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Alexander, König von Asien PDF

502 Pages·2016·3.44 MB·German
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Valerio Manfredi     Alexander   König von Asien         Roman              Aus dem Italienischen von  Claudia Schmitt Et siluit terra in conspectu eius.  Und die Erde verstummte bei seinem Anblick               Makkabäer  1,3 1      ALEXANDER SAH VON einem Hügel auf den Strand hinunter,  wo sich ein ganz ähnliches Bild bot wie vor tausend Jahren bei  Achills Landung: Hunderte von aneinandergereihten Schiffen,  Tausende und Abertausende von Kriegern. Aber die Stadt hin‐ ter seinem Rücken, Ilion, die Erbin des alten Troja, bereitete sich  heute nicht auf eine zehnjährige Belagerung vor, ganz im Ge‐ genteil: Sie öffnete ihm, dem Nachfahren des Achilleus und des  Priamos, Tür und Tor.   Schon kamen auch seine Kameraden den Hügel heraufgeritten,  doch anstatt auf sie zu warten, wandte Alexander sein Pferd  und lenkte es zum Tempel. Er wollte als erster und ganz alleine  das uralte Heiligtum der trojanischen Athene betreten. Vor sei‐ ner Schwelle angekommen, überließ er Bukephalos einem Die‐ ner und trat ein.    Zunächst konnte er nichts Genaues erkennen, denn er war  geblendet von der gleißenden Mittagssonne und seine Augen  mußten sich erst an das Dämmerlicht im Tempel gewöhnen.  Doch nach und nach nahmen die Dinge Konturen an:    Das alte Heiligtum war voll mit Weihgeschenken aller Art,  besonders Waffen, die an den Trojanischen Krieg erinnerten, an  Homers Epos von der zehnjährigen Belagerung der Stadt, die  die Götter selbst errichtet hatten. An jedem dieser Andenken  war  eine  Widmung  oder  Inschrift  befestigt,  und  so  konnte  Alexander beispielsweise die Kithara des Paris oder den großen  Rundschild des Achill ausmachen. Lange ließ er die Augen umherschweifen und immer wieder  verweilten sie bei einem der kostbaren Erinnerungsstücke, die  unsichtbare Hände all die Jahrhunderte hindurch gepflegt und  erhalten hatten, so daß die Gläubigen und Pilger sich heute noch  an ihrem Glanz erfreuen konnten. Alles hing voll damit: die  Säulen, das Dachgebälk, die Mauern der Cella. Aber wie viele  von diesen Votivgaben waren wirklich authentisch, und wie  viele hatten gerissene Priester in ihrer Profitgier nachträglich  hinzugefügt?    Alexander fand, daß der bunte Wirrwarr eigentlich besser auf  einen Markt als in einen Tempel gepaßt hätte. Das einzig wirk‐ lich Echte in diesem Raum war seine Begeisterung für Homer,  den blinden alten Sänger, und seine grenzenlose Bewunderung  für die Helden, die längst zu Staub geworden waren.    Wie sein Vater einst in den Apollotempel zu Delphi, so war  auch er unangekündigt hier hergekommen. Niemand hatte ihn  empfangen, doch plötzlich näherten sich leichte Schritte. Alex‐ ander verbarg sich rasch hinter einer Säule neben dem Kultbild,  einer eindrucksvollen, in Stein gemeißelten Athene, die bemalt  und mit echten Waffen ausgestattet war. Die primitive, steif  wirkende Statue war aus einem einzigen Block dunklen Steins  gehauen. Ihr Gesicht war angeschwärzt vom Rauch der Öllam‐ pen,  und  die  hellen  Perlmuttaugen  stachen  auffällig  daraus  hervor.    Alexander konnte von seinem Versteck aus beobachten, wie  ein Mädchen mit blütenweißer Haube und Peplon auf die Statue  zuging. Es hatte in der linken Hand einen kleinen Eimer und in  der rechten einen Schwamm.    Damit kletterte es auf den Statuensockel, und dann begann es,  das Standbild behutsam abzuwischen, wobei sich in der hohen Tempelhalle ein betörender Duft nach Aloe und Lavendel ver‐ breitete. Alexander trat geräuschlos hinzu.    »Wer bist du?« fragte er.    Das Mädchen zuckte zusammen und ließ vor lauter Schreck  sein Eimerchen fallen; es schlug mit lautem Gepolter auf dem  Boden auf und rollte davon, bis es gegen eine Säule stieß.    »Fürchte dich nicht«, sagte der König. »Ich bin nur ein Pilger,  der gekommen ist, die Göttin zu verehren. Aber wer bist du?«    »Ich heiße Daunia und bin eine Tempeldienerin«, erwiderte  die junge Frau, eingeschüchtert von Alexanders Aussehen, das  wahrhaftig nicht das eines gewöhnlichen Pilgers war. Unter  seinem Umhang blitzten ein Harnisch und Beinschienen hervor,  und der metallene Gliedergürtel, den er quer über die Brust trug,  klirrte bei jeder Bewegung.    »Eine  Tempeldienerin?  Das  hätte  ich  nicht  gedacht.  Deine  vornehmen Züge, dein stolzer Blick . . .«    »Du  bist  wahrscheinlich  an  die  Sklavinnen  der  Aphrodite‐ tempel gewöhnt, die weniger der Göttin zu Diensten sind als  den Männern, die sie besuchen.«    »Du nicht?« fragte Alexander, indem er für sie den Eimer vom  Boden aufhob.    »Nein, ich bin Jungfrau. Genau wie die Göttin selbst. Hast du  je von der Stadt der Frauen gehört? Da komme ich her.«    Das Mädchen sprach in der Tat einen eigentümlichen Dialekt,  den Alexander noch nie gehört hatte.    »Nein, diese Stadt kenne ich nicht. Wo liegt sie?«    »In Italien. Sie heißt Lokroi.«    »Und warum nennt ihr sie die Stadt der Frauen?«    »Weil  die  Adligen  dort  ausschließlich  Frauen  sind.  Lokroi  wurde von hundert Familien gegründet, die alle von Frauen aus Lokris abstammten ‐ das war ihr Heimatland, aber nachdem sie  ihre Männer im Krieg verloren hatten, sind sie mit ihren Sklaven  geflohen. So erzählt man es sich wenigstens.«    »Und was machst du hier, so weit weg von zu Hause?«    »Ich sühne ein Verbrechen.«    Alexander sah sie verwundert an. »Ein Verbrechen? Was kann  ein so junges Mädchen wie du schon verbrochen haben?«    »Nicht ich«, erwiderte die Tempeldienerin, »sondern unser  Volksheld, Aias Oileus. Er hat in der Nacht nach der Eroberung  Trojas die Tochter von König Priamos, Prinzessin Kassandra,  vergewaltigt, und zwar genau hier auf dem Sockel, auf dem  früher das wundertätige Bild der Göttin Athene stand, das hei‐ lige Palladium, das ‐ wie du sicher weißt ‐ vom Himmel herun‐ tergefallen ist. Seit jenem Tag bezahlen die Lokrer für diese  Freveltat, indem sie jedes Jahr zwei Mädchen aus höchstem  Adel hierherschicken, die ein ganzes Jahr im Tempel der Göttin  dienen müssen.«    Alexander schüttelte staunend den Kopf und fuhr fort, sich  umzusehen.  Draußen,  auf  dem  gepflasterten  Platz  vor  dem  Tempel, hörte man lautes Hufgetrappel ‐ offensichtlich waren  seine Kameraden auch angekommen.    Zunächst trat jedoch ein Priester ein, der sofort begriff, wen er  vor sich hatte:    »Willkommen,  hoher  Herr«,  sagte  er  mit  einer  tiefen  Ver‐ beugung. »Wenn wir gewußt hätten, daß du uns mit deinem  Besuch beehrst, hätten wir dich anders empfangen . . .« Er be‐ deutete dem Mädchen, sich zurückzuziehen, doch Alexander  hielt sie zurück und sagte:    »Laß nur. Dieses Mädchen hat mir eine wunderschöne Ge‐ schichte erzählt. . . Stimmt es eigentlich, daß all diese Weih‐ geschenke aus der Zeit des Trojanischen Krieges stammen?«    »Selbstverständlich. Und das Kultbild, das du hier siehst, ist  ein Palladium ‐ die Kopie einer uralten Statue der Pallas Athene,  die vom Himmel gefallen ist und die Stadt, die sie besitzt, un‐ besiegbar macht.«    Unterdessen hatten sich auch Hephaistion, Ptolemaios, Per‐ dikkas und Seleukos dazu gesellt.    »Und  wo  ist  das  Original  der  Statue?«  wollte  Hephaistion  wissen.    »Nun, manche glauben, der Held Diomedes habe sie geraubt  und nach Argos mitgenommen; andere behaupten,  Odysseus  habe sie nach Italien entführt und König Latinos geschenkt;  wieder  andere  sind  der  Meinung,  Äneas  habe  sie  in  einen  Tempel unweit von Rom geschafft, wo sie heute noch stünde. Es  gibt jedenfalls viele Städte, die sich damit brüsten, das echte Bild  zu besitzen.«    »Kein Wunder«, erwiderte Seleukos, »diese Überzeugung flößt  bestimmt Mut ein.«    »Klar«, Ptolemaios nickte. »Und Aristoteles hätte jetzt sicher  gesagt: Ereignisse geschehen nicht nur, sie können auch durch  Überzeugung oder Prophezeiungen herbeigeführt werden.«    »Was unterscheidet denn das echte Palladium von den an‐ deren Statuen?« wollte Alexander wissen.    »Das echte Bild«, erwiderte der Priester mit feierlicher Stimme,  »kann die Augen schließen und die Lanze schütteln.«    Ptolemaios schnaubte abfällig. »So ein Spielzeug bastelt dir  jeder unserer Kriegsbaumeister in einem einzigen Tag.«    Der Priester warf ihm einen eisigen Blick zu, und auch der  König schüttelte mißbilligend den Kopf. »Gibt es denn irgend  etwas, woran du glaubst, Ptolemaios?«

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