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Zwischen Tonalitaet und Atonalitaet: Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins PDF

141 Pages·1978·1.46 MB·German
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BERLINER MUSIKWISSENSCHAFTLICHE ARBEITEN herausgegeben von Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan Band 14 Gottfried Eberle Zwischen Tonalität und Atonalität Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins 1978 MUSIKVERLAG EMIL KATZBICHLER • MÜNCHEN - SALZBURG ISBN 3 87397 044 9 Copyright 1978 by Musikverlag Emil Katzbichler, München - Salzburg Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany 3 VORWORT Die Anregung zu der vorliegenden Studie ging aus von meinem geschätzten Leh- rer an der Technischen Universität Berlin Herrn Prof. Dr. Carl Dahlhaus. Er hat mich damit auf eine Materie hingewiesen, die vom ersten Augenblick an bis zur Fertigstellung des Manuskripts mein Interesse fesselte und wachhielt. Seine eige- nen Aufsätze über Skrjabin haben mir Anregungen gegeben und meinem Denken die Richtung gewiesen. Er war es auch, der die Dissertation betreut und ihr Ent- stehen mit Rat und Tat gefördert hat. Dafür sei ihm an dieser Stelle sehr herz- lich gedankt. Ihm und Herrn Prof. Dr. