Alain Robbe-Grillets intermediale Ästhetik des Bildes Von der Gemeinsamen Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Hannover zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) genehmigte Dissertation von Martin Lindwedel geboren am 21. Februar 1973 in Neustadt am Rübenberge 2005 Referent: Prof. Dr. Heinz Brüggemann Co-Referent: Prof. Dr. Hans Sanders Tag der mündlichen Prüfung: 11.12.2003 1 Abstract Alain Robbe-Grillet als einer der bedeutendsten Vertreter des nouveau roman hat seit den frühen 50er Jahren begonnen, eine neue Formsprache der Literatur zu entwickeln, die sich als ein umfassendes Konzept von Visualität und Bildstrategien beschreiben lässt. Dabei findet eine auffällige Verschränkung mit den visuellen Medien der Fotografie und des Films statt. Diese als notwendig zu verstehende intermediale Verschränkung ergibt sich zwingend aus dem visuellen Charakter seiner Romane und Prosastücke, also mit seinem Erneuerungsgedanken der Literatur, insbesondere des Romans. Mit dieser Problemstellung verbinden sich Fragen unterschiedlichster Ausrichtung: erzähltheoretische (Beschreibung und fotografischer bzw. filmischer Stil der Präsenz vs. chronologische und kohärente Erzählstruktur), erkenntnistheoretische (phänomenologische Wirklichkeitskonstitution) sowie abbildtheoretische (Realismus-Problem). Diese Frage- und Problemkreise werden zusammengefasst unter dem kulturwissenschaftlichen Zusammenhang von Visualität, Intermedialität und Moderne. In der von Robbe-Grillet als recherche verstandenen Exploration einer neuen Formsprache entwickelt sich eine Ästhetik, die trotz ihrer scheinbaren Neutralität und Objektivität eng an bestimmte Subjektkonzepte gekoppelt ist. Die visuelle Welt bedarf immer eines sie Wahrnehmenden, auch wenn dieses Wahrnehmende derart reduziert ist wie der reine regard, einer im diegetischen Raum verortbaren, rein blickenden Instanz. In den Romanen ist es das Konzept des héros-narrateur, aus dem heraus sich die Dimension des Narrativen als einem geordneten, chronologischen Diskurs problematisiert wird. Diese Figuration wird seit L’année dernière à Marienbad auch auf den Film übertragen, wo er in Gegensatz gestellt wird zu einer Bildästhetik, die dem Narrativen entgegenläuft. Der Kontrollverlust des Erzählers über die Bilder mündet mit der Theorie des nouveau nouveau roman schließlich in die Forderung nach dem mort de l’auteur, die sich in den Romanesques wieder außer Kraft gesetzt scheint. Im Film wie im Roman entwickeln sich dabei Strategien, die eine spielerische (Re-)Organisation der Bilder untereinander durch einen als créateur verstandenen Rezipienten ermöglichen. Grundlegend für Robbe-Grillets Ästhetik ist dabei die Konstitution der dargestellten Welt als Bild. Jede Wahrnehmung, jede Beschreibung, wird dabei als Transformationsprozess von einem Bildtypus in einen anderen verstanden. Daraus resultiert eine relativistischer „Realismus“, in dem zwischen als „real“ wahrgenommenen Bildern und imaginierten nicht mehr unterschieden werden kann. Der Blick des Lesers wird in einer Art „Verführungs“-Strategie einer trompe-l’œil-Struktur ausgeliefert, die die vermeintlich direkten Wahrnehmungen immer wieder als Wahrnehmungen einer zweiten Ordnung zu erkennen gibt – und damit den Wahrnehmungsprozess selbst reflektiert. Schlagwörter: nouveau roman, Intermedialität, Visualität Abstract Alain Robbe-Grillet is one of the most important authors of the nouveau roman. He began in the 50’s of the 20. century to develop a new ecriture, which can be described as an extensive concept of visuality and intermedial strategies. As a result, there take place a specific encounter of the visual media of photography and film. This encounter is absolut related with the visual character of his novels and his thought of renewal of literature. This problematic nature leads to three basic questions with the focus on: theory of the narrative (traditional narration of coherence and chronology vs. a visual style of presence), theory of cognition (phenomenology) and the problem of (literary) realism. This three basic questions are united under the context of visuality, intermediality and modernism. Robbe-Grillet develops in his exploration, his recherche of a new literary style also a new esthetic, which is related in spite of its apparent neutrality and objectivity to certain concepts of subjectivity. The visual world needs always a subject which perceive it, nevertheless if the perceptive subject is reduced to the pure regard. In the novels Le Voyeur or La Jalousie the pure regard transforms in the concept of the héro-narrateur, which one destroys the dimension of narration as a chronological diskurs of order. This figuration is transferred to film since L’année dernière à Marienbad (1960), where the héro-narrateur now represents an opponent to the non-narrative esthetic of the image. Finally, the narrator loses control over narration, and this lost of control leads to the demand for the mort de l’auteur, which seems to be surmounted in the Romanesques. The recipient himself gets more and more the creative instance, who (re-)organizes the images of the text. Fundamental for Robbe-Grillets esthetic is the constitution of the world as image. Every perception, every description, can be described as a transformation from one type of image to another. This leads to a relativistic realism, where it’s impossible to distinguish between perceptive or imaginative images. The regard of the reader is at the mercy of a seductive text of trompe-l’œil – which reflexes the perception process itself. Keywords: new novel, intermediality, visuality. 2 1 Vorspiel der Bilder.......................................................................................................5 2 Spiegel I.......................................................................................................................13 2.1 Reflexiver Realismus?.....................................................................................................13 2.2 Visions réfléchies.............................................................................................................18 2.3 Die visuelle Situation.......................................................................................................20 2.4 Der reine regard..............................................................................................................26 2.4.1 Im Spannungsfeld von Objektivität und Subjektivität............................................26 2.4.2 Der perspektivische Blickpunkt..............................................................................28 2.4.3 Die phänomenologische Einstellung.......................................................................32 2.4.4 Spiegelungen...........................................................................................................41 2.5 L’œil vivant im chambre secrète.....................................................................................49 3 Fotografie....................................................................................................................53 3.1 Instantanés / Momentaufnahmen.....................................................................................53 3.2 Das „Zeigen auf“ – Referenzialität und Fotografie.........................................................58 3.3 Fotografie und Erinnerung (L’année dernière à Marienbad)..........................................67 3.4 Der fotografische Akt (Glissements progressifs du plaisir)............................................73 3.5 Die Akt-Fotografie (David Hamilton).............................................................................81 4 Roman.........................................................................................................................91 4.1 Roman de la vision: Le voyeur........................................................................................91 4.2 Diskurs der Chronologie und Kohärenz..........................................................................92 4.3 Der héros-narrateur........................................................................................................95 4.4 Das destabilisierte Subjekt.............................................................................................104 4.4.1 Personale Erzählsituation: Subjektivität im Modus der Neutralität......................104 4.4.2 Der schizophrene Text..........................................................................................108 4.4.3 Superposition: Das obsessive Wahrnehmungsbild...............................................114 4.5 Pôles organisateurs.......................................................................................................126 5 