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Acta Demographica 1991 PDF

139 Pages·1991·4.177 MB·German
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Acta Demographica Günter Buttler· Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny Gerhard Schmitt-Rink (Hrsg.) Acta Demographica 1991 Mit Beiträgen von H. Adden, H.-G. Höhne, F. Höpflinger, 1. Huinink T. Lilienbecker, K. Schwarz, M. Wagner Mit 18 Abbildungen Physica-Verlag Heidelberg Professor Dr. Günter Buttler Volkswirtschaftliches Institut, Lehrstuhl für Statistik Universität Erlangen-Nürnberg Lange Gasse 20 D-8500 Nürnberg Professor Dr. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny Soziologisches Institut Universität Zürich Zeltweg 67 CH-8032 Zürich Professor Dr. Gerhard Schmitt-Rink Sonnenberger Straße 3 D-6200 Wiesbaden Manuskripte und Mitteilungen werden erbeten an: Herrn Professor Dr. Gerhard Schmitt-Rink ISBN 978-3-7908-0558-1 ISBN 978-3-642-48807-8 (eBook) DOI 10.1 007/978-3-642-48807-8 Dieses Werk ist urheberrechtlieh geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendungen, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vor behalten. Eine Vervielfaltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepu blik Deutschland vom 9. September 1965 in der Fassung vom 24. Juni 1985 zulässig. Sie ist grund sätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urhe berrechtsgesetzes. © Physica-Verlag Heidelberg 1991 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen-und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. 712017130-543210 Inhalt KARL SCHWARZ Drei "Mythen" in der deutschen Demographie ............................................... 1 HANS-GEORG HÖHNE Optimale Bevölkerungswachstumsrate Eine Modifikation der Approximation von Bourgeois-Pichat ........................ 15 MICHAEL WAGNER, JOHANNES HUININK Neuere Trends beim Auszug aus dem Elternhaus ......................................... 39 THOMAS LILIENBECKER Konstante Migrationsströme im Modell der stabilen Bevölkerung.................. 63 FRAN~OIS HÖPFLINGER Neue Kinderlosigkeit Demographische Trends und gesellschaftliche Spekulationen......................... 81 HANSADDEN Perspektiven eines künftigen gesamtdeutschen Alterssicherungssystems ....... 101 Anschriften der Autoren........................................................................ 134 Drei "Mythen" in der deutschen Demographie Von Karl Schwarz Der Verfasser legt Wert auf die Feststellung, daß sich seine Kommentare nur auf Ein drücke aus Erfahrungen in Deutschland beziehen. Er weiß außerdem, daß viele Fach kollegen keineswegs an die hier hinterfragten "Mythen" glauben. Der folgende Bei trag erhebt ferner nicht den Anspruch, vollständig zu sein. Die drei Beispiele er schienen besonders wichtig, weil sie immer wieder auftauchen und es hoffnungslos erscheint, sie aus der Welt zu schaffen. Sie sind zugleich der Beweis dafür, daß de mographischer Sachverstand ebenso mühsam erworben werden muß wie Sachver stand jeglicher anderer Art. Wir beginnen mit einem älteren Thema, das in der Auseinandersetzung mit den Be völkerungsproblemen der "Dritten Welt" noch heute große Bedeutung besitzt, näm lich mit Bemerkungen zur üblichen Beschreibung des "Demographischen Über gangs". Beim Konzept des "Demographischen Übergangs" handelt es sich um eine "Samm lung von allgemeinen Aussagen über den Rückgang der Sterblichkeit und Frucht barkeit, der die Modernisierung einer Gesellschaft typischerweise begleitet" (Coale 1986). Seit der Begründung dieses Koru:epts, die in erster Linie Notestein zuzuschrei ben ist, gibt es darüber zahllose Untersuchungen. Stark