Everhard Holtmann . Helmut Voelzkow (Hrsg.) Zwischen Wettbewerbs- und Verhandlungsdemokratie Everhard Holtmann Helmut Voelzkow (Hrsg.) Zwischen Wettbewerbs und Verhandlungs de010kratie Analysen zum Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich 1. Auflage August 2000 Alle Rechte vorbehalten © Springer Fachmedien Wiesbaden 2000 Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden 2000 Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Fachverlagsgruppe BertelsmannSpringer. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. 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Einführung und Grundlagen Everhard Holtmann und Helmut Voelzkow: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland zwischen Wettbewerbs- und Verhandlungsdemokratie: Eine Einführung ......................................................... 9 Roland Czada: Konkordanz, Korporatismus und Politikverflechtung: Dimensionen der Verhandlungsdemokratie .......................................................................................... 23 11. Föderalismus Wolfgang Renzsch: Bundesstaat oder Parteienstaat: Überlegungen zu Entscheidungsprozessen im Spannungsfeld von föderaler Konsensbildung und parlamentarischem Wettbewerb in Deutschland .......................................................................................................... 53 Roland Lhotta: Konsens und Konkurrenz in der konstitutionellen Ökonomie bikameraler Verhandlungsdemokratie: Der Vermittlungsausschuß als effiziente Institution politischer Deliberation ............................................................................................ 79 Everhard Holtmann: Gesetzgebung in der Wohnungspolitik des Bundes: Zur Rolle des parteipolitischen Faktors ......................................................................................... 105 Thomas König und Thomas Bräuninger: Politikwechsel im Föderalismus ............................................................................. 129 111. Koalitionen Sabine Kropp: Verhandeln und Wettbewerb in der Regierungspraxis von Länderkoalitionen - Handlungsarenen, Strategien und Konflikte von Koalitionsakteuren ................................................................................................. 151 6 IV. Korporatismus Helmut Voelzkow: Korporatismus in Deutschland: Chancen, Risiken und Perspektiven ..................... 185 V. Schlußfolgerungen und Forschungsperspektiven Arthur Benz: Anmerkungen zur Diskussion über Verhandlungsdemokratien .............................. 215 Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 223 I. Einführung und Grundlagen Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland zwischen Wettbewerbsdemokratie und Verhandlungsdemokratie: Eine Einführung Everhard Holtmann und Helmut Voelzkowl 1. Wettbewerbsdemokratie und Verhandlungsdemokratie im internationalen Vergleich politischer Systeme In vielen Bereichen staatlichen Handeins ersetzen komplizierte Verhandlungssyste me den klassischen Machtkreislauf der Demokratie. Dies ergibt sich zunächst daraus, daß verschiedene politische Materien nicht mehr im Rahmen des demokratisch ver faßten Nationalstaates in den Griff zu bekommen sind, sondern nur noch im Rahmen der Europäischen Union oder im Rahmen von internationalen Regimen einer halb wegs sachgerechten Lösung zugeführt werden können. Solche Problemlösungen setzen entsprechende Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen den Staaten voraus, wodurch es dann zu einer Politikverflechtung nach außen kommt. Der Be deutungsgewinn von Verhandlungssystemen ergibt sich aber auch daraus, daß sich die politischen Systeme der modemen