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6 Songs PDF

27 Pages·0.443 MB·German
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Nick Hornby »THUNDER ROAD« - BRUCE SPRINGSTEEN Ich erinnere mich, wie ich dieses Stück 1975 gehört und geliebt habe; ich erin­ nere mich, dass ich das Stück erst vor ein paar Monaten gehört und noch bei­ nah genauso geliebt habe (ja, ich saß im Auto, wenn auch höchstwahrschein­ lich nicht am Steuer, und ganz gewiss fuhr ich nicht auf einer Autobahn, einem Highway oder einem Freeway, und der Wind zerzauste auch nicht mein Haar, da ich weder ein Cabrio noch Haare mein eigen nenne. Es ist nicht diese Sorte Springsteen.) Das heißt, ich liebe diesen Song seit mittlerweile einem Viertel­ jahrhundert, und ich habe ihn häufiger gehört als jeden anderen, abgesehen möglicherweise von . . . Wem will ich was vormachen? Da kommt keiner ran. Verstehen Sie, hier wollte ich das Ganze etwas abfedern, irgendwas Schwarzes und/oder Cooles einschieben (vielleicht »Let's Get It On«, ein Stück, das ich für die beste Popsingle aller Zeiten halte und das es leicht auf die Liste mei­ ner zwanzig meistgespielten Platten schaffen würde, aber nicht auf Platz zwei, sondern ganz weit hinten. Platz zwei - und ich gebe mir hier Mühe, ehrlich zu bleiben - wäre wahrscheinlich so was wie »White Man in the Hammersmith Palais« von Clash. Wenn ich »Thunder Road« sagen wir 1500-mal aufgelegt habe (etwas mehr als einmal pro Woche in fünfundzwanzig Jahren, das kommt ungefähr hin, wenn man das Mehrfachhören in den ersten Jahren berücksich- 4 tigt), käme »White Man ...« auf etwa 500-mal. Mit anderen Worten, »Thunder Road« liegt uneinholbar vorn. Mir kommt es selbst seltsam vor, dass »Thunder Road« überlebt hat, während andere, wohl bessere Songs - »Maggie May«, »Hey Jude«, »God Save The Queen«, »Stir It Up«, »So Tired of Being Alone«, »You're a Big Girl Now« - mit zunehmendem Alter mehr und mehr an Reiz verloren. Nicht, dass ich die Män­ gel übersehen würde; »Thunder Road« ist überfrachtet, sowohl vom Text her (wie Prefab Sprout schon angemerkt hat, gibt es mehr als Mädchen und Autos, und das Wort »Erlösung« sollte man sicherlich wie die Pest meiden, wenn man Stücke über Erlösung schreibt) wie musikalisch - immerhin, Jim Steinman und Meatloaf haben auf diese vier Dreiviertelminuten eine ganze Karriere aufgebaut. Dazu ist es so humorlos, wie Springsteen selbst es gerade nicht ist, und wenn die romantische Untergangsstimmung 1975 noch nicht gänzlich abgeschmackt war, so ist sie es heute jedenfalls. Doch manchmal, wenn auch nicht sehr häufig, bringen Songs, Bücher, Filme und Bilder perfekt auf den Punkt, wer man ist. Das muss nicht notwendiger­ weise in Worten oder Bildern geschehen; die Verbindung ist viel weniger direkt und viel komplizierter. Als ich anfing, ernsthaft zu schreiben, las ich Anne Ty- lers Dinner im Heimweh-Restaurant, und plötzlich wusste ich, wer ich war und was ich werden wollte, egal, was kommen würde. Der Vorgang ist so ähnlich wie sich zu verlieben. Man sucht sich da nicht unbedingt den besten, klügsten oder schönsten Menschen aus, das geht anders vonstatten. Ein Teil von mir wäre lieber von Updike, Kerouac oder Delillo angetan gewesen - zumindest von einem Mann, einer etwas dunkleren Gestalt, ganz sicher von jemandem, der sich etwas derber ausdrückt - und obschon ich diese Autoren in verschie­ denen Lebensabschnitten bewundert habe, ist Bewunderung doch etwas ganz anderes als die Art von Übertragung, von der ich hier rede. Ich rede davon, jede künstlerische Entscheidung, jeden Impuls, die Seele des Werks und die des Au­ 6 tors zu verstehen - zumindest das subjektive Gefühl zu haben, sie zu verstehen. »Das bin ich«, wollte ich sagen, als ich Tylers reichen, traurigen, bezaubernden Roman las. »Ich bin keine der Romanfiguren, ich bin nicht wie die Autorin, ich habe nicht die Erfahrungen gemacht, über die sie schreibt. Aber trotzdem emp­ finde ich genau so in meinem Innersten. So möchte ich klingen, wenn ich jemals meine Stimme finde.