generalisierend stellt sich da nach die demographische Entwicklung in Europa und anderen Industrieländern wie folgt dar: Phase 1 (auch Vorphase genannt): in ,ier alten Agrargesellschaft hielten sich Geburten und Sterbefälle langfristig etwa die Waage; Phase 2: Am Anfang der allmählichen Industrialisierung (heute neigt man da zu, stattdessen "Modernisierung" zu sagen) ging die Sterblichkeit zu rück, blieb die Geburtenhäufigkeit aber weiter hoch, so daß sich vorübergehend ein sehr großel' Bevölkerungszuwachs ergab; Phase 3: Bei weiter sinkender Sterblid keit ging jetzt auch die Geburtenhäu figkeit immer stärker zurück, was zu abnehmenden Bevölkerungszu wächsen führte; Phase 4: Dies ergab auf dem HöhepunH des Industrialisierungsprozesses bei sehr niedrigem Niveau der Sterblichkeit und Geburtenhäufigkeit ein neues demographisches Gleichgewicht mit einem sehr kleinen Bevöl kerungszuwachs oder gar "Null wachstum". In manchen Industrieländern stellt sich dieses neue Gleichgewicht von Geburten und Sterbefällen allerdings nicht mehr ein. Man ist daher (für die "Postmoderne Gesell- Acta Demographica 1991 G. ßuttler/H.-J. Hoffmann-Nowotny/ G. Schmitt-Rink (Hrsg.) © 1991 Physica-Verlag Heidelberg 2 K. Schwarz Abbildung 1: Schema der verschiedenen Phasen der Entwicklung von Geburten-und Sterberaten im Industrialisierungsprozeß (Europäisches Modell) l~l"" u",1 (lNtOlbeorw .... IOOOt_. .. ---, ,--------, .--------, ,-------, ,..-------, ~~ '.- ,. ... '. ". '. '. '. '. _._._- " ............. " r----__ -.J r-----~ I---_'''_'-~'-~ __-~ .. -.~ 111 IV '--____- ' _ ____ ._ '--____ --' L ____ ---.J ____. ..J A, -"o'~a'1:M "';' uA, "•"•_• IO'I('.IhI'rf,I.t e11, ...".nw .. ".,,, "f~tl~"t,nNlf.uf"t '""I"" 11,1.1 I"'h"ofn .e.:. U~ II~MIJNIII1. !N_"'d .. df'l dIV,.. fI>rwh.l.q,.r "K0.l.w...l.t,1.." ."." 1'".1 0""' .. 0,.' ~VhW.1r'th . . ... llnIdwvtI,I,",.'9h''D".io~d t ( 1.11.11If' d .., 19 . .I.l1"t", .. ttJ"I\. I O""inn: AU'9ll"lOdH h"''''''~aM'' 19. J .. h,hundHl,) Quelle: Bretz (1986) S. 242. schaft") geneigt, eine weitere fünfte Phase in Betracht zu ziehen. Sie ist dadurch ge kennzeichnet, daß die Zahl der Geburten auf Dauer hinter der Zahl der Sterbefälle zurückbleibt. Nimmt man das Wort "Übergang" (transition) ernst, müßte es dann al lerdings durch eine andere, noch nicht erfundene Vokabel ersetzt werden. Eine idealtypische Vorstellung von den beschriebenen vier oder fünf Phasen vermit telt die Abbildung 1. Wir sagen ausdrücklich "idealtypisch"; denn die Wirklichkeit wich vom Phasenmodell der Abbildung 1 so gut wie überall mehr oder weniger stark ab. Wir sehen das an der Abbildung 2, welche für Preußen, dann für das Deutsche Reich und schließlich für das heutige Bundesgebiet den Verlauf der allgemeinen oder rohen Geburten- und Sterbeziffern nachzeichnet. Die Brauchbarkeit der allgemeinen Geburten-.!Ind Sterbe ziffern zur Darstellung des demographischen Ubergangs Die allgemeinen Geburten- und Sterbeziffern (Lebendgeborene bzw. Gestorbene ei nes Kalenderjahres auf 1000 Einwohner), auf die sich die Beschreibungen des de mographischen Übergangs fast immer stützen, sind das denkbar einfachste Maß zur Kennzeichnung des Niveaus der Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit. Sie stehen in folgedessen für viele Länder über große Zeiträume zur Verfügung. Gegen diesen Vorteil ist der Nachteil aufzurechnen, der darin besteht, daß die Ziffern stark von der Altersstruktur einer Bevölkerung abhängen. Ein Beispiel ist Berlin (West), des sen Geburtenziffer unter und dessen Sterbeziffer über dem Bundesdurchschnitt liegt. Tatsächlich liegt die Geburtenhäufigkeit in Berlin (West) jedoch über dem Bundesdurchschnitt und ist die Sterblichkeit der Berliner Bevölkerung keineswegs höher. In Berlin (West) leben allerdings mehr alte Leute, die für das Niveau der Geburtenhäufigkeit irrelevant sind, aber die Zahl der Sterbefalle erhöhen. Beim Studium des demographischen Übergangs und seiner Ursachen wirken sich solche Drei "Mythen" in der deutschen Demographie 3 Abbildung 2: Lebendgeborene und Gestorbene auf 1000 Einwohner 1816 bis 1984 - _11''''.