Heft 2 Jahrgang 29 Herbst 2012 Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs 60 Jahre deutsch-indische Beziehungen · Gütekraft gegen Gewalt Subhas Chandra Bose und Hitler · Deutsche Missionare in Südindien Reisebericht · Kurzgeschichte · Gedicht · Rezensionen I Inhalt I Editorial ....................................................................................................................... 3 herausgeber Indien bleibt ein Heimwehland ................................................................................ 4 Diözesan-Caritasverband Dr. Georg Lechner für das Erzbistum Köln e.V. Abteilung Integration und Migration Partner und Konkurrenten zugleich ........................................................................ 9 Georgstr. 7, 50676 Köln Dr. George Arickal Tel. 0221/2010-287 Indien und Deutschland im kulturellen Dialog ................................................... 13 www.caritasnet.de Dr. Martin Kämpchen Vertreter des herausgebers: 60 Jahre deutsch-indische diplomatische Beziehungen ...................................... 15 Dipl.-Soz. paed. Heinz Müller, Journalist DJV Hans-Joachim Kiderlen E-Mail: [email protected] Indische Erfahrung in Deutschland ....................................................................... 17 Redaktion: Dr. Amaresh Gupta Jose Punnamparambil (verantwortlich), Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren, Bei aller Modernisierung ist Indien ....................................................................... 20 Tel. 02224 / 7 53 17 Albrecht Frenz E-Mail: [email protected] Deutsch-indische Freundschaft. Thomas Chakkiath, Zum 60-jährigen Jubiläum deutsch-indischer Diplomatie .................................. 21 Novalisstr. 45, 51147 Köln, Gopal Kripalani Tel. 02203 / 2 26 54; E-Mail: [email protected] Gütekraft gegen Gewalt (Interview Aktuell) ...................................................... 25 Nisa Punnamparambil, Dr. Martin Arnold Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren Die wahren Handlanger von Subhas Chandra Bose ... (Geschichte) ................ 29 Tel. 02224/9897690; Dr. Lothar Guenther E-Mail: [email protected] Es hat in Indien nie Regionen gegeben in denen ... (Interview Aktuell) ......... 33 Redaktionelle Mitarbeit: Dr. Cornelia Mallebrein Walter Meister, Öhringen Infosys Preise für 2011 verliehen ........................................................................... 36 Unterstützung und Beratung: Thomas Chakkiath Pater Ignatius Chalissery; Köln; Dr. Urmila Goel, Bonn; Hans Gerd Grevelding, Köln; Dr. Martin Heilpädagogische Praxis ......................................................................................... 37 Kämpchen, Santiniketan, Indien; Dr. Ajit Lokhande, Dr. Thomas Friedrich Jülich; Walter Meister, Öhringen; Pfarrer Ulrich In der Tat gibt es in Indien hervorragende Gesetze ... (Interview Aktuell) ..... 39 Oligschläger, Königswinter; Dr. Claudia Warning, Elvira Greiner Lohmar Das schrumpfende Universum: Warum kulturelle Unterschiede ... (Kultur) ... 42 Gestaltung und Satz: Vijay Nagaswami Alexander Schmid Wir glauben an die Zukunft Indiens ..................................................................... 43 layout: Barack Obama Jose Punnamparambil; Jose Ukken Bayerischer Eine Welt Preis 2012 (Entwicklungszusammenarbeit) .................. 44 herstellung und Vertrieb: Elisabeth Kreuz Jose Ukken, Im Rheingarten 21, 53639 Königswinter, Gerechtigkeit, Sahib! (Reise) ................................................................................. 45 Tel. 02223 / 49 49; Bernhard Theilmann E-Mail: [email protected] Eine Idee genannt Shiva ......................................................................................... 51 Druck: Zur zeitgemäßen Vermittlung einer zeitlosen Musik (indische Musik) ............ 52 Siebengebirgs-Druck, Ludwig Pesch Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef Eigenes zu bezweifeln – Fremdes anzunehmen ................................................... 54 Erscheinungsweise: dreimal jährlich Walter Meister Eine Spende von mindest. 13 Euro wird von Bräutigam auf einem weißen Pferd (Erzählung) ................................................. 59 den Lesern erwartet. Konto-Nr.: 106 3205, Paul Zacharia Bank für Sozialwirtschaft (BLZ 370 205 00), Aus dem Leben eines Dienstmädchens (Buchbesprechung) ............................. 61 Diözesan-Caritasverband, Köln Johanna Maaß Die vertauschten Götter (Buchbesprechung) ...................................................... 62 titelbild: Tanz, Acryl auf Holzbrett von Raju Mondhe (siehe Seite 30) No Problem – Relax! (Buchbesprechung) ............................................................ 62 Christina Kamp Rückseite: „The Divine Geometry” 2007 (Gött- Armut – ein gutes Geschäft (Buchbesprechung) ................................................. 63 liche Geometrie 2007) von Dr. Unni Krishnan Hans Escher Pulikkal, Kerala, Indien. Dr. Unni Krishnan ist ausgebildeter Arzt, aber Indorama .................................................................................................................. 64 auch ein bekannter Fotograf Indiens. Das Bild ist Indische Musik ist mittlerweile zu einem Teil .... (Interview Aktuell) .............. 65 dem Katalog der Ausstellung „Two in One” von Stephanie Bosch Unni Krishnan , die im Juni/Juli 2011 in Treptow- Köpenick Berlin stattfand, entnommen. die ganze nacht (Gedicht) ....................................................................................... 