Demokratien auch in ihrer nationalstaatlich verfassten Binnenstruktur immer weiter ausdifferenziert haben. Eine Folge dieser inneren Differenzierung ist heute eine geradezu überraschende empirische Vielfalt dessen, was als eine modeme Demokratie gelten kann. Es gibt kein Einheitsmodell der Demokratie. Deshalb gehört es zu den Aufgaben der Politikwissenschaft, ver gleichende Demokratieforschung zu betreiben, um die jeweiligen Besonderheiten, die Strukturmerkmale und die Stärken und Schwächen der verschiedenen Demokra tievarianten zu erfassen. Wettbewerbsdemokratie versus Verhandlungsdemokratie, Konkurrenzdemokratie versus Konsensdemokratie, Mehrheitsdemokratie versus Konkordanz-oder Proporzdemokratie - solche Unterscheidungen sind in der Politik wissenschaft insbesondere durch jene international vergleichenden Studien bekannt, die verschiedene modeme Demokratien in Europa und in Übersee im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten und ihre spezifischen Unterschiede durchleuchten und mit dieser Begrifflichkeit die empirische Vielfalt in verschiedene Demokratietypen ein ordnen wollen.2 Alle modemen Demokratien sind demnach zwar dadurch gekennzeichnet, daß in diesen Ländern über allgemeine Wahlen ein Parlament bestückt wird, das in der Die Herausgeber sind Klara Vanek für ihre aufwendigen Lektoratsarbeiten und die technische Be treuung dieses Bandes zu besonderem Dank verpflichtet. 2 Vgl. vor allem die besonders bekannten Analysen von Lehmbruch (1967; 1992) und Lijphart (1968; 1984). 10 Everhard Hollmann und Helmut Voelzkow Verfassung dann auch als das zentrale Entscheidungsorgan in dem jeweiligen politi schen System angesehen wird. Aber abgesehen von dieser Gemeinsamkeit, die für jede Demokratie gilt, sind gravierende Unterschiede zwischen den politischen Sy stemen nicht zu übersehen. Im Modell der Wettbewerbs-, Konkurrenz- oder Mehr heitsdemokratie ist die politische Macht in repräsentativer Form bei der Parlaments mehrheit und ihrer Regierung konzentriert, was eine Machtausübung ohne besondere Rücksichtnahmen auf die jeweiligen Minderheiten erlaubt. Auch das Modell der Verhandlungs-, Konsens-, Konkordanz- oder Proporzdemokratie nutzt zwar den Parteienwettbewerb und das Mehrheitsprinzip bei den Wahlen und den parlamentari schen Entscheidungen, aber nur in einem sehr eingeschränkten Maße. Statt dessen gewinnen durch formale oder informelle Vorkehrungen außerparlamentarische Ver ständigungsprozesse an Gewicht, die auf ein "gütliches Einvernehmen" (Lehmbruch 1995: 351) zwischen den widerstreitenden Interessen abzielen. Die Einigung, die entsprechende Verhandlungen voraussetzt, tritt hier an die Stelle des simplen Mehr heitsentscheids. Der Begriff der Verhandlungsdemokratie steht damit für politische Systeme, "die zwar in begrenztem Maße mit Parteienwettbewerb und Mehrheitsprin zip arbeiten, in denen dies aber an Bedeutung zurücktritt gegenüber der Entschei dungsfindung durch bargaining" (Lehmbruch 1976: 15). Ausgehend von solchen idealtypischen Unterscheidungen ergibt der internatio nale Vergleich politischer Systeme, daß einige Länder in der politischen Praxis eher dem Modell der Wettbewerbsdemokratie entsprechen, während andere Länder eher dem anderen Modell der Verhandlungsdemokratie folgen. Als das klassische empiri sche Standardbeispiel, das der Wettbewerbsdemokratie noch am nächsten kommt, gilt Großbritannien. Das "Westminster-Modelr" kennt keine föderativen Unterglie derungen, keine komplizierten Koalitionsregierungen, denn diese sind aufgrund des Wahlrechts nicht erforderlich, und keine gewachsenen korporatistischen Verhand lungssysteme. Kennzeichnend ist vielmehr eine alles