Film............................................................................................................................130 5.1 Der Autor-Filmemacher und der ciné-lecteur...............................................................130 5.2 Das halbsubjektive Wahrnehmungsbild........................................................................132 5.2.1 L’immortelle..........................................................................................................134 5.3 Die Stimme und das Bild...............................................................................................144 5.3.1 Der Raum und das Zeit-Bild: L’année dernière à Marienbad..............................144 5.3.2 Voix off..................................................................................................................149 5.3.3 Von Trans-Europ-Express zu L’homme qui ment................................................152 5.4 Das Spiel und der Schnitt..............................................................................................157 5.4.1 Terroristische Theorie: La mort de l’auteur.........................................................158 5.4.2 Subversive Praxis: thèmes générateurs im seriellen Sinnspiel.............................163 5.4.3 Montage und Glissements.....................................................................................169 6 Spiegel II...................................................................................................................181 6.1 Im wiederkehrenden Spiegel.........................................................................................181 6.2 Das Ich im Zeichen des Mangels...................................................................................183 6.3 Der phantasmatische Pakt..............................................................................................190 6.4 Der Andere im Spiegel der Fiktion................................................................................199 3 6.5 Miroir brisé...................................................................................................................207 7 Schluss.......................................................................................................................211 8 Bibliographie............................................................................................................213 8.1 Primärliteratur Alain Robbe-Grillet...............................................................................213 8.1.1 Romane, Nouvelles, Romanesques.......................................................................213 8.1.2 Ciné-romans, Picto-romans, Fotobände...............................................................213 8.2 Filme von Alain Robbe-Grillet......................................................................................214 8.2.1 Filme nach Texten von Alain-Robbe-Grillet........................................................214 8.3 Benutze Sekundärliteratur.............................................................................................214 8.4 Abbildungen..................................................................................................................221 4 1 Vorspiel der Bilder Die modernen Untersuchungen gehen davon aus, dass Bilder als eine Art Sprache verstanden werden müssen; man hält Bilder nicht mehr für transparente Fenster zur Welt, sondern begreift sie als die Sorte Zeichen, die sich trügerisch im Gewand von Natürlichkeit und Transparenz präsentiert, hinter der sich aber ein opaker, verzerrender, willkürlicher Mechanismus der Repräsentation, ein Prozeß ideologischer Mystifikation verbirgt.1 Ein Mann in einer Bar, allein, wartend. Wie in einem Detektivfilm nach Raymond Chandler spricht seine Stimme aus dem Off zu uns und informiert darüber, dass er sich „translucide“ und überflüssig fühlt, ein Mann ohne Auftrag, ein Agent im Leerlauf. Der Mann heißt Walter – und seine umherschweifenden Augen entdecken bald im Trubel der Tanzenden eine junge blonde Frau. Während er sie beobachtet und fixiert, ändert sich der Charakter der Musik in Richtung Striptease-Begleitung und die Fremde setzt sich ab von den anderen, scheint nur für ihn zu tanzen, nur für ihn zu existieren. Bald ist die geheimnisvolle Frau wieder verschwunden – ohne ihm ihren Namen oder ihre Telefonnummer verraten zu haben. Endlich bekommt Walter einen neuen Auftrag von seiner Chefin, der motorradfahrenden