67 H. S. Shivaprakash 2 meine welt 2/2012 I eDItoRIal I eine „andere“ Beziehung Als ich 1966 aus Indien nach Deutsch- und säkularen Nichtregierungsorga- gen. Als Menschen sind die Deutschen land kam, lief die deutsch-indische Be- nisationen in Deutschland knüpften und die Inder in den letzten drei De- ziehung auf zwei Ebenen. Die auf der Kontakte an mit der unteren Schicht kaden einander näher gekommen und oberen Ebene war geprägt durch volle der Bevölkerung Indiens, indem sie pflegen heute eine Beziehung, die von Bewunderung und Respekt vor der eine Vielzahl von entwicklungspoliti- gegenseitigem Respekt und konstrukti- Tausende von Jahren alten kulturellen schen und karitativen Initiativen für ver Zusammenarbeit geprägt ist. Leistunge Indiens. Die Hauptvermitt- Indien gründeten. Auch die zuneh- Als die größte Wirtschaftsmacht im ler und Interpreten dieser Wahrneh- menden geschäftlichen Verbindungen europäischen Raum und als aufstei- mung Indiens waren die Akademiker führten zu Geschäftsreisen von viel gende Wirtschaftsmacht mit großem und Fachdiplomaten. Auf der unteren mehr Deutschen nach Indien. Potenzial im südasiatischem Raum Ebene war aber die Beziehung geprägt Viele deutsche Journalisten, Publi- haben Deutschland and Indien die von einem Indien-Bild, das Indien als zisten und Buchautoren haben dazu Verantwortung und die Möglichkeit, arm, unterentwickelt und exotisch dar- beigetragen, das Wissen, die Kenntnisse die Zukunft so zu gestalten, dass der stellt. Indien war das Land der heiligen und Informationen über Indien aus Reichtum der Erde gerechter verteilt Kühe, der Mitgiftmorde, der Analpha- dem Elfenbeinturm der Akademiker wird, damit alle Menschen die Chance beten, des Kastensystems und der wan- und Fachdiplomaten herauszuholen haben, in Frieden und ohne Not leben dernden Sadhus. Dieses Bild, vermittelt und sie dem normalen deutschen und sich entfalten zu können. durch Touristen, Entwicklungshelfer Bürger zugänglich zu machen. Auch Diese Ausgabe hat das Schwerpunkt- (Rourkela) und nicht selten kirchliche die Arbeit der Inder/Inderinnen in thema „60 Jahre Beziehungen zwi- Missionare, erzeugte nicht nur abwer- Deutschland und deren deutsche schen Deutschland und Indien“. Wir tende Einstellungen gegenüber dem Freunde hat durch individuelle Initi- haben viele Beiträge von namhaften Land, sondern auch starkes Mitgefühl ative und durch die Aktivitäten einer Kennern deutsch-indischer Beziehung und daraus entstehende Motivation Vielzahl ihrer Vereine und Organisa- gesammelt und hier abgedruckt. Einen unter den Deutschen, Menschen in tionen großartige Arbeit geleistet um Beitrag von Prof. Hans-Jürgen Findeis Indien zu helfen, ihre Lebenssituation ein ausgewogenes Bild von Indien hier über die Beziehung zwischen den zu verbessern. entstehen lassen. Kirchen Deutschlands und Indiens In den 1960er und 1970er Jahren Das Wesentliche kam aber mit Indiens konnten wir jedoch aus verschiedenen kamen viele Inder und Inderinnen schnellem Aufstieg als IT-Weltmacht Gründen in diesem Heft nicht unter- nach Deutschland als Studenten und und Schwellenland mit einer Wachs- bringen, aber wir werden ihn auf jeden als Krankenpflegeschülerinnen. Viele tumsrate von 8-10%. Mit einem we- Fall in der nächsten Ausgabe abdru- der Studenten heirateten deutsche sentlich besseren Lebensstandard, der cken. Ehepartner und entschieden sich, sichtbar wird in erhöhter Lebenser- Ich hoffe, dass die Lektüre der Beiträ- nach dem Studium in Deutschland zu wartung und besseren Bildungschan- ge den Lesern Freude macht. bleiben. Auch die Krankenschwestern, cen sowie bei Armutsminderung und deren Zahl Ende der 1970er Jahre Reduzierung der Zahl der Analphabe- Herzlichst Ihr auf ca. 5000 stieg, entschieden sich, in ten, konnte Indien von sich behaupten, JOSE PUNNAMPARAMBIL Deutschland zu bleiben, und grün- auf einem guten Weg zu einem Wohl- deten hier Familien mit Männern, die fahrtstaat zu sein. sie in Indien heirateten und hierher Durch alle diese Faktoren ist die Meine Welt holten. Hierdurch kamen die norma- Wahrnehmung Indiens in Deutschland Die Zeitschrift „Meine Welt” er scheint drei Mal len deutschen Bürger zu engen Kon- heute eine ganz andere, als dies in den im Jahr. Eine Spen de von mindestens 13,00 takten mit Durchschnittsindern, die 50er oder 60er Jahre gewesen ist. Die Euro wird von den Lesern erwartet. Alle Rechte aus verschiedenen Regionen Indiens heiligen Kühe und die Schlangenbe- bleiben dem Herausgeber vorbehal ten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte über- stammten. schwörer sowie die Mitgiftmorde sind nimmt die Redakti on keine Haftung. Die in den Auf der anderen Seite bekamen viel aus dem deutschen Indienbild fast Beiträgen vertretenen An sichten decken sich mehr deutsche Bürger wegen der stei- verschwunden. Heute ist Indien eine nicht immer mit der Auffassung der Redaktion. genden Einkommens die Möglichkeit, aufsteigende Wirtschaftsmacht, und Die Redaktion behält sich redaktionelle Ände- nach Indien zu reisen und mit einfa- entsprechend ist man in Deutschland rungen vor. Alle Zuschriften sind an die Redak- cher, normaler Bevölkerung in Kon- bereit, mit Indern eine Beziehung auf tion zu richten. takt zu kommen. Auch die kirchlichen Augenhöhe aufzubauen und zu pfle- meine welt 2/2012 3 I 60 JahRe DeUt Sch-InDISche BeZIehUnGen I „indien bleibt ein Heimwehland“ Über deutsch-indische Kulturbeziehungen DR. GEORG LECHNER Wenn man über die Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Indien in der „Stärker als der wachsende ökonomische nachkriegszeit spricht, rückt der name von Dr. Georg lechner automatisch auf Wohlstand, stärker als der langsam sich die erste Stelle. er war ein leidenschaftlicher Förderer und Interpret der indischen wandelnde Status von zuvor unterdrück- Kultur in aller ihrer Vielfalt. Während seiner 20-jährigen tätigkeit als leiter der ten gesellschaftlichen Schichten und sogar Goethe Institute in Kalkutta, neu Delhi und Bombay machte er mehrere Kurz- stärker als die anhaltende Bedeutung des Dokumentarfilme und veröffentlichte zahlreiche Bücher über indische Kunst und