bestimmende, fast schrankenlo se Par1amentssouveränität.3 Als Beispiele für eine Verhandlungsdemokratie werden mit mehr oder minder weitreichenden Einschränkungen die Schweiz und Österreich4, die Niederlande oder Belgien aufgeführt.5 In diesen Ländern ist das Mehrheitsprinzip gleich in mehrfacher Hinsicht außer Kraft gesetzt oder zumindest begrenzt, sei es, weil das Wahlrecht zur Koalitionsbildung oder gar zur Allparteienregierung führt, weil föderative Binnenstrukturen und ein Zwei-Kammersystem parteienübergreifen de Einigungszwänge erzeugen oder weil wichtige politische Regelungsmaterien in der Hand korporatistischer Arrangements - also außerhalb des Parlaments - liegen. Die idealtypische Unterscheidung verführt geradezu dazu, Wettbewerbsdemo kratie und Verhandlungsdemokratie als Alternativen zu behandeln: Entweder domi niert das eine Modell oder das andere. Aber trotz aller Unterschiede, die sich im in ternationalen Vergleich zeigen, ist nicht zu übersehen, daß auch jene politischen 3 Vgl. Sturm 1991 und Abromeit 1993: 63ff. 4 Vg l. insbesondere die klassische Studie von Lehmbruch 1967, die Österreich und die Schweiz als ,,Proporzdemokratien" analysiert. 5 Vgl. auch den Überblick bei Abromeit 1993. Einführung 11 Systeme, die als Verhandlungsdemokratien eingestuft werden, natürlich auch wett bewerbsdemokratische Elemente enthalten, ebenso wie die Systeme der Wettbe werbsdemokratie (selbst Großbritannien) letztlich doch zumindest gewisse Spuren elemente verhandlungsdemokratischer Regelung vorweisen können. Die beiden Demokratietypen kommen in der Realität also nicht in einer reinen Form vor, son dern in einem jeweils national spezifischen Mischungsverhältnis. 2. Wettbewerbs-und Verhandlungsdemokratie im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland Diese Mischstruktur gilt insbesondere auch für Deutschland, dessen politisches Sy stem sich einer eindeutigen Zuordnung zu einem der beiden Demokratietypen auf grund des Sachverhalts, daß in diesem Land sowohl wettbewerbsdemokratische als auch verhandlungsdemokratische Elemente vorzufinden sind, immer schon immer entzogen hat6• Folgt man Versuchen einer Einordnung des politischen Systems Deutschlands, so verstärkt sich der Eindruck, daß es sich im deutschen Fall um eine Art ,,zwitterding" (Abromeit 1989: 166) handelt. Auf der einen Seite spricht der Sachverhalt, daß sowohl im Bund als auch in den Ländern parlamentarisch regiert wird, für ein politisches System, das dem Modell der Wettbewerbsdemokratie recht nahekommt. Auf der anderen Seite sind aber verhandlungsdemokratische Kompo nenten im politischen System der Bundesrepublik Deutschland nicht zu übersehen. Sie lassen sich im deutschen Regierungssystem vor allem in drei zentralen Bereichen identifizieren: a) Föderalismus Besonders offenkundig sind verhandlungsdemokratische Elemente durch den deut schen Föderalismus verankert.? Aus komparativer Sicht ist das deutsche Regierungs system als ein Sonderfall, der nicht nur starke legislative Kompetenzen der föderalen Ebene (Mitwirkungsrechte des Bundesrates) vorsieht, sondern auch noch weite Be reiche der Verwaltung und der staatlichen Finanzen in die Hand der Bundesländer gibt. Kennzeichnend für den deutschen Bundesstaat ist die vertikal-funktionelle Ge waltenteilung zwischen Bund und Ländern, die sicherlich viele Vorzüge, aber auch einige Folgeprobleme in sich birgt.8 Im Unterschied zu unitarischen Ländern wie bei spielsweise Großbritannien müssen im politischen System Deutschlands, das durch föderalistische Binnenstrukturen geprägt ist, aufwendige Verhandlungserfordernisse zwischen Bund und Ländern sowie der Länder untereinander beWältigt werden, die sich aus der Politikverflechtung ergeben.9 Dies gilt insbesondere dann, wenn die 6 Vgl. Abromeit 1989. 