Frau in Lederkluft – Sara Zeitgeist. Sie gibt Walter einen geschlossenen Umschlag, den er einem Politiker namens Henri de Corinthe so schnell wie möglich überbringen soll. Auf seiner Fahrt durch die Nacht sieht Walter immer wieder die für ihn tanzende Fremde vor sich; sie hat sich als Bild in seinem Kopf festgesetzt. Kurz darauf scheinen die Wunschbilder Realität zu werden: Walter findet eine auf der Strasse liegende, bewußtlose Frau, die Hände hinter dem Rücken zusammengekettet – eben jene Unbekannte. Zufall, eingefädelte Intrige oder ein Produkt von Walters Einbildungskraft? Wie dem auch sei: Um Hilfe für die junge Frau zu finden, verschiebt Walter seinen Auftrag. Nach einer langen Fahrt durch die Nacht „qui j’avait passé comme dans un rêve“ erreichen die Beiden ein Anwesen wie aus einem Schauerroman. Blitz und Donner erhellen die Eingangshalle, in der eine verschworene Gemeinschaft von offensichtlich gut situierten Männern die beiden Neuankömmlinge schon erwartet hat. Die junge Frau wird sogleich als „la plus belle captive de ce soir“ bewundert. Anstatt sie von ihren Fesseln zu befreien, gibt man ihr ein Glas dunkelroten Weins zu trinken. Wir sehen ihr Gesicht in Großaufnahme, von ihren Lippen bis zum Kinn hinab hinterlässt die Flüssigkeit ein rotes Rinnsaal – das Bild zitiert die Ikonografie eines Vampir-Films. Soweit der Anfang von La belle captive (1982), dem letzten von Alain Robbe-Grillet selbst inszenierten Film. Es ist der Auftakt zu einem hoch verschlüsselten Rätselspiel mit Bildern, oder einem Rätselbild, wenn man so will. Der Titel des Films scheint zunächst eindeutig, haben doch die Herren der „Villa Seconde“ bereits das Stichwort gegeben: die geheimnisvolle junge Frau, deren Name – wie sich später herausstellt – Marie-Ange ist, ist die „belle captive“, der Dreh- und Angelpunkt des seltsamen Abenteuers, in das Walter sich zusehens verstrickt sieht, und an dessen Ende sein eigener Tod stehen wird. Doch schon Marie-Anges Identität bleibt den ganzen Film über zweifelhaft: Ist sie die verschwundene Verlobte des Henri de Corinthe, oder gar dessen vor sieben Jahren an einem verlassenen Strand auf rätselhafte Weise durch eine Harpune umgekommene frühere Geliebte, die Tochter von Professor van de Reeves, einem undurchsichtigen Forscher des Spiritistischen? Jedenfalls sollen sich diese beiden Frauen derart im Aussehen gleichen, dass sogar die Zeitung, die über das Verschwinden der Verlobten berichtet, irrtümlicherweise ein Foto der toten Geliebten abgedruckt hat. Ist Marie-Ange eine Untote, ein Vampir oder ein Zitat, die „Braut von 1 Mitchell, W. J. Thomas: „Was ist ein Bild“, in: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit, Frankfurt/M. 1990, S. 17-69; hier S. 18 5 Korinth“ aus Goethes Ballade?1 Oder ist sie nur eine Einbildung von Walter, der – wie man gegen Schluss des Films zu sehen bekommt – das ganze Abenteuer nur erträumt haben soll? Schon bald tritt ein weiteres Bildmotiv in den filmischen Raum, das ebenfalls den Titel des Films für sich beansprucht. Während Walter von Marie-Ange verführt wird, schaltet sich plötzlich ein unerwartetes Bild ein: Der Filmzuschauer sieht einen verlassenen Sandstrand, der ungefähr in der Bildmitte übergeht in die sanften Wellenbewegungen des Meeres. Im Bildvordergrund steht eine Staffelei, und auf der Staffelei ein rechtwinkliger Bilderrahmen, an dem wie an einer Theaterbühne ein roter Vorhang befestigt ist [Abbildung 1]. 2 Der Zuschauer sieht die Szenerie also durch den Bilderrahmen und den geöffneten Vorhang hindurch, inszeniert als kadriertes „Bild“, die Szene setzt sich aber an den Rändern des Bildrahmens fort.3 Nach diesem scheinbar unzusammenhängenden Einschnitt in die Handlung sehen wir wieder, wie Marie-Ange Walter im Bett vampirisch am Hals saugt. Danach folgt eine weitere Einstellung, die zunächst identisch ist mit der vorherigen am Strand. Doch plötzlich setzt sich der Kamerablick in Bewegung: Er nähert sich langsam dem Meer, so dass der Bildrahmen sich zu den Seiten des Filmbildes „ausdehnt“ [Abbildung 2] und letztlich mit ihnen verschmilzt; der Bilderrahmen ist zum Rahmen des Filmbildes selbst geworden [Abbildung 3]. In dieser langsamen Zoombewegung offenbart sich aber auch eine Täuschung des vorherigen Bildes, ein trompe-l’œil- Effekt : Während der Rahmen durch die Blickbewegung näher an die Kamera heranrückt, bleibt der Vorhang als getrenntes Element an seiner ursprünglichen