religiösen Glaubens sind es die Familie und Kultur. er setzte sich besonders für den deutsch-indischen Kulturaustausch ein, u.a. die Rolle, die Familienverpflichtungen im als Initiator des „east-West encounters“(1982-1987). er war viele Jahre vor seiner Leben eines Inders spielen, der die indische Pensionierung im Jahr 1996 leiter der Kulturprogramme des Goethe Instituts in Gesellschaft zusammenhält“. München. nachdem er in den Ruhestand getreten war, wurde er Vorsitzender des Trotzdem sollen im Folgenden kurz der Indien Instituts München für mehrere Jahre. Für MeIne Welt schreibt er regelmä- äußere Rahmen und seine Eckdaten auf- ßig Rezensionen, insbesondere über neuerscheinungen aus der indischen Gegen- geführt werden, die den institutionellen wartsliteratur. nachfolgend drucken wir seinen Beitrag über die entwicklung der Hintergrund für die indisch-deutschen deutsch-indischen Kulturbeziehungen in den letzten 60 Jahren. Kulturbeziehungen in den letzten Jahr- zehnten bildeten und ihnen Halt und DIE REDAKTION Festigkeit gaben. Pünktlich zum Republic Day erschien dern auch die Fähigkeit einen Gast zu Januar 1951 Indien erkennt die Bundes- in der SZ zum sechzigjährigen Bestehen empfangen, die Messe dienen, wissen, in republik als erstes Land nach den der Republik Indien ein Leitartikel mit welcher Kleidung man eine Kirche betritt, Westmächten diplomatisch an dem Titel „Danke, Indien“. Er beginnt so: mit Angehörigen anderer Klassen oder Januar 1956 Gründung der deutsch-indi- „Was sind schon sechzig Jahre in einem so Nationen umzugehen, ein altes Lied singen schen Handelskammer, der größten uralten Land wie Indien? Eigentlich nur zu können, eine Frau so anzusprechen, seiner Art weltweit ein Klacks, ein Atemzug der Geschich- dass es ihr angenehm ist, auch wenn sie Juli 1957 Eröffnung des ersten Max Müller te. Indien war schon groß und reich, als darauf nicht eingehen möchte, ein Fest Bhavan in Neu Delhi sie anderswo noch auf den Bärenfellen feiern, einem Toten die Augen zudrücken. Juli 1959 Gründung des Indian Institute lagen. Und doch sind die letzten sechzig Ein Zeichen von Kulturvölkern ist mit of Technology Chennai, dem größten Jahre bedeutsam, denn sie markieren nach Sicherheit, wenn sehr viele Leute Musik deutschen Entwicklungsprojekt auf der langen kolonialen Knechtschaft die und Gedichte machen können, die keine dem Gebiet der Technologie Existenz Indiens als freier und souveräner Musiker und Dichter sind. Das Wichtigs- Sept. 1960 Eröffnung des ersten DAAD Staat.“ Und er schließt mit dem Hinweis te für die Erfüllung Kulturvolk ist aber, Büros Asiens in Neu Delhi auf die autoritären Regimes der Nach- dass alle diese Fähigkeiten und Verhal- März 1969 Unterzeichnung eines bilatera- barn Pakistan, Bangladesh und China, die tensweisen nicht individuellem Charme len Kulturabkommens zwischen Indien nicht den Mut haben, sich den Wählern zu und Geschmack oder glücklichen Erzie- und Deutschland stellen, und der Ausübung von Demokra- hungsumständen zu verdanken sein dürfen, März 1974 Unterzeichnung eines bilatera- tie in Indien: „ Für die Nachbarn ist das sondern selbstverständlicher Allgemein- len Abkommens für wissenschaftliche unangenehm, für die freie Welt ist es ein besitz sein müssen, mit der Muttermilch und technische Zusammenarbeit zwi- Grund zur Dankbarkeit. Danke Indien.“ aufgesogen, möglichst vielen zu eigen. Der schen Indien und Deutschland Vergleich mit Indien liegt nahe und ist Oktober 1986 Indien ist Gastland der Was heißt es eigentlich, wenn ein Land von aufschlussreich. Sudhir Kakar beschreibt in Frankfurter Buchmesse sich behauptet, dass es eine Kulturnation seinem neuen Buch „ Die Inder - Portrait Sept. 1991 Eröffnung der Indischen Fest- oder ein Kulturvolk sei? Martin Mosebach einer Gesellschaft“ die auffallend große spiele in Deutschland erläuterte kürzlich für den europäischen Rolle, die in den Kindheitserinnerungen Sept. 1991 Einrichtung der Deutsch-Indi- Kulturraum, dass kulturelle Fähigkeiten der meisten Inder Onkel, Tanten, Vettern schen Beratergruppe (Indo-German im weiten Sinn nicht nur die Beiträge der und Kusinen – von den Großeltern gar Consultative Group, IGCC) sogenannten Hochkultur betreffen, son- nicht zu reden – spielen. Er schreibt weiter: Februar 1994 Eröffnung des indischen Kul- 4 meine welt 2/2012 I 60 JahRe DeUt Sch-InDISche BeZIehUnGen I turzentrums (Tagore Centre) in Berlin Die Fülle dieser institutionellen Kultur- ten und das „Indien-Institut“ in Bayern Februar 1997 Deutsche und indische Uni- beziehungen ist nur vor dem Hintergrund den Kulturdialog mit Indien fördert. Die versitäten unterzeichnen ein Abkom- des traditionell engen Austauschs zwischen Zweiggesellschaften bieten dabei neben men über die gegenseitige Anerken- den beiden Ländern, der von Walter Leifer den sog. Ringveranstaltungen neuerdings nung von Postgraduierten-Diplomen in seinem Buch „Indien und Deutschland auch verstärkt soziale Projektarbeit an, August 1997 Eröffnung der Ausstellung „ – 500 Jahre Begegnung und Partnerschaft“ während das Indien-Institut München die Schätze indischer Kunst aus Deutsch- vorbildlich dargestellt wurde, verständlich. akademische oder auch gesellschaftskriti- land“ in Neu Delhi Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts hat sche Auseinandersetzung zu ausgewählten Dez. 2000 Eröffnung der Deutschen Fest- insbesondere die deutsche Indologie mit Themen der indischen Vergangenheit und spiele in Indien 2000-2001 Namen wie Friedrich Schlegel, Wilhelm Gegenwart pflegt. Als Beispiele für soziale Juli 2003 Die „Deutsch-Indische Gesell- von Humboldt, Franz Bopp, Hermann Projekte seien beispielsweise die Projekte schaft“ feiert ihr 50-jähriges Bestehen Brockhaus, Hermann Gundert, Helmuth der Zweiggesellschaft Aachen genannt, wie Okt. 2004 Das „Indien-Institut München“ von Glasenapp, Friedrich Max Müller, Mo- die „Augenklinik Indore“, „Krankenhaus feiert sein 75-jähriges Bestehen riz Winternitz, Herrmann Götz, Heinrich Kondolia“, „Pasam Trust“, „Shanti Lepra- Okt. 2006 Indien ist zum 2. Mal Gastland Zimmer unter vielen anderen diese Be- hilfe Dortmund e.V.