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Alles kam ganz anders PDF

141 Pages·2011·1.86 MB·German
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Berte Bratt Alles kam ganz anders Elaine ist fest entschlossen – sie muß ihrer Freundin Simone und deren kleiner Tochter Titine helfen. Aber sie will sich auich um ihre geliebten Tiere kümmern und darf ihr großes Ziel nicht vergessen: Tierärztin zu werden. Vor allem aber ist da Ingo, den Elaine liebt und den sie heiraten will. Doch plötzlich kommt alles ganz anders“. 1983 by Franz Schneider Verlag GmbH & Co. KG München – Wien – Hollywood/Florida USA Titelfoto Susanne Schapowalow Illustration Nikolaus Moras ISBN 3 505 08.823 4 Bestellnummer 8823 Alle Rechte der weiteren Verwertung liegen beim Verlag, der sie gern vermittelt Bei uns zu Hause Mein Name ist Elaine Grather. Meinen französischen Vornamen habe ich meiner Urgroßmutter zu verdanken. Sie ist nämlich gebürtige Französin und in der ganzen Familie so beliebt – um nicht zu sagen geliebt – daß es für meine Eltern eine Selbstverständlichkeit war, mir ihren Namen zu geben. Als ich sechzehn Jahre alt war, erbte ich ein Haus. Ja, ein ganzes Haus, ein entzückendes Haus in der Lüneburger Heide. Da sind wir eingezogen, meine Eltern, mein Bruder Marcus, mein Hund Bisken und unser Kater Anton. Papa, der Filmfotograf ist, gelang es, sich so einzurichten, daß er jedenfalls für ein Jahr in Norddeutschland bleiben konnte – natürlich öfters unterbrochen von Reisen in die seltsamsten Ecken der Welt. Plötzlich kommt er nach Hause und erzählt, daß er nächste Woche die Affen auf Gibraltar filmen soll, ein andermal muß Mama mitten im Sommer seine dicksten Wintersachen rausholen, weil er auf Grönland den Auftrag hat. Eskimos aufzunehmen. Aber zwischendurch kommt er nach Hause, redigiert seine Filme, kümmert sich um Haus und Garten und macht kürzere Filmfahrten an die Nordseeküste, um Seehunde aufzunehmen, oder zur Kieler Woche. Vor allem macht er Natur- und Tierfilme. Ab und zu darf ich mitfahren als Scriptgirl, wenn ich zufällig Schulferien habe. Als ich sechzehneinhalb war, habe ich mich verlobt. Ich war also „noch ein Kind“, wie meine Eltern und mein Herzallerliebster unbarmherzig betonten. Also, wenn ich verlobt sage, bedeutet es nicht eine offizielle Verlobung mit Zeitungsanzeige, Ringen, Verlobungsfeier und so was. Es bedeutet nur, daß mein Ingo und ich uns lieben und fest entschlossen sind zu heiraten, so bald es praktisch möglich ist. Das heißt, wenn ich mit meiner Ausbildung fertig bin, und wenn mein Ingo eine feste Anstellung und am liebsten auch ein hübsches Doktortitelchen bekommen hat. Er ist Archäologe und weiß so unheimlich viel, daß ich mir ganz klein und dumm vorkomme. Trotzdem liebt er mich, verstehe es, wer kann! Ingo wohnt in Lübeck. Dort habe ich ihn und seine Mutter mehrmals besucht. Ja, und seinen Hund natürlich! Dem haben wir zu verdanken, daß wir uns überhaupt kennenlernten. Ein kleiner Hund und eine große Liebe rutschten gleichzeitig in mein Leben und machten mich zu einem unsagbar glücklichen Menschen! Ich habe auch selbst einen Hund. Er ist der Sohn von Ingos Cora, ein seltsam aussehendes Resultat von Coras ganz illegaler Liebe zum Nachbarhund! Er heißt Bisken, das ist ein norwegischer Hunde- Kosename und bedeutet soviel wie „Hündchen“ oder „kleiner Wauwau“. Meine Eltern sind nämlich Norweger. Ja, eigentlich sind Marcus und ich es auch, aber wir sind beide in Deutschland geboren und haben immer hier gewohnt, mit dem Resultat, daß Deutsch unsere Sprache geworden