Position stehen. Es zeigt sich, dass der Vorhang nicht, wie vorher angenommen, an dem Bildrahmen befestigt ist, sondern vielmehr weiter im Hintergrund des Filmbildes situiert war, für sich selbst als Objekt am Strand stehend in einiger Entfernung zur Staffelei. Der Täuschungseffekt resultiert aus der Zweidimensionalität des Filmbildes, in welchem Entfernungen sich ausdrücken in der Größenrelation der Objekte. Nach diesem Exkurs in die Manipulierbarkeit des Blicks sowie der Konstruiertheit der Bilder kehrt die Kamera mit einem Schrei von Walter zurück in das Schlafzimmer, allerdings sehen wir zunächst ein großes Gemälde, das über dem Bett hängt [Abbildung 4], und an dem vorbei der Blick sich senkt auf den nun wieder verlassenen Walter. Das Gemälde greift wieder die Elemente der Strandszene auf (oder griff diese die Elemente des Gemäldes auf ?) : das Meer, der Strand, eine Staffelei mit einem Bild darauf, ein roter Vorhang. Allerdings bildet nun in Umkehrung des vorherigen (Film-)Bildes der Vorhang den Rahmen. Man könnte es auch als Gegenbewegung zum vorherigen Zoom interpretieren: Würde man einen chronologisch-narrativen Zusammenhang zwischen den beiden Bildern annehmen, so könnte man meinen, jemand habe die Staffelei genommen und habe sie nun direkt an dem auf dem Stand stehenden Vorhang getragen. Allerdings ist die rechte Seite des Vorhangs heruntergelassen, so dass nur die linke Bildhälfte den Blick auf das Meer freigibt. Das Bild auf der Staffelei ragt in die linke, offene Bildhälfte hinein, steht aber ansonsten vor dem rechten Vorhangstück. Dieser Bildteil, der nun den Vorhang abbilden müsste (befindet er sich doch direkt hinter der Leinwand), wird zu einer Art Fenster: in ihm setzt sich die Szenerie, die von dem Vorhang abgedeckt wird, einfach nahtlos fort, so dass auch hier das Meer zu sehen ist. Diese Gemälde ist, wie wir später durch eine Bildunterschrift erfahren, La belle captive „après René Magritte“. Tatsächlich handelt es sich nicht um Magrittes Gemälde von 1967 desselben Titels (oder um eine getreue Reproduktion desselben), denn während auf Magrittes Bild eine Kugel links neben der Staffelei zu sehen wäre, zeigt das Bild „après Magritte“ einen im Sand liegenden Damenschuh, der nicht nur im Film La belle captive, sondern überhaupt im ikonischen Universum von Robbe-Grillet eine große Rolle spielt. Hier treffen sich die immer wiederkehrenden Bildmotive Magrittes (Strand, Stein, Staffelei, Vorhang) mit denen Robbe-Grillets.4 1 Zu den Bezügen von Robbe-Grillets Werk (insbesondere La belle captive und Djinn) zu „Die Braut von Korinth“ vgl. auch Dümchen, Sybil: Das Gesamtkunstwerk als Auflösung der Einzelkünste: zur subversiven Ästhetik Alain Robbe-Grillets, Marburg 1994, S. 264-267 2 Die Abbildungen, auf denen im Text verwiesen wird, sind im Anhang zu finden. 3 Dieses Bild erschien dem Zuschauer bereits ganz zu Beginn des Films, innerhalb des Bildrahmens waren die Credits zu sehen, u.a. auch der Titel des Films. 4 In La belle captive wird der Schuh als realer Gegenstand auftreten, der zum Beweis in einem Mordfall werden soll. Allerdings finden sich im Laufe des Films drei Exemplare des Schuhpaares an, was ihre Beweiskraft ad absurdum führt. Außerdem enthält der Umschlag an Corinthe, den Walter 6 Die Bildidee, die hinter Magrittes Gemälde steckt, hat er mehrmals seit 1931 als Bild realisiert, zunächst unter dem Titel La belle captive, später als La condition humaine. Im ersten La belle captive von 1931 steht die Staffelei in einer Landschaft. Der Teil der Landschaft, den die Staffelei verdeckt, wird auf dem Bild wiedergegeben, also quasi ersetzt. Das Bild wird zur „Kritik an der Referenzillusion realistischer Abbildung“1: Die Leinwand, bzw. ihr Inhalt, das Abbild, soll im Abgebildeten vollkommen aufgehen, der trompe-l’œil-Effekt lässt das Bild wie ein Teil des Abgebildeten erscheinen, es ist quasi transparent geworden. Die Realität wird zur „schönen Gefangenen“ des Bildes, das sie reproduziert bzw. „einfängt“. Aber gleichzeitig schreibt sich das Bild in die Realität ein und wird damit als Abbild auch zum Teil des Vor-Bildes. Außerdem ist durch die Bild-im-Bild-Struktur schon auf den Bildcharakter des Abgebildeten selbst verwiesen. Das Abbilden der Landschaft, die selbst schon Gegenstand eines Bildes ist (des Gemälde von Magritte) ähnelt also eher einem Transformationsprozess von einem Bild in ein anderes. Diese Bildidee setzt sich