“ oder das Gemein- der Frankfurter Buchmesse ziehungen nachhaltig unterstützt. So ist schaftsprojekt FERRY (Foundation for 2011 Gedenkjahr Rabindranath Tagore es auch zu verstehen, dass neben dem in- Economic Rehabilitation of Rural Youth) (1861-1941) zwischen reichhaltigen und regelmäßigen der Zweiggesellschaften Aachen, Bochum, 2011 60 Jahre deutsch-indische diploma- Programmangebot des Tagore Centre der Hannover, Lübeck, Nürnberg, Remscheid tische Beziehungen indischen Botschaft ein deutschlandweites und Wuppertal. Leider gibt es ein ähn- 2011-2013 Deutschlandjahr in Indien und Netzwerk der Deutsch-Indischen Gesell- liches dichtes Programmnetzwerk der Indienjahr in Deutschland schaft von z.Zt. über 30 Zweiggesellschaf- Indo-German Societies in Indien nicht. indiens neuer weg sie müssen anerkennen, dass in China der Auf dem Weg zur sozialen Demokratie will Sozialinvestitionen ermöglicht, die Wir- Landbesitz gerechter verteilt, die Analpha- Indien weder dem „Washington Consensus” kung zeigen. Indische Politiker sind stolz betenzahl geringer, die medizinische Ver- noch dem „Beijing Consensus” folgen. Es di- auf die Erfolgsgeschichte ihres Landes. Sie sorgung der Bevölkerung besser und die stanziert sich vom Neoliberalismus und sei- betonen, dass sich dieser Erfolg einheimi- Armutsbekämpfung erfolgreicher ist. Die nem unbegrenzten Marktvertrauen ebenso schen Ursachen – und nicht der Imitation Herausforderung für Indien besteht darin, wie von einem autoritären System, das die westlicher Vorbilder – verdankt. unter demokratischen Voraussetzungen Freiheit des Marktes mit der Einschränkung Darin spiegelt sich ein Wandel in der Auf- ähnliche Fortschritte zu erzielen. In der von der Menschen- und Bürgerrechte verbin- fassung der Moderne wider, die weltweit Sonia Gandhi initiierten Taskforce „Soziale det. Dabei haben die in Indien traditionell das Verhältnis des Westens zum „Rest” der Demokratie” arbeiten indische und chinesi- starken antikapitalistischen Strömungen Welt verändert hat. „Multiple Modernities” sche Wissenschaftler zusammen. Einig sind längst an Einfluss verloren. Der „Small is heißt das Stichwort: Weltweit haben Ge- sie sich in der Kritik Europas. Für sie hat die beautiful”-Populismus eines Mahatma sellschaften mit ganz unterschiedlichen Finanz- und Schuldenkrise der EU gezeigt, Gandhi gehört heute zur politischen historischen und kulturellen Voraussetzun- dass nach dem Kommunismus auch der Folklore. Es ist Konsens, dass nur durch gen den Weg zur Demokratie, zur Markt- westliche Wohlfahrtsstaat an seine Grenzen wirtschaftliches Wachstum ein größeres wirtschaft und zum Rechtsstaat gefunden. gekommen ist. Als Folge eines verfehlten Maß an politischer Gleichheit und sozialer Es ist bezeichnend, dass ein Inder, der Wirt- europäischen Krisenmanagements be- Anerkennung erreicht werden kann. Das schaftsnobelpreisträger Amartya Sen, den fürchten sie einen zunehmenden Dirigis- gesteigerte Wirtschaftswachstum hat in überzeugendsten Nachweis dafür geliefert mus in der Wirtschaft und eine Rückkehr Indien den Staat gestärkt. Bei schwacher hat, dass die Ursprünge der Demokratie autoritärer Strukturen in der Politik. Dieser Wirtschaftsleistung waren die Staatsein- vielfältig und nicht das Monopol Europas Vorwurf an den Kontinent, der sich rühmt, nahmen so gering, dass Maßnahmen der sind. Zu diesem neuen Selbstbewusstsein Heimat der Demokratie und des Marktes zu öffentlichen Hand zur Verbesserung der gehört es, dass Indien glaubt, seine eigene sein, zeigt, wie sehr der Einfluss Europas in sozialen Lage großer Bevölkerungsschich- Spielart der sozialen Demokratie ausbilden der Welt zu schwinden droht. ten kaum wirksam werden konnten. In den zu können. Zunehmend wird dabei China letzten Jahren hat sich die Situation verän- als Vergleichsmaßstab genommen. Die Auszug aus dem Beitrag „Als Vorbild ausge- dient“ von Wolf Lepenies. Quelle: Welt Online, dert: Eine starke Wirtschaft hat dem Staat Inder sind überzeugte Demokraten, aber 23.8.2012 meine welt 2/2012 5 I 60 JahRe DeUt Sch-InDISche BeZIehUnGen I Lassen Sie mich nun zu den Inhalten der kürzliche Buch „Sänger müssen zweimal liche Traditionen – einen vergleichenden deutsch-indischen Kulturbeziehungen sterben“ von Peter Pannke, der sich jahr- Essay habe ich deshalb „Christus war in dieser Jahre kommen – hier stehen im zehntelang mit dem Dhrupad Gesang und Indien ein Tänzer“ betitelt –, aber auch Sinne der einführenden Bemerkungen der Familie Mallik auseinandergesetzt hat, hier bewegen sich die Tänzer aufeinan- zu den Kulturbeziehungen Namen für ist ein Meilenstein in dieser Richtung. Ein der zu. Damit hatte bereits Uday Shankar Programme. Gern halte ich mich hier an weiterer Protagonist in diesem Bereich, begonnen und noch heute arbeiten Astad die bewährten klassischen Bereiche von der Flötist Ludwig Pesch, hat als Voraus- Deboo und Jayachandran dialogisch und Musik, Tanz, Kunst, Literatur und Philo- setzung eine professionelle Ausbildung in so setzen sich Pina Bausch, Susanne Linke, sophie/Religion. der westlichen und südindischen Musik Sasha Waltz oder Joachim Schlömer heu- erfahren. Auch das sorgfältig über zwei te mit indischem Tanz auseinander. Pina harmonielehre und Raga Jahre vorbereitete Austauschprojekt Bausch und Chandralekha habe ich als Die indische und die westliche Musiktra- „Rasalila“ (Spiel der Gefühle) indischer zwei Beispiele solcher Pionierarbeit mehr- dition gehören zu den größten weltweit, Musiker mit dem „ensemble modern“ am fach öffentlich