« Diese Stimme fand ich irgendwann, und es war meine, nicht ihre, aber nichtsdestotrotz war die Identifikation so stark, dass ich noch immer nicht das Gefühl habe, mich so gut, so umfassend mitgeteilt zu haben, wie es Tyler für mich getan hat. Also gelingt es »Thunder Road« irgendwie, für mich zu sprechen, obwohl ich kein Amerikaner und nicht mehr jung bin, Autos hasse und nachvollziehen kann, warum so viele Leute Springsteen bombastisch und theatralisch finden (aber nicht, dass man ihn machohaft, hurrapatriotisch oder blöd findet - solche igno­ ranten Urteile haben Springsteen über weite Strecken seiner Karriere begleitet und werden von Neunmalklugen gefällt, die viel blöder sind, als er es je war). Das Siegt - so peinlich es klingt - zum Teil daran, dass sich viele Springsteen­ Stücke aus dieser Zeit darum drehen, wie man berühmt wird oder mit seiner Kunst zumindest eine gewisse öffentliche Anerkennung findet: Was sonst soll die letzte Zeile des Stücks »l'm Pulling Out of Here to Win« bedeuten, wenn nicht, dass er bereits gewonnen hat - weil er diesen Song Abend für Abend vor einer stetig wachsenden Anzahl von Menschen spielt? (Und was sollen wir anderes daraus schließen, wenn er in »Rosalita« mit rührender, komischer und unschuldig diebischer Freude singt: »Cos the record Company, Rosie, gave me a big advance«, als dass ihm die Schallplattenfirma gerade einen dicken Vor­ schuss gegeben hat?) Dieser Traum vom Ruhm ist niemals unangenehm oder aufdringlich, denn ihm liegt ein rastloses, unkontrollierbares künstlerisches Be­ dürfnis zugrunde - er weiß, dass er Talent zuhauf hat, und er will uns scheinbar sagen, dass die angemessene Belohnung für dieses Talent im nötigen Kleingeld liegt, um etwas daraus zu machen -, als habe er kein Interesse am Ruhm an 8 sich. Im Fernsehen eine Quizshow zu moderieren oder ein Attentat auf einen Präsidenten zu verüben würde dieses Bedürfnis keinesfalls befriedigen. Und wenn man davon träumt, Schriftsteller zu werden (lassen Sie sich nur ja nichts anderes einreden), gehören zu diesen Träumen natürlich auch ver­ schwommene, unwürdige Visionen von Ruhm; »Thunder Road« war meine Antwort auf jedes Ablehnungsschreiben, das ich erhielt, auf jeden Zweifel, den Freunde oder Verwandte äußerten. Die lebten in Städten für Verlierer, sagte ich mir immer, während ich genau wie Bruce ausscherte auf die Gewinnerstraße. (Die Städte waren, nebenbei gesagt, Cambridge, wo es von Verlierertypen wie Ärzten, Rechtsanwälten und Akademikern wimmelt, und London, wo es von er­ folgreichen Verlierertypen aller Art wimmelt, aber na schön. Das war das Mate­ rial, mit dem ich arbeiten musste, also arbeitete ich damit.) Da die Zeit verstrich, ohne dass es Anzeichen dafür gab, dass ich irgendwohin qjjsscherte, um dort irgendwas zu erreichen, schon gar nicht in dem Tempo, das der Song vorgab, half es mir sehr, dass »Thunder Road« das Älterwerden ansprach und mich dadurch mit dem Mangel an Vorwärtsbewegung aussöhn­ te. »So you're scared and you're thinking that maybe we ain't that young any more«, sang Bruce, und das hörte ich gern, auch noch, als