ist. Norwegisch spreche ich mangelhaft, aber dafür kann ich gut Französisch, weil wir sehr oft in der Französischen Schweiz waren, im Wallis, wo wir liebe Verwandte haben. Vor allem meine schon erwähnte, einmalige Urgroßmutter. Ich habe drei Hobbys: Tiere, Reiten und Töpfern. Im Garten haben wir ein kleines Extrahäuschen, das eigentlich während des Krieges als Behelfsheim errichtet wurde. Papa hat es eigenhändig angebaut und renoviert, dort hat er jetzt einen Arbeitsraum mit Schneidetisch. Vorführapparat und was ein Filmfotograf sonst braucht. Und ich habe eine kleine Töpferwerkstatt, in der ich Weihnachtsgeschenke und Geburtstagsgeschenke eigenhändig herstelle. Im Nachbardorf gibt es einen Reitstall. Ich habe mich mit dem Sohn des Besitzers angefreundet, und wenn nicht gerade Touristensaison ist, darf ich oft ganz billig reiten – ja, sogar ab und zu ganz umsonst, wenn die Pferde bewegt werden müssen. Dafür helfe ich beim Füttern und Striegeln, beides macht mir einen Heidenspaß. Wenn Not am Mann ist, kann ich auch beim Ausmisten helfen! Ich liebe Pferde. Am allerschönsten ist es, allein auszureiten – nur das Pferd und ich, ganz allein! Dann fühle ich, wie wir uns verstehen, wir sind eine Einheit, wir sind einander gut. Früher, als wir in Frankfurt wohnten, nahm ich Reitunterricht, viele Schüler und Schülerinnen ritten in der großen Reitbahn. Nie war ich allein mit meinem Pferd. Hier auf dem Lande war es anders – und viel, viel schöner! Und somit wären wir also bei meinem dritten und größten Hobby: den Tieren. Die Tierliebe habe ich von Papa geerbt. Unser herrlicher Bernhardiner Barry, der vor einem Jahr starb – wie viele Tränen hat sein Tod gekostet! – war mein erster Babysitter, mein Kindermädchen, mein Reit- und Zugtier. Als Barry gestorben war, hat uns das Schicksal Ingos Cora über den Weg geschickt, und später bekam ich dann Bisken, Coras urkomisches Söhnchen. Und dann haben wir, wie gesagt, unseren alten Kater Anton. Er ist dreizehn Jahre alt, was für einen Kater beinahe ein biblisches Alter ist. Aber er ist noch in guter Verfassung und kennt seine Pflichten. Die einzigen Tiere, die sich bei uns nicht wohl fühlen, sind Mäuse, denn die werden von Anton fachmännisch erlegt und verspeist. Mein Bruder Marcus hat sein erstes Schuljahr hinter sich, er hat den festen Plan, Fernfahrer zu werden. Er weiß schon mehr über Autos als ich jemals gewußt habe, und sein Wissen über Flugzeuge ist auch beachtlich. „Es ist ja gut, wenn man feste Berufspläne hat“, schmunzelte Papa, als Marcus ihm seinen Zukunftstraum mitgeteilt hatte. „Ich wünschte, daß meine Tochter genauso entschlossen wäre!“ „Bin ich doch, Papa!“ sagte ich. „Ich werde euch zuliebe mein Abitur machen, und dann – mir selbst zuliebe – Ingo heiraten!“ Das mit dem Abitur war auch so eine Sache. Es war Papa, der mich davon überzeugt hatte, daß ich es machen sollte. „Wenn ich nun Keramikerin werde, Papa“, hatte ich gesagt, „dann brauche ich doch kein Abitur!“ „Du weißt gar nicht, ob du Keramikerin wirst“, antwortete Papa. „Vielleicht wirst du plötzlich ganz andere Wünsche haben. Wünsche, die eine bessere Ausbildung notwendig machen. Denk daran, Elaine: Es ist besser, etwas zu haben, was man nicht braucht, als etwas zu brauchen, das man nicht hat!“ Diese Logik war so einleuchtend, daß ich mich dazu entschloß, das Abitur zu machen. „Schön und gut, daß du heiraten wirst“, sagte Papa ein andermal. „Aber eine Ausbildung mußt du doch haben! Etwas, worauf du zurückgreifen kannst, falls… nun ja, falls es notwendig wird, daß du Geld verdienst. Wenn Ingo krank werden sollte, oder, was Gott verhüte…“ „Sprich nicht weiter, Papa!