dokumentiert und gewür- obwohl sie sich in wesentlichen Aspekten Haus der Kulturen der Welt in Berlin ist ein digt. In einem kürzlichen Beitrag „Tanzen unterscheiden. Die westliche Musik kennt richtiger Schritt in die gute Richtung. Der zwischen den Kulturen“ im Indien-Institut als zentrale Kompositionsprinzipien die künstlerische Leiter von „Rasalila“, der München habe ich daran erinnert, dass Harmonielehre und den Kontrapunkt, die Deutsch-Inder Sandeep Bhagwati, sagte im indischen Kunstverständnis und ihrer eine reiche kammermusikalische und or- in einem Interview dazu: „ Die Zukunft Rezeptionsästhetik der Empfänger der chestrale Tradition begründet haben, die der Musik ist eine planetare, die aus keiner künstlerischen Botschaft, der Rasika oder nach J. S. Bach ihren religiösen Bezug Tradition allein kommen kann. Es ist Zeit, Kunstkenner, eine zentrale Rolle spielt. nach und nach verloren hat. Die nord- und dass die Musiken der Welt den Westen Kunst findet nach der Rasatheorie statt, südindische auf dem Raga als zentralem kompositionstechnisch, ökonomisch und wenn Geber und Empfänger auf einer Wel- Kompositionsprinzip basierende Musik, ästhetisch ausplündern, um ebenfalls eine lenlänge liegen. In der medialen Sprache die nicht vertikal, sondern horizontal um starke Stimme in dieser planetaren Poly- des Rundfunks von heute heißt das, dass den Einzelton und seine Tonfolgen kreist, phonie spielen zu können.“ Sein Wort in der Sender auf die genaue Frequenzein- bezieht sich weiterhin auf ihren göttlichen Saraswatis Ohr! stellung des Empfängers angewiesen ist. Ursprung und verzichtet als orale Tradi- Auf dem Gebiet des Tanzes hat sich Indien Einen Millimeter daneben hört man nicht tion auf die Notenschrift – was nicht nur seit Jahrzehnten, vor allem im Bharata- Mozart, sondern nur Rauschen. Vorerst den Guru als didaktischen Mittelpunkt natyam, auf den internationalen Bühnen rauscht es im interkulturellen Zueinander begründet, sondern auch die Stellung von erfolgreich durchgesetzt. In Deutschland noch zu oft. Improvisation und Regelwerk in ständiger treten seit vielen Jahren regelmäßig die kreativer Spannung hält. In Deutschland Spitzen der indischen Tanzszene wie Die Wucht und tiefe der Symbolik traten und treten herausragende Interpre- Chandralekha (neue, traditionsorientierte Lange Zeit war indische zeitgenössische ten auf, von Ravi Shankar, Ali Akbar Khan, Choreographien), Alarmel Valli (Bharata- Kunst auf dem internationalen Kunst- Zakir Hussain und Imrat Khan, den Dagar natyam), Malavika Sarukkai (Bharatana- markt, etwa bei Sotheby’s, nicht präsent Brothers bis zur Mallik Familie, Dr. L. Sub- tyam), Madhavi Mudgal (Odissi), Adithi und eher ein Sammlerobjekt für Insider. ramaniam oder Hariprasad Chaurasia. En- Mangaldas und Uma Sharma (Kathak) Seit über einem Jahrzehnt ist nach der gagierte Musiker beider Traditionen und oder Astad Deboo (moderner Tanz) auf. Teilnahme von Bhupen Kakar an der vor allem ihre Grenzgänger sind seit Jahren Auch hier trennen wie in der Musik we- Documenta nicht nur mehr F.M. Hussain bemüht, Schnittpunkte auszumachen. Das sentliche Unterschiede indische und west- hoch im Kurs, sondern eine lange Reihe anderer Maler und visueller Künstler wie Tyeb Mehta, S.H. Raza, F.N. Souza, K.K. Hebbar, V.S. Gaitonde, Nalini Malani, Gu- lam Mohammed Sheik, J. Swaminathan, Biren De, Ram Kumar, Jatin Das, Sunil Das, Ganesh Pyne, Shilpa Gupta, Subodh Gupta, Vivan Sundaram, Jogen Chowd- hury, Manjit Bawa, Arpana Caur, Satish Gujral, S.G. Vasudev, Anish Kapoor und so viele andere. Mai 1972: Odissi-Tanz- Ob abstrakt oder gegenständlich, mytho- gruppe unter Leitung logische Zitate sind weiterhin, oft nur in- von Guru Keucharan direkt, bestimmend und die Bedeutung Mahapatra im Opernhaus Wuppertal-Barmen und Symbolik der Farben bleibt auffällig. 6 meine welt 2/2012 I 60 JahRe DeUt Sch-InDISche BeZIehUnGen I Trommel und Rhythmen Indien-Festspiele 1991-1992 in ihrer ganzen Breite, Vielfalt und Tiefe. Die Themen reichen von der Bedeutung des Familienstammbaums über das Jus- tizwesen, die Parlamentsarbeit, das Los der Fürstenfamilien, das Eigenleben der Universitäten, das Künstlerdasein, die Familienstrukturen, religiöse Feste, die vielen Fassetten des Berufslebens und des „corporate life“, bis zur Abschaffung der alten Besitzverhältnisse und der Zamin- dars („Abolition Bill”), dem Beamtenle- ben, den revolutionären Bewegungen und den Riten und Sitten des gesellschaftlichen Alltags im Hinblick auf Ehe und Ehebruch. 1500 Seiten einer Gesamtsicht Indiens in Romanform. Erstaunlich ist vor dem Hintergrund ei- Shree, „Nachtregen“ mit indischer Ge- ner überwältigenden Vergangenheit der genwartslyrik und frechen bengalischen erzählerisches Genie bescheidene Beitrag im Bereich der mo- Satiren „Verkehrte Welten“ von Hans Die Kopflastigkeit und der Konstrukti- dernen oder auch zeitgenössischen Skulp- Harder, sondern auch mit Sachbüchern onscharakter eines guten Teils zeitgenös- tur – für mich war Meera Mukherjee hier wie „Unbequeme Wahrheiten“ von Utsa sischer deutscher Literatur könnte sich immer die besondere Ausnahme. Wenn in Patnaik, oder auch mit liebevollen persön- in der Tat an dem erzählerischen Genie der klassischen indischen Kunst nicht das lichen Zeugnissen wie „Mein Tagore“ von indischer Literatur bereichern, wie es ein meisterhafte Detail, sondern die Wucht Alokeranjan Dasgupta, „Mein indischer Passus in Vikram Chandras Roman „Tanz und Tiefe der Symbolik im Vordergrund Atem“ von Elisabeth Günther oder „Mein der Götter“, meinem zweiten Beispiel, be- stand, sucht die zeitgenössische Kunst Lieber Meister“ von Martin Kämpchen schreibt: „Jede Geschichte trägt in sich bei aller beeindruckenden Phantasie und auf sich aufmerksam. Weltweites Echo den Samen zu allen anderen Geschichten. Ausdrucksstärke