bei Magritte in verschiedenen Variationen der Bild-im-Bild-Thematik fort: Unentscheidbar werden in Magrittes Versionen zum Thema des Gemäldes im Gemälde die Grenzen zwischen Abbildung und Abgebildeten in Frage gestellt. In der Ambivalenz von Bild und scheinbarem Vorbild vervielfältigt sich das Ähnliche in einer unendlichen Wiederholung.2 Der Film Robbe-Grillets bildet nun das Gemälde Magrittes nicht einfach ab, sondern bildet es quasi mit filmischen Mitteln nach und setzt damit in einer intermedialen Transformation die Bild-im- Bild-Struktur in eine (Film-)Bildinszenierung um. Im Film wird die Transparenz des Bildes-im-Bild noch zusätzlich durch die Möglichkeit der Bewegung im Bild erhöht: Der im Bildrahmen zu sehende Ausschnitt vom Meer bewegt sich, ist nicht wie im Gemälde fixiert, sondern scheint vielmehr durch das Bild hindurch. Durch die Verlagerung des Bildrahmens in der zweiten Sequenz wird das im Film Gesehene selbst vollständig zum Bild. Die Aussage, die aus dieser Inszenierung folgt, ist die, dass das Filmbild auch immer schon ein Bild ist, also gestaltet, inszeniert – und eben kein Fenster zur „Wirklichkeit“, denn diese ist immer schon Teil des Bildes, ein trompe-l’œil, wie uns eben durch die Verlagerung des Bildrahmens bewußt gemacht wird, wenn wir erkennen, dass der Vorhang ein Teil des Strandes ist und nicht des Bildrahmens. Damit wird er aber zu einem disparaten Element, das nicht zum Abgebildeten, dem vermeintlich „realen“ Strand zu passen scheint – und damit wird die Realität einmal mehr zum Bild, zu einer „sur“-realistischen Inszenierung. Das Filmbild ist also nicht als vermeintlich reproduzierte Realität anzusehen, als „Effekt des Realen“, sondern als Bildinszenierung – in der der Effekt des Realen eine besondere Form der Illusion ist. Diese Tendenz unterstützt auch das Gemälde La belle captive von 1967, in dem der Bildcharakter des auf der Leinwand Dargestellten zusätzlich durch den nun vor dem Bild stehenden Vorhang betont wird: eigentlich würde der Vorhang, der sich vor der Staffelei befindet, mit zum Abgebildeten gehören. Doch er findet keine Darstellung auf dem Bild, vielmehr macht das Bild den Vorhang, der überbringen soll, das Foto eines Damenschuhs, der an ein dunkles Geheimnis des Politikers gemahnen soll (hat Corinthe seine junge Geliebte umbringen lassen?). Ein weiteres Bild also, das sich in das pikturale Spiel einreiht. Vgl. dazu Köppen, Manuel: „Die schöne Gefangene im Labyrinth der Bilder. Grenzgänge zwischen Literatur, Film und Malerei bei Alain Robbe-Grillet und René Magritte“, in: Naumann, Barbara (HG): Vom Doppelleben der Bilder. Bildmedien und ihre Texte, München 1993, S. 115-151; hier S. 144f. 1 Paech, Joachim: „La belle Captive (1983). Malerei, Roman, Film (René Magritte / Alain Robbe- Grillet)“, in: Albersmeier, Franz-Josef und Roloff, Volker: Literaturverfilmungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 409-436; hier S. 412. In diesem Zusammenhang fällt auch das berühmte Gemälde Magrittes Ceci n’est pas une pipe, das den Unterschied des „realistischen“ Bildes einer Pfeife zum Referenten herausstellt. Vgl. dazu auch Ralf Konersmanns Begriff von der „Sichtbarkeit des Denkens“ bei Magritte (Konersmann, Ralf: René Magritte. Die verbotene Reproduktion, Frankfurt/M. 1991, S. 14-36). 2 Köppen: „Die schöne Gefangene im Labyrinth der Bilder...“, a.a.O., S. 115. Vgl. zum Thema der „Bild-Bilder“ auch Schneede, Uwe M.: René Magritte, Köln 1973, S. 49-67. 7 die „Bühnenhaftigkeit“ der Realität evoziert, selbst wieder transparent hin zur Illusion des „natürlichen“ Bildes vom Strand und dem Meer. Die Bild-im-Bild-Struktur multipliziert sich dann nochmals um eine weitere Ebene, wenn Magrittes Gemälde (bzw. seine Reproduktion und partielle Umarbeitung in das Gemälde „après Magritte“) zum Bild- im-Filmbild Robbe-Grillets wird. Damit verdoppelt sich auch der Bezug des Titels: Das Gemälde La belle captive wird als Gegenstand eines anderen Bildes selbst zur vom Filmbild eingefangenen „belle captive“, so wie Marie-Ange, die „belle captive“ der narrativen Ebene, bald schon zu einem Element der filmischen Nachbildung des Gemäldes La belle captive wird, in dem sie die „Bühne“ am Strand betritt und damit zur schönen Gefangenen des gleichnamigen Gemäldes (als Abbild im Rahmen) im gleichnamigen Film (der den Rahmen des Bilderrahmens darstellt) wird [Abbildung 5]. Die Bezüge verkomplizieren und invertieren sich. Magrittes