“ rief ich. „Ich weiß, was du sagen wolltest. Na gut, ich werde mir schon überlegen, was ich sozusagen als Nothilfe lernen könnte – aber es hat ja Zeit! Noch fehlt mir ein Jahr Schule! Aber ich habe das Gefühl, daß ich bei der Keramik bleibe! Dann kann ich Kopien von all den antiken Gefäßen machen, die Ingo ausbuddelt!“ „Davon wirst du kaum leben können“, meinte Papa. „Aber es stimmt, du hast noch ein Jahr Zeit. Vergiß bloß nicht, daß du Hausbesitzerin bist. Es kostet Geld, ein Haus zu halten, und wenn wir dir nicht mehr helfen können.“ „Dann kann Ingo!“ meinte ich. „Wenn er erst eine feste Anstellung kriegt, und wenn ihr doch zurück nach Frankfurt müßt, dann müssen Ingo und ich zusehen, daß wir mein Haus halten und erhalten und behalten!“ „Und du erwartest vielleicht, daß Ingo hier in der unmittelbaren Nähe eine gutbezahlte Anstellung bekommt?“ fragte Papa. „Ich fürchte, es wird wohl so werden, daß es nur euer und hoffentlich auch unser Ferienhaus wird. Also, Elainchen, unter allen Umständen werdet ihr Geld brauchen, und dann siehst du wohl ein, daß du auch die Möglichkeit haben mußt, etwas dazu zu verdienen. Kannst du folgen?“ „Ja“, seufzte ich. „Ich sehe die Probleme wie eine große dicke Wolke am Horizont! Aber vorläufig sind wir hier und haben es gut und sind glücklich – und ich werde mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen, was ich anfangen könnte – etwas, das mir liegt und mir in der Zukunft Geld bringen kann!“ „Sieh zu, daß du ein gutes Abitur machst“, ermahnte mich Papa. „Das hängt davon ab, wie oft und wie intensiv du mir bei Mathematik hilfst“, sagte ich. „Hab ich mir schon gedacht“, seufzte mein vielgeplagter Vater. Warum ich unterbrochen wurde Gestern räumte ich meinen Schreibtisch auf. Es war bitter nötig. Und dabei fand ich diese beschriebenen Bogen. Seit mehr als einem Jahr liegen sie ganz unten im linken Schreibtischfach. Ich habe das gelesen, was ich damals schrieb, und ich denke zurück. Damals war ich siebzehn. Es war Anfang der Ferien. Ich hatte wohl die Absicht, weiterzuschreiben, aber es kam alles ganz anders. Denn gerade an dem Tag, als ich das erste Kapitel abgeschlossen hatte, begannen die Ereignisse sich zu überstürzen, und meine Gedanken drehten sich um alles andere als Tagebuchschreiben, oder wie man nun mein Gekritzel nennen soll. In meiner Familie neigen die Ereignisse dazu, sich zu häufen. Immer passiert alles auf einmal! Es fing damit an, daß das Telefon klingelte. „Geh ran, Elaine!“ rief Mama aus der Küche. „Ich habe ganz klebrige Hände!“ Mama war dabei, die ersten selbstgezüchteten Erdbeeren einzukochen. Kein Wunder, daß sie klebrige Finger hatte! Also ging ich ans Telefon. „Hier bei Grather! Guten Tag!“ Eine ferne aber deutliche Stimme meldete sich. „Il faut parler français, ma petite! Ici grand-mère!“ „Grand-mère!!!“ rief ich. „Liebste grand-mère, wo bist du?“ „In Villeverte! Zu Hause! Sag mal, was ist mit euch los?“ „Mit uns? Gar nichts! Uns geht es glänzend! Und dir, grand­ mère? Geht es dir gut? Bist du gesund?“ „Gesund? Wütend bin ich! Deswegen rufe ich doch an!“ „Wütend? Doch etwa nicht auf uns?“ „Auf wen sonst? Was soll das heißen, daß ihr diesen Sommer nicht in die Schweiz kommt? Es ist das zweite Jahr, daß ihr uns im Stich gelassen habt! Ihr habt wohl vor, erst zu meinem Begräbnis zu kommen?“ „Um Gottes willen, grand-mère, wie sprichst du bloß! Du weißt doch, daß wir… Ach, da kommt Mama, schimpf weiter mit ihr!