m.E. weiterhin ihren un- findet inzwischen mit Recht die indische Jede Geschichte, wenn man sie nur lange verwechselbaren heutigen indischen Stil. Literatur englischer Sprache, die auch in genug weiterspinnt, wandelt sich zu allen Wie beim Tanz werden bei internationalen Deutschland von den großen Verlagen anderen Geschichten : Und diejenige, die Diskussionsveranstaltungen oft Fragen wahrgenommen wird. Hier ist natürlich dir dies vorenthielte, wäre keine wirkliche nach dem sozialen und zeitkritischem von den Nachfolgern von Mulk Raj An- Geschichtenerzählerin....und ich stellte mir Engagement oder der gesellschaftlichen and, R.K. Narayan, G.V. Desai die Rede, vor, wie sich die Geschichten wie von selbst Verantwortung oder komplexe Tabus wie von Salman Rushdie, Vikram Seth, Vikram vermehrten, wie sie freudig einer Mutter- das der Nacktheit in der zeitgenössischen Chandra, Amitav Ghosh, Suketu Mehta, geschichte entsprangen, wie sie schon jetzt indischen Kunst laut. Die einfachen Ant- Arvind Adiga, Arundhati Roy, Vikas Swar- vollkommen waren, aber nie vollständig worten sind auch hier nicht die guten. up, Shashi Tharoor, Rohinton Mistry, Nirad wurden, wie sie neue Geschichten geba- C. Chaudhuri, Kiran Nagarkar, die zwar ren, so zahlreich wie die Blätter an den Die Literatur verdient weiterhin unsere bisher ohne den literarischen Nobelpreis Bäumen, wie die Galaxien im Himmel, besondere Aufmerksamkeit. In Deutsch- geblieben sind, jedoch die Weltkarte der Geschichten, die alle miteinander verbun- land bemühen sich marktwirtschaftlich mit englischsprachigen Literatur verändert den sind, die keinen Anfang und kein Ende wechselndem Erfolg, aber in der Sache vor- haben. kennen, und mir schwindelte.“ bildlich, kleinere Verlage wie der ehema- Ich bin versucht, am Beispiel zweier Ro- Eine andere Stelle im gleichen Roman lige Mersch Verlag oder der Lotos Verlag mane, wenn auch in aller Kürze, zentrale spricht exemplarisch von der Unmög- Berlin und vor allem heute der Draupadi Aspekte solcher Literatur zur Sprache lichkeit authentischer Übersetzung indi- Verlag in Heidelberg um die Verbreitung zu bringen. Einmal ist da der epische scher Sprachen ins Englische: „Denn wie literarisch wertvoller Werke der indischen Roman „Eine gute Partie“ von Vikram konnte man auf Englisch sagen: Rosen, Regionalsprachen in deutschen Über- Seth. Besser als jedes Fachlexikon oder zum Scheitern verurteilte Liebe, keusche setzungen. Der Draupadi Verlag machte jeder Enzyklopädiebeitrag bietet diese Leidenschaft, mein Vater, meine Mutter, nicht nur mit Titeln wie „Dr. Wakankar“ Erzählung ein lebendiges Panorama der ihre nie ausgesprochene Liebe, Stolz, Ehre, von Uday Prakash, „Mai“ von Gitanjali indischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts wofür ein Mann leben kann und eine Frau meine welt 2/2012 7 I 60 JahRe DeUt Sch-InDISche BeZIehUnGen I sterben sollte; kann man auf Englisch sa- Minar, der sich langsam über den weißen die digitalen Medien seine Hoffnung setzt, gen: das ferne langsame Läuten der Kühe Marmor stiehlt, die geduldige Güte der ist bisher wenig hilfreich. Die Hoffnung, bei Sonnenuntergang, die grüne Schwere Menschen, die man am Wegesrand trifft, unter dem wacklig gewordenen Pflaster der Bäume nach dem Monsun, der Staub das einen warm umhüllende Vertrauen zu der Nationalstaaten liege der Strand ei- vom Worfeln des Getreides und die Lieder Tanten, Onkeln und Vettern, die Feuer ner goldenen Zivilgesellschaft, erscheint der Frauen, der elegante Schatten eines des Winters und frische Chappatis? Im schlicht naiv. In der gegenwärtigen Ver- Englischen bleibt all dies, die wahre Ge- brauchergesellschaft kommt man China stalt und Form des Herzens einer ganzen durch die taiwanische Küche oder Indien Nation, ungesagt und unsagbar.“ durch Yogaübungen nicht näher. Immer Über Kultur in Indien zu sprechen, ohne mehr Menschen assimilieren konfektio- der Philosophie, Religion und Mythologie nierte Versatzstücke fremder Kulturen, die – ungleich dem Westen fragmentiert Indien sie dem globalen Markt entnehmen. Doch diese Bereiche nicht, sondern sieht sie im während sie sich dem Fremden zu nähern engen Zusammenhang – ihren Raum zu glauben, verpuppen sie sich umso mehr geben, wäre undenkbar. Zweifellos hat im Gehäuse einer verbraucherorientierten die Entdeckung der Quantenmechanik Demokratie, die den Blick nach draußen die ontologischen Begriffe der indischen eher verstellt als öffnet.“ Denker im neuen Licht erscheinen lassen. Im vorläufigen Verständnis bzw. Unver- Die Atman-Brahman Identität, wie sie in ständnis des interkulturellen Dialogs gibt den Veden und Upanishaden gefeiert wird, es für den deutschen Kulturmittler noch die holistische Interpretation der gesamten genug schmerzliche Erfahrungen: Da kosmischen Entwicklung, wie Krishna sie wurde aus dem indischen Mythos „ein Arjuna in der Bhagwad Gita erklärt, die metaphysischer Witz“ (Thomas Mann, Lehre von der räumlich-zeitlichen Welt Die vertauschten Köpfe), aus indischem als Maya oder Illusion und das begriffs- klassischen Tanz „kosmische Pantomime“ schwere Sunya oder die Null-Erfahrung, (Ernst Bloch), aus vedischer Weisheit sie alle verraten den intuitiven Griff nach „Mantrisches Quasseln auf Wiederholung der Wahrheitserfahrung des Ostens. Wenn getrimmt. Sanskrit, der Priestersprache die neue Physik mit ihrer revolutionären Göttergeschwätz“ (Günter Grass, Zunge Quantenmechanik in der Annahme richtig Zeigen), der meditierende Buddha Ablage geht, dass das Universum ein Netz von für das Weinglas bei Partys. Im Neuanfang elektromagnetischen Wellen und Schwin- dieses Dialogs erleben wir aber, so bei gungen ist, muss die konventionell prak- der diesjährigen Documenta, auch offene tizierte Methode von Fragmentation und Grenzen zwischen Kulturen, Raum und Analyse als