mir schon erste Zweifel gekommen waren, ob die Nacht überhaupt eine Magie hatte: Ich hatte schon sehr, sehr lange, jahrzehntelang das Gefühl, dass ich nicht mehr ganz jung sei, und noch heute interpretiere ich die Zeile als wehmütige Betrachtung der mittleren Lebensjahre, nicht als die schneidende Furcht, die einen in der späten Jugend packt. Es half auch, dass ich irgendwann gegen Mitte bis Ende der Siebziger eine andere Version des Stücks entdeckte, eine Studioaufnahme von Springsteen allein mit akustischer Gitarre (sie ist auf War And Roses, dem Bootleg mit Born to Run-Out­ takes); er erschafft »Thunder Road« neu als selbstquälerische, erschöpfte FJymne auf die Vergangenheit, eine verlorene Liebe, verpasste Gelegenheiten, Selbsttäu­ 10 schung, Pech und Versagen, und auch das passte mir in den Kram. Es ist sogar die akustische Version, die mir zuerst in den Kopf kommt, wenn ich versucne, mir die letzte Zeile zu vergegenwärtigen. Sie ist langsam und klagend und absolut überzeugend: Ein Künstler, der einen vom Wahrheitsgehalt dessen, was er singt, mit jeder Version überzeugen kann, hat als Künstler verdammt viel geleistet. Es gibt noch andere Bootleg-Versionen, die ich oft auflege und liebe. Das Gran­ diose an dem Stück, wie es auf Born to Run erscheint, ist unter anderem, dass die ersten paar Takte auf einer keuchenden Mundharmonika und einem schon schmerzhaft schönen Klavier klingen, als bezögen sie sich auf etwas, das ge­ schehen ist, noch bevor die Platte anfängt, etwas Folgenschweres und Trauriges, das jedoch nicht alle Hoffnung zunichte macht, denn »Thunder Road« ist die erste Nummer auf der ersten Seite von Born to Run - das Album beginnt prak­ tisch mit seinem eigenen Abspann. Bei den Auftritten während der Darkness on the Edge of Town-Tour Ende der Siebziger maximierte Springsteen diesen Effekt, indem er aus »Racing in the Streets«, einem seiner düstersten, verzweifeltesten Songs, nahtlos in »Thunder Road« überleitete, und die Mundharmonika, die die­ se Verwandlung von einem Song in einen anderen markiert, erscheint als plötz­ licher, glorreicher Frühlingsbote nach einem langen, kräftezehrenden Winter. Auf den Bootlegs von diesen Auftritten in den Siebzigern kann »Thunder Road« endlich die Erlösung bringen, die ihm auf Born to Run verwehrt wurde. Vielleicht ist der Grund dafür, dass »Thunder Road« mir erhalten geblieben ist, der, dass der Song trotz seiner Energie, seiner Lautstärke, dem schnellen Auto und der Haare elegisch klingt, und je älter ich werde, desto deutlicher höre ich das. Im Grunde glaube ich wohl auch, dass das Leben folgenschwer und traurig, aber dennoch nicht bar aller Hoffnung ist, und ob mich das zu einem depres­ siven Menschen, der ständig dramatisieren muss, oder zu einem glücklichen Idioten macht - »Thunder Road« weiß, was ich fühle und wer ich bin, und das ist letztendlich eine der tröstlichen Eigenschaften von Kunst. 12 Postskriptum. Seit ein paar Jahren verkaufen sich meine Bücher in großen Mengen, zuerst nur in Großbritannien, später dann auch in anderen Ländern, und ich stellte zu meiner immensen Verblüffung fest, dass ich irgendwie Teil des literarischen und kulturellen Mainstreams geworden war. Mit so etwas hatte ich nicht ge­ rechnet, darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Obwohl ich keinen Grund sehe, warum sich jemand von meiner Arbeit ausgeschlossen fühlen könnte - schließlich ist sie ja nicht schwierig oder experimentell -, erscheinen mir meine Bücher dennoch nebensächlich. Aber es kamen schlagartig von allen möglichen Menschen, Menschen, die