“ Mama hatte wohl in der Küche mitgekriegt, daß ich mit Grand­ mère sprach. Sie hatte in Windeseile ihre Hände „entklebt“ und nahm den Hörer. Ich horchte natürlich wie ein Luchs, aber vorerst gab es gar nichts zu horchen! Grand-mère hatte das Wort allein, und sie hatte anscheinend viel auf dem Herzen. Als sie endlich Luft holen mußte, sprach Mama – italienisch! Seit sie als kleines Kind oft die Großeltern in Italien besuchte, hat sie mit Grand-mère italienisch gesprochen, und das ist hängengeblieben. Also konnte ich nur an ihrem Tonfall erraten, ob es traurige oder erfreuliche Dinge waren, die besprochen wurden. Mamas Gesichtsausdruck wurde immer heller, ein strahlendes Lächeln kam zum Vorschein, und die letzten Worte habe ich so einigermaßen verstanden. Ich meinte, sie sagte „großartig, wunderbar“, – und etwas, das ich mehr durch Instinkt als durch Sprachkenntnisse als „wir freuen uns unsagbar“ diagnostizierte. Endlich legte sie den Hörer auf. „Grand-mère kommt!! Sie will uns besuchen! In drei Tagen! Elaine, hol schnell Papa – und Marcus, falls du ihn irgendwo siehst – , ihr müßt mir alle helfen, wir haben tausend Dinge zu tun!“ Ich rannte in den Garten, wo unsere beiden Männer dabei waren, einen Maschendrahtzaun um Mamas Gemüsegarten zu bauen. Der Grund für diese Maßnahme, nämlich mein Hund, stand schwanzwedelnd dabei. „Papa! Marcus! Kommt schnell! Wir kriegen Besuch! Grand­ mère kommt!“ „Was?“ rief Papa und ließ eine Zange fallen. „Kommt sie hierher? Mit ihren einundachtzig Jahren? Sie hat vielleicht Mut! Das ist ja großartig – komm, Marcus, so wie ich eure Mama kenne, werden wir jetzt alle zum Großeinsatz abkommandiert!“ Das stimmte. Mama war ganz aufgeregt. „Ja. sie war also zuerst wütend, weil wir auch diesen Sommer hierblieben, dann hielt sie mir eine lange Rede über Familiensinn und Familienliebe, und teilte mir mit, daß sie zwei Jahre ihre beiden Urenkelchen nicht gesehen hätte. Dann kamen ein paar Reflexionen über die Tatsache, daß sie seit zwölf Jahren nicht in Deutschland gewesen sei. Und nun wollte sie endlich unser Haus sehen – Verzeihung. Elaine, ich meine dein Haus – mit anderen Worten, sie hat einen Flug gebucht und kommt am Freitag in Hannover an. Sie erwartet, daß sie dort abgeholt wird.“ „Worauf sie sich verlassen kann!“ rief Papa. „Du weißt doch, Bernadette, Grand-mère ist deine einzige Rivalin. Also, wir werden jetzt alle eingespannt. Was sollen wir machen?“ „Du mußt entweder nach Braunschweig oder Hannover fahren, zu einem Feinkostgeschäft, ich schreibe dir gleich alles auf… Elaine, du mußt im Fremdenzimmer Staub wischen und den Teppich saugen… Ach, hol auch die Gardinen runter, wir stecken sie gleich in die Waschmaschine… Marcus, du läufst rüber zu Opa Geest und fragst, ob seine Hühner fleißig gewesen sind, ich brauche viele Eier zum Kuchenbacken!“ „Darf ich höflichst fragen, was du selbst machst?“ schmunzelte Papa. „Kannst du dir das nicht denken? Ich bringe die Küche auf Hochglanz! Du kennst doch Grand-mère! Sie kommt Freitag, am Sonnabend morgen steht sie schon in der Küche und fängt mit dem Mittagessen an!