen Sehnerv- :ählen die seit dem Trias bekann- kreuzung ten Schildkröten zu den ältesten noch lebenden Reptilien. Trot: ihrer eher beschränkenden Anato- mie war es ihnen möglich, alle Lebensraume außer der Luft zu besetzen, was sie von den beiden anderen alten Reptilienordnungen von dorsal von ventral mit Gefäßversorgung deutlich unterscheidet. Danksagung Während der Arbeit an diesem Manuskript wurde ich vom Öster- reichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF Projekt Nr. P-12991-BIO) unterstützt. Außerdem möchte ich abgehende Hirnnerven (V-X) mit Gefäßversorgung s^anz herzlich Herrn R. GEMEL vom Naturhistorischen Museum Wien für seine Unterstützung danken. 10

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