Gemälde, oder vielmehr die Nachbildung desselben mit den Mitteln des Films (Bewegung des Abgebildeten, Bewegung des Betrachters) taucht in vielen Variationen immer wieder wie unmotiviert im Film auf. Dieses Auftauchen ist immer verbunden mit einer weiteren vampirischen Begegnung mit Marie-Ange, bei denen Walter zunehmend an Kraft verliert. Doch nicht nur der Filmzuschauer sieht diese Bilder vom Strand und der Staffelei, auch Walter selbst scheint diese wahrzunehmen, als quasi-halluzinative Imaginationsbilder während des vampirischen Aktes. Er macht sich Gedanken über die Herkunft dieser Bilder und was sie zu bedeuten haben. Schließlich bricht ein „reales“ Bildzeichen dieser Szene in seine Realität ein: das Gemälde Magrittes als Postkarte, die ihm in unendlicher Reproduktion von dem undurchsichtigen „Inspecteur“ angeboten wird. Schließlich vermischen sich diese Bilder direkt mit dem Schicksal Walters. Sein Erleben und Agieren in der „Wirklichkeit“ wird zusehends von dem Strand-Bild demontiert als Teil einer Inszenierung. So wird Walter in bewußtlosem Zustand von dem vermeintlichen Vater von Marie-Ange, Professor van de Reeves („rêves“) an eine Videoapparatur angeschlossen, die seine „inneren Bilder“ sichtbar macht (eben die Strand-Bilder). Auf einem kleinen Fernsehbildschirm sollen wir – durch häufige Bildstörungen unterbrochen, die das Medium „Video“ markieren und in die wiederum das Gemälde „après Magritte“ eingeblendet wird – nun die finalen Szenen zu sehen bekommen, wie van de Reeves verspricht. Die Videoapparatur wird aber auch zum Übergangsmedium für Walter, der nun die Bildszenerie der belle captive endlich selbst betreten kann. Zu diesem Bildraum gehören mittlerweile nicht nur Marie-Ange, sondern auch eine Garde schwarzgekleideter Männer (sie erinnern an Taucher mit Harpunen, und damit an den „Unfall“-Tod von van Reeves Tochter), die die Frau zunächst verfolgen und dann umringen. Diese Szenen wiederholen sich auf dem Monitor, immer unterbrochen durch andere schon bekannte oder neue Bilder des Films. In einer Sequenz wird Walter von den schwarzen Männern aus dem Schlafzimmer der „Villa Seconde“ gezerrt – letztendlich direkt an den Strand, auf dem die am Boden liegende Marie-Ange zu sehen ist und ein bedrohlich im Sand aufragender Pfahl. Der Wechsel der Bilder beginnt sich zu überschlagen. Für Bruchteile von Sekunden und von weiteren Bildstörungen begleitet, erscheinen Ausschnitte aus Gemälden von Magritte, zuletzt das Zimmer aus L’assassin ménacé von 1926, das sich allerdings nicht als zweidimensionales Bild entpuppt, sondern als eine Art papierne Guckkastenbühne, ein Perspektivtheater, das von der Kamera durchquert wird in Richtung auf das im Hintergrund befindliche Fenster. Das Fenster führt wieder hinaus auf den Strand. Schließlich kehrt das Filmbild zu einer getreuen Nachbildung von Magrittes Gemälde von 1967 zurück [Abbildung 6]. Hier setzt wieder eine Kamerabewegung ein, die einen komplizierten Bild-im-Bild-Effekt von Verschiebungen und Übergängen auslöst: Der Kamerablick nähert sich dem Gemälde vor dem Vorhang, bis dieses das gesamte Filmbild einnimmt. Gleichzeitig findet in diesem Bild ebenfalls ein Kameraschwenk statt, der bei dem leeren Strand anfängt, dann den Pfahl zu erkennen gibt und schließlich Walter [Abbildung 7], zu dessen Füßen die regungslose Marie-Ange liegt. Die schwarzen Männer treten ins Bild und stellen Walter an den Pfahl. Die Filmbilder, die ihre Verdopplung in dem Medium des Videomonitors erfahren, laufen letztendlich auf die Hinrichtung Walters auf der Bühne seiner Einbildungskraft hinaus. Dieses Ende wird durch ein anderes Bild, in diesem Falle ein weiteres Gemälde, vorweggenommen. Wir sehen erneut die filmische Nachbildung von Magrittes Belle captive von 1967: auf der linken Seite, halb vom Vorhang verdeckt, haben sich nun die schwarzen Männer in einer Reihe aufgestellt, das Gewehr im Anschlag [Abbildung 8]. Sie zielen auf den rechten Bildraum, wo sich vor dem rechten 8 Vorhangteilstück wieder die Staffelei befindet. Auf der Staffelei befindet sich Edouard Manets Gemälde Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko (1867), quasi als Spiegelung der Schützen, denn hier zielen sie nach links. Dieses Gemälde, das zunächst den vorherigen durchscheinenden Bildern auf der Staffelei entgegenläuft, wird letztlich ebenfalls transparent: Bei den Schüssen wird aus dem Gemälde ein weiteres Filmbild, das