-", .... ',1' ...... 11 ____ 11".,.» _________ III#,.,.w ______ 1'11'"", .. - • - ~» .. ., /\ ........ vi! ~go",,.. n j-;-.., I: rv ~ II!' I! i ~ " :!! 1i'1\ ",. ! ; ;" ~;\1A r . . /:...,. '1 . .I \' \ .'. ./~ \" " ;.\i~. ,.!L. .i .~.'!' - .. 1.i~- 'I' li I- _. r--' ",. ,. c. ro~·~21 H .. I~. . ..!. ....I.... h ,. \ \ ::~. '" ill N(1[fJ]Th " ·.v · JJI.. " \.J.-i .: ... .1 G.. -.. O.I.."..~ ,. '. "C~ ~ • 'lU 70 J) 010 'Y) fJ) Ja 10 90 IIKt) 10 10 10 otO 50 In 10 10 ... Die Ziffern beziehen sich auf folgenden Gebietsstand: . . ' 1815.1840: Königreich Preußen; 1841·1944: Reichsgebiet; ab 1945: BundesgebIet emschl. Berhn (West). . .. 1) Agrarischer Bevölkerungsprozeß _ 2) 1816·1840 einschI. Totgeborene -3) 1914·1918 und 1939·1945 ohne Knegssterbefalle. Quelle: Bretz (1986), S. 243. und ähnliche Effekte besonders stark aus, weil dieser Übergang von großen Verän derungen der Altersstruktur begleitet wird. Dazu kommen die Auswirkungen des "Gesetzes" der demographischen Trägheit, das besagt, daß es - wegen der Länge des menschlichen Lebens - viele Jahre dauert, bis sich Veränderungen der Geburten häufigkeit und Sterblichkeit im Altersaufbau und in den Wachstumsraten einer Be völkerung so niedergeschlagen haben, wie es dem "wahren Niveau" entspricht. Wir haben das durch ein Bevölkerungsmodell für ursprünglich 1000 weibliche Personen mit folgenden Annahmen über die Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit überprüft: Im Verlauf von 25 Jahren erhöht sich die Lebenserwartung der Neugeborenen von 38 auf 73 Jahre und vermindert sich die Zahl der Lebendgeborenen je 100 Frauen nach abgeschlossener Fortpflanzung von 470 auf 250. Die Annahmen über die Ent wicklung der Lebenserwartung entsprechen der Sterblichkeit in den Jahren 1871/81 und 1970n2. 470 Kinder je 100 Frauen entsprechen knapp 500 Kindern je 100 Ehen. Diese Werte ergaben sich während der Jahre 1891/1900 im Deutschen Reich. Nach den Annahmen sollen sie sich in 25 Jahren halbiert haben. Rechentechnisch wurden altersspezifische Geburten- und Sterbeziffern verwendet, die den Annahmen über die Lebenserwartung und die Kinderzahlen entsprechen. Die Veränderungen nach un ten sollten linear in absolut gleichen Schritten erfolgen. Am Anfang unserer Modellrechnung haben wir eine "stabile Bevölkerung" mit - je 1000 Einwohner - 33,3 Lebendgeborenen, 24,7 Gestorbenen und einer jährlichen Wachstumsrate von 8,6. Eine neue stabile Bevölkerung ist erst nach etwa 80 Jahren 4 K. Schwarz Tabelle 1: Entwicklung einer weiblichen Bevölkerung von ursprünglich 1000 Personen bei Zunahme der Lebenserwartung der Neugeborenen von 38 auf 73 Jahren und Abnahme der Bruttoreproduktionsrate von 2,3 auf 1,23 in 25 Jahren Simu1ations- AnzahI unter 20- über Personen lebend- Gestorbene Geburten- jahr % 20jährige 59jährige 59jährige insgesamt geborene überschuß I AnzahI 420 493 87 1000 33,3 24,7 8,6 % 42,0 49,3 8,7 100 10 AnzahI 445 542 101 1088 26,5 16,6 9,9 % 40,9 49,8 9,3 100 20 AnzahI 462 620 13l 1213 21,0 9,5 1l,5 % 38,1 51,1 10,8 100 30 AnzahI 475 717 177 1369 18,8 7,1 1l,7 % 34,7 52,4 12,9 100 40 AnzahI 505 790 221 1525 18,2 8,2 10,0 % 33,1 52,4 14,5 100 50 AnzahI 539 865 265 1669 17,2 9,0 8,2 % 