7 Eine Einführung in den deutschen Föderalismus bieten Kilper/Lhotta 1996. 8 Vgl. bspw. Mayntz 1995. 9 Zu solchen Verhandlungszwängen kommt es trotz föderalistischer Strukturen natürlich dann nicht, wenn die beiden Ebenen wie im amerikanischen "Dual FederaJism" für ihre jeweiligen (unterschied- 12 Everhard Holtmann und Helmut Voelzkow Wahlergebnisse zu einer spezifischen Machtverteilung zwischen den Parteien in Bund und Ländern führen. Wenn die Bundestagsmehrheit und ihre Bundesregierung mit einer Bundesratsmehrheit konfrontiert wird, die ihrerseits von jenen Parteien geführt wird, die im Bundestag in der Opposition sind, dann liegen die Verhandlung zwänge auf der Hand. Der deutsche Föderalismus erzeugt eine eigentümliche "Ver mischung" von Parteienwettbewerb und Bundesstaatlichkeit, die insbesondere dann, wenn die Opposition im Bundestag die Stimmenmehrheit im Bundesrat aufbringen kann, zu dem Ergebnis führt, daß der deutsche Föderalismus "hinter der Fassade von Konkurrenz faktisch als widerwillig durchgehaltene Große Koalition funktioniert" (Lehmbruch 1976: 160).10 Aber selbst dann, wenn in Bund und Ländern die gleichen Mehrheiten herrschen, die Regierungsparteien also auch im Bundesrat die Mehrheit innehaben, erzeugt die Politikverflechtung zwischen Bund und Ländern einen Eini gungszwang, der aus der Macht der Ländervertretung gegenüber dem Bund er wächst. b) Koalitionsregierungen Daneben ergeben sich Verhandlungserfordernisse aus dem deutschen Wahlrecht. Das Verhältniswahlrecht auf Bundesebene wie auf Länderebene begünstigt Mehr parteiensysteme, die absolute Mehrheiten für eine Partei eher zu einer Ausnahme werden lassen. Das Verhältniswahlrecht erzeugt dadurch auch - im Unterschied zum Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild - einen Zwang zur Koalitionsbildung zwischen verschiedenen Parteien, denn zumeist reichen die Stimmen der stärksten Partei für eine alleinige Regierungsbildung nicht aus. Erst eine Koalition schafft die erforderliche Mehrheit der Mandate. Dieser Verhandlungs- und Einigungszwang kann die kleineren Parteien in ihrem Einfluß begünstigen, denn innerhalb von Koali tionen gilt letztlich das Einstimmigkeitsprinzip. c) Korporatismus Neue Verhandlungserfordernisse ergeben sich auch dadurch, daß sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft (oder zumindest das politikwissenschaftliche Verständnis des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft) verändert hat. Der Staat tritt längst nicht mehr nur einer amorphen Masse von Bürgern gegenüber. Wir leben vielmehr in einer organisierten Gesellschaft. Zwischen Staat und Individuum hat sich eine Meso ebene ausdifferenziert, die aus Interessenorganisationen verschiedenster Art besteht. Wirtschaftsverbände, Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und andere organisierte lichen) Aufgabenbereiche auch jeweils die erforderlichen Zuständigkeiten und Ressourcen haben. Im deutschen Verbundföderalismus aber werden vom Bund Gesetze auf den Weg gebracht, deren Um setzung in aller Regel Ländersache ist, und umgekehrt sind die Länder über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes beteiligt. 10 Lehmbruch 1976 hat in seiner Analyse der Geschichte der Länderkarnmer deutlich gemacht, daß der Bundesrat eigentlich (nur) zur Repräsentation der Bundesländer gedacht war, dann aber in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik mehr und mehr als ein Instrument des Parteienwettbe werbs angesehen und genutzt worden ist.
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