Erklärungsversuch des Univer- Zeit, Mikrokosmos und Makrokosmos, sums versagen. Hierher gehört die östliche Subjekt und Objekt, Mensch und Tier, Gott Form des Wissens nicht als „Kenntnis“, und Mensch, Geist und Materie, Natur sondern als Vision (drsti), als blitzartige und Kunst. Vielleicht ist das die Vorahnung Einsicht, wie auch im Zen-Buddhismus. einer Weltkultur, deren Inhalte und For- Aber auch hier bleibt ein wesentlicher men, deren neuer Humanismus oder auch Unterschied zwischen Europa und Indien. Gefahren noch ebenso wenig umrissen sind wie es die späteren großen Entdeckungen Vorahnung einer Weltkultur des wissenschaftlich-technischen Zeitalters Selbst dieser Überblick zeigte hoffentlich noch vor 100 Jahren waren. sowohl die Fülle als auch die Komplexität Hermann Hesse, der Autor von Siddharta, der deutsch-indischen Kulturbeziehungen war da auf seinem Weg Indien so nahe innerhalb des Zeitraums einer Generati- gekommen, dass er sagen konnte: „Wer on. Das wünschenswerte, ja notwendige einmal nicht mit den Augen, sondern mit Zueinander der Kulturen bleibt allerdings der Seele in Indien gewesen ist, dem bleibt eine Jahrhundertaufgabe. Eine Glosse in es ein Heimwehland, an welches jedes leise der ZEIT erinnerte vor einigen Jahren Zeichen ihn mahnend erinnert.“ daran: „ Der Diskurs, der sich heute für Damit möchte ich enden – oder begin- Tanz und Musik – die Anliegen kultureller Begegnung an der nen. j Indien-Festspiele in Deutschland 1991-1992 Globalisierungsdebatte orientiert und in 8 meine welt 2/2012 I 60 JahRe DeUt Sch-InDISche BeZIehUnGen I Partner und Konkurrenten zugleich Wichtige Dimensionen deutsch-indischer Beziehungen DR. GEORGE ARICKAL Freunde der deutsch-indischen Ver- aus der kolonialen Unterjochung früher ständigung nehmen das aktuelle als erwartet in Erfüllung. Am 15. August 60-jährige Jubiläum der aufnahme 1947 feierte Indien den ersten Unabhän- diplomatischer Beziehungen zwischen gigkeitstag. Auch Deutschland befand sich Deutschland und Indien als anlass, um damals im Prozess der Neuformierung und zu informieren, zu reflektieren und die Demokratiebildung. Am 23. Mai 1949 trat Kooperation zwischen beiden ländern das Grundgesetz der Bundesrepublik gebührend zu feiern. Dies ist in der tat Deutschland in Kraft. Die indische Ver- eine gute entscheidung, denn die Zahl fassung wurde am 26. Januar 1950 verab- der Menschen – in Indien wie auch in schiedet. Viele von uns haben damit das Deutschland –, die das leben im jewei- Glück, Zeitzeugen dieser Ereignisse zu ligen Partnerland kennen, steigt nur sein und zu bestätigen, dass Indien und im Schneckentempo an. Die folgene Deutschland trotz ihrer langen Geschichte Reflexion über manche Dimensionen und reichen Traditionen relativ junge Na- Dr. George Arickal war lange Jahre Vor- deutsch-indischer Zusammenarbeit tionen und junge Demokratien sind. Nach standsmitglied der Karl-Kübel-Stiftung soll zu einem besseren Verständnis für Kind und Familie, Bensheim. Seitdem ihrer Wiedergeburt suchten beide Länder beitragen. er im Ruhestand ist, lebt er in Indien. ohne Zeitverlust den Weg der gegensei- tigen Verständigung, Vertrauensbildung Während des Zweiten Weltkrieges befand lehnte die Mehrheit der indischen Unab- und Kooperation. Als erster Staat in der sich Indien unter der britischen Kolonial- hängigkeitsbewegung unter der Führung Welt beendete Indien den Kriegszustand herrschaft. Es gab große Debatten darü- von Mahatma Gandhi es dagegen ab, das mit Deutschland. Auch zählt Indien zu den ber, ob die indischen Streitkräfte gemäß Naziregime zu unterstützen. Wenn schon ersten Staaten, die die Bundesrepublik dem Befehl des Kolonialherrn an der kämpfen, dann eher an der Seite Großbri- Deutschland diplomatisch anerkannten. Seite Großbritanniens kämpfen sollten. tanniens, dies war ihr Plädoyer. Indische Mit der Aufnahme diplomatischer Bezie- Eine Fraktion der indischen Unabhän- Soldaten nahmen damit unter Vermeidung hungen vor 60 Jahren begannen Deutsch- gigkeitsbewegung unter der Leitung von direkter Konfrontation untereinander an land und Indien eine neue Ära der Völ- Nethaji Subhas Chandra Bose plädierte für beiden Fronten des Krieges teil – auf der kerverständigung. Schon lange davor gab den Einsatz indischer Streitkräfte an der einen Seite als Verbündeter und auf der es Kooperationen deutscher und indischer Seite der Deutschen. Da Subhas Chandra anderen Seite als Gegner Deutschlands. Bürger in unterschiedlicher Intensität und Bose immer schon skeptisch gegenüber Wie jeder weiß, ging dieser so verhäng- verschiedenen Bereichen. So wurde z.B. den gewaltfreien Methoden des indischen nisvolle Weltkrieg im Jahr 1945 zu Ende. eine für ein unabhängiges Indien konzi- Unabhängigkeitskampfes war, witterte er Kaum auszudenken, was mit der Welt, pierte Nationalfahne zum ersten Mal auf die Chance, Großbritannien gemeinsam mit Indien, geschweige denn mit der indi- deutschem Boden vorgestellt und sogar mit den Alliierten Deutschlands zu besie- schen Unabhängigkeit passiert wäre, wenn feierlich gehisst. Dies geschah vierzig Jahre gen. Eine Niederlage Englands im Krieg Hitler und Mussolini gewonnen hätten. vor der indischen Unabhängigkeit, und würde nach seiner Strategie die Unabhän- Zum Glück bleibt die Antwort auf diese zwar am 22. August 1907 im Rahmen einer gigkeit Indiens besiegeln oder zumindest durchaus interessante Frage der Phanta- internationalen Konferenz von Sozialisten beschleunigen. Er formierte die „Indian sie und Spekulation vorbehalten. Tatsache in Stuttgart. Indien war seit Jahrhunder- National Army”, und diese Soldaten waren ist, dass es anders kam. England zählte ten vor allem für deutsche Philosophen, im Jahr 1943 mit Unterstützung Japans zwar zu den Siegermächten, war aber zu Philologen, Religionswissenschaftler und im Kampfeinsatz, insbesondere