“ Gleich darauf war ich in vollem Gange im Fremdenzimmer. Ich hörte, daß Marcus mit Bisken und Eierkorb verschwand, und daß Papa seinen Wagen startete. In der ganzen Familie herrschte freudige Aufregung! Während ich wischte und putzte und den Staubsauger laufen ließ, ging ich meinen eigenen Gedanken nach. Wenn nun Ingo zum Wochenende käme? Nun ja, dann müßte er eben in Papas Filmwerkstatt schlafen, da war ja eine Couch. Gar nicht so übel! Da könnte ich ihn ja auch besuchen… Was solche Besuche bedeuteten, nun ja, das war kein Geheimnis. Meine Eltern waren nicht von gestern, und schließlich waren sie auch selbst einmal jung gewesen. Und es war ihnen sehr bewußt, daß die Zeiten und gewisse Begriffe sich geändert haben. Ein einziges Mal war dieses Thema zwischen Mama und mir zur Sprache gekommen. Ich hatte Ingo in Lübeck besucht, und als Mama fragte, wie es seiner Mutter ginge – sie hatte vor kurzem eine Grippe gehabt -. sagte ich die Wahrheit. Sie sei gar nicht dagewesen, sie hätte übers Wochenende eine Freundin besucht. „Dann wart ihr also allein“, sagte Mama. „Ja. Mamachen. Wir waren allein.“ Mama schwieg. Aber ich sprach weiter. „Mama jetzt weiß ich genau, was du denkst. Und ich kann ganz klar darauf antworten. Ich liebe Ingo, und ich werde ihn heiraten. Das, was du glaubst, stimmt natürlich. Erstens möchte ich dir sagen, daß du keine Angst haben sollst. Ich kriege kein Kind – das heißt, hoffentlich kriege ich eins, aber erst, wenn wir verheiratet sind. Und zweitens sollst du dich freuen, weil ich diesen sehr wesentlichen Teil des Lebens in… in… nun ja, sagen wir… in Schönheit kennengelernt habe! Ich hätte mich nie, aber auch nie mit einem Mann einlassen können, den ich nicht liebte! Ich weiß, viele Mädchen leben mit ihrem Freund zusammen, nur weil andere es tun, nur weil sie nicht als Spätentwickler dastehen wollen. Sie wollen mitreden können. In meiner Klasse sind ein paar solche Mädchen. Und das mit dem ,Mitreden’ finde ich widerlich! Es gibt Dinge, die so schön sind, daß man einfach nicht darüber redet! Habe ich nicht recht?“ „Doch, das hast du! Unbedingt.“ Mamas Stimme war leise. „Ich weiß“, fuhr ich fort, „daß man es früher unmoralisch nannte, und man sollte hübsch warten, bis man verheiratet war. Aber Mama, sag ehrlich, findest du das moralisch? Kein Mensch erwartet, daß ein junger Mann wie ein Mönch leben soll. Und was war das Resultat? Daß der arme Mann von früher während der Verlobungszeit zu Frauen ging, die er für ihre… ihre… sagen wir Dienstleistungen, bezahlte. Nur weil das Mädchen, das er liebte, und sich nach ihm sehnte, ,rein’ bleiben sollte. Wäre sie vielleicht weniger ,rein’, wenn sie mit dem Mann, den sie doch heiraten wollte, das größte Glück des Lebens kennengelernt hätte?“ „Kleines Elainchen“. sagte Mama und streichelte mir die Wange. Sie lächelte ein bißchen. „Ich muß mich wohl so langsam an den Gedanken gewöhnen, daß ich eine erwachsene Tochter habe“, fügte sie leise hinzu. Ich hatte oft an dieses Gespräch gedacht. Und ich war so froh darüber, daß ich mit meiner Mutter so offen und ehrlich sprechen konnte. Mama verstand mich immer. Der Staubsauger brummte, unten brummte die Waschmaschine und wusch die Gardinen aus dem Fremdenzimmer. Wie freute ich mich auf Grand-mère! Es klingt vielleicht komisch, daß ein Mädchen sich auf den Besuch ihrer Urgroßmutter freuen kann, aber meine Urgroßmutter ist nun mal ein Unikum! Mama behauptet, daß Grand­ mère jedes Jahr jünger wird! Bei der großen Familienfeier vor einem Jahr, an ihrem achtzigsten Geburtstag – bei dem ich leider nicht dabei war – war Grand-mère die Lebhafteste von allen gewesen, voller Späße, voll Fröhlichkeit, geistreich und schlagfertig, herzlich und voll Liebe. Man konnte immer so wunderbar mit Grand-mère reden, sie hielt den Kontakt mit der Jugend aufrecht, interessierte sich immer für unsere Problemchen, unsere Arbeit und unsere Hobbys. Ja, ich freute mich ganz schrecklich auf sie! Ich wurde in meinen Gedanken unterbrochen. Mein Bruder

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