ich weder kannte noch mochte oder schätzte, Mei­ nungsäußerungen über mich und meine Arbeit, die scheinbar über Nacht von »erfrischend und originell« in »klischeehaft und alles schon mal da gewesen« umgeschlagen waren, ohne dass sich ein Wort geändert hatte. Und mir zeigte man dieses grässliche Spiegelbild meiner selbst und meiner Arbeit, ein Bild aus dem Kirmes-Spiegelkabinett, total verzogen und verzerrt - ich und doch nicht ich. Nicht, dass man mir besonders übel mitgespielt hätte, anderen (und einige davon kenne ich persönlich) ist bestimmt wesentlich Schlimmeres widerfahren. Dennoch, unter solchen Umständen wird es mehr als schwierig, seiner Vorstel­ lung von dem, was man machen möchte, treu zu bleiben. Genau das gelingt Springsteen irgendwie, er folgt unbeirrt seinem Weg. Er wird noch immer verspottet (vor etwa einem Jahr las ich in der Zeitung einen Artikel, in dem Tony Blair wegen seiner Liebe zu Bruce attackiert wurde, die als ein Beleg für das unverbesserliche Banausentum des Premierministers ge­ wertet wurde), und manche können nur dieses Zerrbild von Springsteen sehen. Innerhalb weniger Monate sah man in ihm nicht mehr die Zukunft des Rock ’n' Roll, sondern einen leicht verfetteten, Fahnen schwingenden, patriotisch-ver- blödeten Stadionrocker, aber selbst in diesem Fall hatte sich außer dem Grad seiner Popularität nicht viel geändert. Sei es, wie es sei, die Unbeirrbarkeit, mit der er den Anschlag auf sein Selbstwertgefühl weggesteckt hat, erscheint mir 14 exemplarisch; manchmai fällt es einem schwer, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass das, was man macht, nicht schon deshalb, weil es viele Menschen mögen, zwangsläufig wertlos sein muss. Bisweilen könnte es sogar ein Indiz dafür sein, dass es gerade umgekehrt ist. 16 »I'M LIKE A BIRD« - NELLY FURTADO Oh, natürlich kann ich Menschen verstehen, die Popmusik verachten. Ich weiß, dass sie oft, beinahe immer, billig, einfallslos, schlecht geschrieben, aalglatt produziert, hirnverbrannt, repetitiv und pubertär ist (obwohl man mindestens vier dieser Adjektive anführen könnte, um die unablässige Mäkelei an Pop zu beschreiben, die man immer noch im Feuilleton findet); Sie dürfen mir glauben, ich weiß auch, dass Cole Porter »besser« als Madonna oder Travis ist, dass die meisten Popsongs zynisch auf eine Zielgruppe zugeschnitten sind, die Jahrzehn­ te jünger ist als ich, dass das goldene Zeitalter auf jeden Fall fünfunddreißig Jahre zurückliegt und seit damals kaum irgendwas von Wert entstanden ist. Doch da gibt es eben diesen Song, den ich im Radio gehört habe, den ich mir auf CD kauf­ te und den ich mir jetzt zehn oder fünfzehn Mal am Tag anhören muss. Das ist es, was mir an den Leuten unbegreiflich ist, denen heutige Popmusik (und wenn ich dieses Wort benutze, beziehe ich Soul, Reggae, Country und Rock mit ein - eben alles, was man als Schund bezeichnen könnte) zu hoch ist, zu tief ist, zu weit geht - irgendein Verhältniswort, das Distanz bezeichnet, jedenfalls: Soll das heißen, dass Sie nie neue Songs hören oder sie Ihnen, wenn doch, nicht gefallen, und dass alles, was Sie pfeifen oder mitsummen vor Jahren, 18 Jahrzehnten, Jahrhunderten geschrieben wurde? Versagen Sie sich tatsächlich das Vergnügen, eine Melodie zu meistern (ein Vergnügen übrigens, das sich ihre Generation als vielleicht erste in der Geschichte der Menschheit entgehen lässt), weil Sie Angst haben, als jemand dazustehen, der nicht weiß, wer Harold Bloom ist? Wow. Ich wette, Sie sind eine Stimmungskanone. Das Lied, das mich in letzter Zeit in wohltuenden