32,5 51,8 15,9 100 60 AnzahI 565 923 312 1800 16,9 9,8 7,1 % 31,4 51,3 17,3 100 70 AnzahI 599 970 356 1925 16,9 10,5 6,4 % 31,1 50,4 18,5 100 80 AnzahI 634 1024 386 2044 16,7 1l,0 5,7 % 31,0 50,1 18,9 100 90 AnzahI 670 1087 403 2160 16,7 1l,2 5,5 % 31,0 50,4 18,6 100 100 AnzahI 708 1149 427 2284 16,8 1l,2 5,6 % 31,0 50,3 18,7 100 Quelle: Kühn/Schwarz (1975), S. 73-99. mit einer Geburtenziffer von 16,8, einer Sterbeziffer von 11,2 und einer Zuwachs rate "on 5,6 auf 1000 Einwohner entstanden, obwohl nach den Modellrechnungen die Übergangszeit für Veränderungen der Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit schon nach 25 Kalenderjahren beendet war (siehe Tabelle 1). Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Er löst sich auf, wenn wir bedenken, daß noch in vielen späteren Jahren - begünstigt durch den angenommenen Sterblichkeitsrückgang - starke Geburtsjahrgänge aus der Zeit hoher Geburtenhäufigkeit ins Fortpflanzungsalter nachrücken. Über den Über gangszeitraum hinaus ergeben sich infolgedessen Geburtenziffern, die ein immer noch hohes Fruchtbarkeitsniveau vortäuschen. In der Tat ist nach 25 Kalenderjahren die allgemeine Geburtenziffer nicht schon auf die Hälfte, sondern erst auf etwa zwei Drittel des Ausgangswertes zusammengeschmolzen. Ferner dauert es sehr viele Jah re, bis der Geburtenrückgang eine Erhöhung des Anteils der älteren Bevölkerung bewirkt. Die allgemeine Sterbeziffer sinkt infolgedessen vorübergehend auf einen Wert, der erheblich tiefer liegt als dem wirklichen Sterblichkeitsniveau entspricht. Beides zusammen bewirkt in unserem Modell, das die tatsächliche Entwicklung in Deutschland gegen Ende des vergangenen und zu Beginn dieses Jahrhunderts ziem lich realistisch wiedergibt, vorübergehend eine Geburtenüberschuß, der die "wahre" Wachstumsrate weit übersteigt. Dabei haben wir - im Gegensatz zu vielen Theoreti kern - angenommen, daß der Sterblichkeitsrückgang dem Rückgang der Geburten häufigkeit vorausging. Drei "Mythen" in der deutschen Demographie 5 Es ist in der Tat schwierig, begreiflich zu machen, daß es zur Beurteilung der Be völkerungsentwicklung sehr auf die verwendeten Maße und ihre Aussagefähigkeit ankommt. Dazu noch ein Bei~'piel: Zur Zeit hat die deutsche Bevölkerung im (alten) Bundesgebiet jährlich einen Uberschuß der Sterbefälle über die Geburten von etwa 2 auf 1000 Einwohner. Bei Fortdauer des gegenwärtigen Geburten- und Sterblich keitsniveaus ist jedoch langfristig mit einer jährlichen Abnahme um etwa 15 auf 1000 zu rechnen. Das kommt in den allgemeinen Ziffern nur deshalb noch nicht zum Ausdruck, weil die Altersstruktur der Bevölkerung noch von der Geburten häufigkeit und Sterblichkeit vergangener Jahrzehnte geprägt ist. Kein Rückgang der Sterblichkeit vor dem Geburtenrückgang Ein großer Teil der Neugeborenen starb ehedem so früh, daß sie als preiswerte Ar beitskräfte, als Stütze der Eltern bei Krankheit und im Alter oder als Erben elterli chen Vermögens nicht infrage kamen. Es mußten drei oder gar vier Kinder geboren werden, damit wenigstens zwei überlebten. Es erschien somit vielen Forschern plau sibel anzunehmen, ohne einen vorangegangenen Rückgang der Sterblichkeit hätte es so bald keinen Geburtenrückgang gegeben. Über die Entwicklung der Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit haben wir seit 1871 sehr zuverlässige Daten der Reichsstatistik, über die Tabelle 2 und 3 unterrichten. Ein Vergleich der Sterbetafelergebnisse 1871/80 und 1881/90 läßt für das letzte Drit tel des vergangenen Jahrhunderts einen zumindest nur recht schwachen Sterblich keitsrückgang erkenne. Statt 65% der neugeborenen Knaben und 