im ost- geschwächt, um die Kolonien dauerhaft Romantiker von großem Interesse. Der asiatischen Raum. Mit dem Argument, zu halten. So ging die Sehnsucht der in- Beitrag deutscher Sprachwissenschaftler dass der Zweck die Mittel nicht heiligt, dischen Bevölkerung nach der Befreiung zur Verbreitung von Sanskrit in der Welt meine welt 2/2012 9 I 60 JahRe DeUt Sch-InDISche BeZIehUnGen I ist immens und weit bekannt, ebenso die Kooperationen, könnte man fragen. Di- der Entwicklungszusammenarbeit in den Übermittlung des indischen Gedankenguts plomatie hat die Chance, im Verborgenen 50er Jahren eines der größten Stahlwerke durch deutsche Dichter, Autoren und Phi- zu wirken. Dies ist gleichzeitig aber auch Indiens förderte. Ich selbst hatte zu diesem losophen. Deutsche Missionare haben in ihr Schicksal, denn im Bewusstsein der Zeitpunkt keine Ahnung von Rourkela. Indien u.a. viel zur Bildung beigetragen. Menschen in den jeweiligen Ländern ha- Für mich war es eine Überraschung, dass Sie waren zwar keine offiziell entsandten ben die Diplomaten keinen signifikanten viele in Deutschland von diesem Projekt Diplomaten, doch im wahrsten Sinne des Stellenwert, obwohl sie – wie kürzlich die wussten. Es war damals besonders auffal- Wortes verbindliche und verbindende Bot- Enthüllungen von WikiLeaks offenbar- lend, dass das Thema „Entwicklungshilfe” schafter Deutschlands. ten – die Länderbeziehungen sowohl im für Indien bei vielen Deutschen auf Inter- Die gegenseitige Anerkennung beider positiven wie auch im negativen Sinne esse stieß. Entweder waren sie dafür oder Länder war unabdingbare Grundvoraus- wesentlich prägen können. dagegen - indifferent waren sie bei dieser setzung für die Schaffung von Rahmenbe- Thematik dagegen selten. Der Hunger in dingungen zur Zusammenarbeit vor allem Die Deutschen wissen mehr über Indien wird schon weniger werden, wenn auf staatlicher Ebene. So wurden zwischen Indien die Inder endlich ihre Kühe schlachten, Deutschland und Indien in den letzten Mit an Sicherheit grenzender Wahrschein- meinten viele in früheren Jahren. Sie müs- Jahren Vereinbarungen zur Kooperation lichkeit wird wohl die Vermutung stim- sen das Bevölkerungswachstum kontrollie- auf diversen Gebieten erzielt. Wichtige men, dass die Deutschen über Indien mehr ren und aufhören, sich wie die Kaninchen Bereiche wie Politik, Wirtschaft, Kultur, wissen als die Menschen in Indien über zu vermehren – eine oft von deutschen Wissenschaft, Technologie, Umweltschutz, Deutschland. Als ich vor etwa 50 Jahren Freunden vertretene Ansicht im Hinblick Klimaschutz, erneuerbare Energien und nach Deutschland kam, wollten Freunde auf die Armutsbekämpfung in Indien. Im insbesondere die Entwicklungszusammen- wissen, aus welchem Teil Indiens ich käme. Laufe der Jahre bekam die Debatte um arbeit standen im Zentrum der Gespräche, Kaum hatte ich den Namen des indischen die Entwicklungszusammenarbeit neue Verhandlungen und diverser Abkommen. Bundeslands Kerala ausgesprochen, stell- Dimensionen. Sie wurde unter den En- All dies trug zur weiteren Stärkung und ten sich einige spontan als echte Kenner gagierten und intellektuellen Kreisen im- Ausweitung der Partnerschaft zwischen Indiens heraus. Sie verwechselten dabei mer mehr mit Fragen des Friedens, der beiden Ländern bei. Doch wer in Indien allerdings Kerala mit Rourkela, wo die Gerechtigkeit, der Menschenrechte sowie oder in Deutschland weiß von solchen Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des Ressourcen- und Umweltschutzes ver- Robert Geisendörfer Sonderpreis 2012 für Ashwin Raman Jury zeichnet Reporter und Dokumentarfilmer aus Der Reporter und Dokumentarfilmer nicht um spektakuläre Bilder, sondern um gen stehen im Mittelpunkt seiner mehr als Ashwin Raman erhält den Sonderpreis eindrückliche Nahaufnahmen, nicht um 300 Filme und Filmbeiträge – vorwiegend der Jury des Robert Geisendörfer Preises die Bebilderung geopolitischer Strategien, für die öffentlich-rechtlichen Sender. In 2012. Mit diesem Preis würdigt die Jury sondern um die Menschen im Krieg. Die den vergangenen zehn Jahren kam die unter dem Vorsitz von Landesbischof Ul- Einblicke, die seine Reportagen gewähren, Krisen- und Kriegsberichterstattung dazu. rich Fischer Ramans Reportagetätigkeit die Zusammenhänge, die seine Reiserou- Der Robert Geisendörfer Preis wird seit in den Krisenregionen der Welt – zuletzt ten herstellen, die Fragen, die seine Filme 1983 alljährlich im Gedenken an den in Somalia, Irak und Afghanistan. aufwerfen, beleuchten immer wieder den christlichen Publizisten Robert Geisendör- fatalen Mechanismus von Gewalt und Ge- fer (1910–1976) verliehen. Ausgezeichnet Zur Begründung schreibt die Jury: gengewalt. Es sind im Grunde Filme aus werden Hörfunk- und Fernsehsendungen „Ashwin Raman berichtet seit mehr als dem Krieg über den Frieden.“ aus allen Programmsparten, die das per- 40 Jahren aus den Krisenregionen dieser sönliche und soziale Verantwortungsbe- Welt. Der Reporter indischer Herkunft ist Der 1946 in Mumbai geborene Ashwin wusstsein stärken und zur gegenseitigen ein ‚Einzelkämpfer’, der sich – oft nur mit Raman lernte das journalistische Hand- Achtung der Geschlechter beitragen. Mit einer Videokamera ‚bewaffnet’ – zwischen werk in seiner indischen Heimat. Nach dem Sonderpreis wird darüber hinaus eine den Demarkationslinien bewegt. Raman ist Deutschland kam er zum ersten Mal im exemplarische publizistische oder künst- kein Abenteurer, aber einer, der zur Not Jahr 1972 im Zuge der Olympiade. Unge- lerische Leistung gewürdigt. auch bereit ist, sein Leben zu riskieren, um rechtigkeit, Ausbeutung, Missstände in der REINHARD MAWICK, berichten zu können. Dabei geht es ihm Wirtschaft und Menschenrechtsverletzun- Pressestelle der EKD 10 meine welt 2/2012
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