Schwachsinn versetzt hat, heißt »l'm Like a Bird« von Nelly Furtado. Nur die Geschichte kann darüber richten, ob Ms Furtado sich als so was wie eine Künstlerin erweist, und abgese­ hen von meinem Verdacht, dass sie unser Weltbild nicht verändern wird, kann ich nicht sagen, dass ich viel darüber nachdenke: Ich werde ihr immer dankbar dafür sein, dass sie in mir die Sucht geweckt hat, ihr Stück immer wieder zu hören. Es ist eine harmlose und leicht zu befriedigende Sucht, und davon gibt es wenige genug auf der Welt. Ich möchte nicht einmal eine Lanze für diesen Song und/oder gegen alle anderen brechen - obwohl ich ihn für einen sehr gu­ ten Popsong halte, von einer verträumten Schläfrigkeit und einem leicht lädier­ ten Optimismus, der ihn gleich von seinen anämischen und unterentwickelten Kollegen abhebt. Es geht darum, dass der Song, zumindest für uns, noch vor wenigen Monaten nicht existierte, und nun ist er hier, und das an sich ist schon ein kleines Wunder. Dave Eggers vertritt die Theorie, dass Menschen wie wir, die sich Songs wieder und wieder anhören, das tun, weil sie sie »knacken« müssen, und es stimmt, dass es am Anfang unserer Bekanntschaft, in der wir einen Song noch umwer­ ben, eine Phase gibt, die einer gewissen emotionalen Verwirrung ähnelt. In »l'm Like a Bird« beispielsweise gibt es eine kurze Stelle, ungefähr in der Mitte, an der sie mit sich selbst im Duett singt, und die Wirkung - besonders auf jeman­ den, der kein Musiker ist, sondern Musik liebt und wertschätzt und durch die simpelsten Aufnahmetricks zu verblüffen und zu bezaubern ist - ist köstlich und frisch und macht süchtig. 20 Sicher, bald genug wird der Song fadenscheinig und abgestanden wirken. Bald werde ich »l'm Like a Bird« »geknackt« haben und nicht mehr oft hören wollen - ein dreiminütiger Popsong kann seine Geheimnisse nicht ewig bewahren. Ja, ein Popsong ist tatsächlich ein Wegwerfprodukt - als würde das irgendwen in seiner Ansicht über den Wert von Popmusik beeinflussen. Aber müssten wir dann nicht auch die Mondscheinsonate langsam satt haben? Oder »Christina's World«? Oder »Ernst sein ist alles«? Sie sind leerl Alle-alle! Von uns bis auf den letzten Tropfen ausgelutscht! So was regt mich auf: Dieselben Leute, die hoch­ näsig über den Wegwerfcharakter von Pop reden, sehen sich immer wieder an, wie Lady Bracknel! mit komischer Stimme »Eine Handtasche7« sagt. Und sie finden nicht, der Witz hätte sich langsam erschöpft. Vielleicht ist der Wegwerf­ charakter von Popmusik ein Zeichen für ihre Reife, für das Wissen um die eige­ ne Begrenztheit, und nicht umgekehrt. Davon abgesehen - ich saß neulich im Wartezimmer eines Arztes, und vier kleine karibische Mädchen, die geduldig darauf warteten, dass ihre Mutter aus dem Sprechzimmer kam, stimmten ur­ plötzlich Nelly Furtados Lied an. Sie kannten den Text in- und auswendig, be­ herrschten ein paar Tanzschritte und sangen mit großer Lust und Ausgelassen­ heit. Ich fand es schön, dass wir für einen Moment etwas gemeinsam hatten, ich hatte das Gefühl, als lebten wir alle in einer gemeinsamen Welt, und das kommt nicht oft vor. Ab und zu nehme ich mir eine Kassette fürs Auto auf, ein Tape mit den gan­ zen neuen Stücken, die mir in den vorangegangenen Monaten gefallen haben, und jedes Mal, wenn ich sie fertig habe, kann ich mir kaum vorstellen, dass noch eine weitere dazukommt. Aber es kommt immer eine dazu, und ich kann die nächste kaum abwarten; noch ein paar hundert mehr von der Sorte, und das Leben ist lebenswert. 22

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