68% der neugebo renen Mädchen werden 10 Jahre später 66% bzw. 69% fünf Jahre alt. Die Lebens erwartung steigt in dem Zehnjahreszeitraum um 11/2 Jahre. Viel schneller schreitet die Entwicklung dagegen in den darauf folgenden Jahrzehnten fort. Ein von den Veränderungen der Altersstruktur unabhängiges Maß der Geburtenhäu figkeit ist die Bruttoreproduktionsrate. Sie beträgt für 1871/80 wie für 1881/90 2,3 oder rund 470 Lebendgeborene je 100 Frauen und erst danach immer weniger. Sterb lichkeitsrückgang und Geburtenrückgang verlaufen also etwa parallel. Die Auswirkungen des gleichzeitigen Rückgangs der Sterblichkeit und Geburtenhäu figkeit auf die Bevölkerungsentwicklung (ohne Wanderungen) sind an den Verände rungen der Nettoreproduktionsrate zu erkennen, die wir in Tabelle 3 ebenfalls nach gewiesen haben. Sie unterscheiden sich von den Bruttoraten dadurch, daß sie für die weibliche Bevölkerung auch die Sterblichkeit bis zum Ende des Fortpflanzungsalters für die Bevölkerungsentwicklung berücksichtigen. Hätte sich die Sterblichkeit im gleichen Tempo wie die Geburtenhäufigkeit vermindert, müßten die berechneten Meßziffernreihen völlig übereinstimmen und hätten sich keine Veränderungen der aus den Nettoreproduktionsraten berechneten jährlichen Zuwachsraten der Bevölke rung ergeben dürfen. Tatsächlich hat die Sterblichkeit etwa ab 1900 jedoch rascher zugenommen als die Geburtenhäufigkeit, was bis zum Ersten Weltkrieg zu steigen den Bevölkerungszuwachsraten führte. Auf die Darstellung der weiteren Entwicklung wollen wir verzichten, da es uns in erster Linie darauf ankommt, den Beginn des demographischen Übergangs zu be- 6 K. Schwarz Tabelle 2: Entwicklung der Sterblichkeit in Deutschland 1871-1934 von 1000 Lebendgeborenen wurden Lebenserwartung für Neugeborene Jahr 5 Jahre alt in Jahren männlich weiblich männlich weiblich 1871/80 649 681 35.6 38,5 1881/90 661 694 37,2 40,3 1891/00 692 726 40,6 44,9 1901/10 742 773 44,8 48,3 1924/26 859 882 56,0 58,8 1932/34 897 915 59,9 62,8 Quelle: Statistisches Bundesamt (1972), S. 109/110. Tabelle 3: Reproduktionsraten in Deutschland 1871-1935 Bruttoreproduktions- Nettoreproduktions- jährliche Jahr rate rate Zuwachsrate Zahl 1871/80 = 100 Zahl 1871/80 = 100 BRR= 100 auf 1000 1871/80 2,28 100 1,35 100 59 11 1881/90 2,27 100 1,36 101 60 12 1891/00 2,22 97 1,44 107 65 14 1901/10 2,02 89 1,42 105 70 13 1913 1,89 83 1,42 105 75 13 1925 1,20 53 1,00 74 83 0 1931 0,87 38 0,77 57 88 -10 1935 1,01 44 0,89 66 88 4 Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 1/1982 und eigene Berechnungen. schreiben. Doch sei hier wenigstens darauf hingewiesen, daß die vierte Phase eigent lich schon in den 20er Jahren endete; denn - von wenigen Ausnahmen abgesehen hat seitdem kein Geburtenjahrgang mehr die zur vollen Reproduktion erforderliche Kinderzahl erreicht. Sehr umfangreiche Studien über den demographischen Übergang in Deutschland hat J. Knodel (1986) durchgeführt. Er kommt (gestützt auf die Ergebnisse aus 14 deut schen Dörfern) zu dem Ergebnis, daß der Rückgang der Säuglings-und Kindersterb lichkeit auf die Geburtenhäufigkeit keinen unmittelbaren Einfluß hatte. Wir wollen damit nicht behaupten, der Rückgang der Frühsterblichkeit hätte überhaupt keine Rolle gespielt, sondern nur sagen, daß schon aus der Natur der Sache keine sofortige Reaktionen zu erwarten waren. Schon damals haben die Menschen keine Bevölke rungsstatistiken gelesen, um daraus für ihr Leben Schlußfolgerungen zu ziehen. Viel mehr müssen wir uns einen Lernprozeß aus Lebenserfahrungen über viele Jahrzehn te vorstellen (Linde 1984).

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