nun den getroffenen Walter am Pfahl zeigt [Abbildung 9]. Sein Schicksal ist damit besiegelt und vorweggenommen, präfiguriert durch ein Bild, ein Gemälde. Doch auch das Filmbild, in dem das Gemälde und die Strand-Szene inszeniert sind, nimmt ein anderes Ende vorweg: indem es die Bilder als Bilder inszeniert, als mediales „Verfahren der Einbildung“ respektive als „szenische Realisation des Imaginären“1, als Traumbilder oder Imaginationen Walters, der eigentlich im Hause van de Reeves an die Bildmaschine angeschlossen ist, sind sie in ihrer Verdopplung der Bildebene eine Voraussicht auf das eigentliche Ende des Films: Walter erwacht plötzlich, aber nicht im Hause van de Reeves, sondern in einem Bett in einem Wohnblock in irgendeiner Stadt. Er hat also geträumt, dass er geträumt hat, am Strand erschossen zu werden. Die doppelte Verschachtelung der Ebenen spiegelt sich in der doppelten Verschachtelung der Bild-im-Bild-Struktur: Die Strandszene wird zum imaginierten Bild, das im Monitorbild erscheint, welches wiederum ein Bild im Traum des Filmbildes von La belle captive ist. Neben Walter liegt nach seinem (endgültigen?) „Erwachen“ seine Ehefrau, die in seinem Traum die Rolle von Sara Zeitgeist gespielt hat. Walter ist irritiert und erleichtert. Alle Inszenierungen und Bilder haben sich als Einbildung entpuppt, als traumartiger Rebus, dessen Sinn er zwar nicht durchschaut, den er aber als nicht-real abtun kann. Doch als Walter in seinem Auto die Strasse hinunterfährt, liegt plötzlich auf dem Asphalt eine bewußtlose Frau. Als er aussteigt hält vor ihm ein Transporter, dem Sara Zeitgeist sowie das Exekutionskommando entsteigen. Sie legen auf Walter an und vollenden ihr Tun auch auf dieser Bildebene, die Walter (und der Filmzuschauer mit ihm) unvorsichtigerweise als „Realität“ angesehen hat, in der ihn die Bilder nicht mehr verfolgen können. Die Macht des Bildes überschreitet alle Grenzen in einer Realität, die immer auch schon ein (Film-) Bild ist. Umfassende Bild-im-Bild-Strukturen, Erinnerungsbilder, Wunschbilder, Imaginationen, zitierte Ikonografien, zitierte, reproduzierte sowie nachgebildete Bildobjekte, Videobilder, deren technischer Charakter die Disposition des Filmbildes spiegelt – die belle captive als Film bildet ein Inszenierungsraum für Bildstrategien, deren eigentliches Bildsujet immer schon ihr eigener Bildcharakter ist: „ein Bild nach dem anderen und hinter den Bildern immer wieder nur Bilder.“2 Was Robbe-Grillets Film damit produziert, ist nicht nur eine Ästhetik des Bildes, sondern auch ein intermediales Projekt, in dem verschiedenste bildproduzierende Medien (Malerei, Film, Video, aber auch Traum und Imagination und die kulturelle Bildermaschine einer populären Ikonografie) zusammenspielen in der Inszenierung eines labyrinthischen Diskurses, in dem frei nach McLuhans Medienbegriff das „medium“ zur „message“ wird.3 Und diese intermediale Ästhetik des Bildes setzt sich in La belle captive auf der Ebene der Literatur fort: Ausgerechnet hinter einem Spiegelschrank findet Walter ein Buch, das ebenfalls (nach dem Film, der Frau und dem Gemälde) den Titel La belle captive trägt. Dieses Buch ist geschrieben von einem Autor namens Alain Robbe-Grillet, und dieses Buch wurde in der außerfiktionalen Welt bereits 1975 bei Cosmos veröffentlich, also bereits sieben Jahre vor dem gleichnamigen Film. In dem „picto-roman“ verbindet sich eine Art Kriminalgeschichte um einen Mädchenmörder mit wechselnden Erzählerperspektiven (sie beginnt mit einem Er-Erzähler, der in ein zunächst wahrnehmendes, dann auch handelndes Ich übergeht, das sich zwischen den Rollen Täter, Beobachter, Verfolger und Verfolgter bewegt)4 und 77 Abbildungen von Gemälden René Magrittes. 1 Paech: „La belle Captive...“, a.a.O., S. 412. Paech fasst mit dem Begriff der „Einbildung“ die „fast identischen pikturalen bzw. literarischen oder filmischen Verfahren“ Robbe-Grillets und Magrittes zusammen: „Einbildung wird hier die szenische Realisation des Imaginären in einem Bild (Magritte), zwischen Bild und literarischem Text (Roman) und als komplexes audiovisuelles Verfahren (im Film) [...] genannt.“ (ebd., S. 411f.) 2 Köppen: „Die schöne Gefangene im Labyrinth der Bilder...“, a.a.O., S. 151 3 vgl. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964. 4 vgl. Köppen: „Die schöne Gefangene im Labyrinth der Bilder...“, a.a.O., S. 126 9
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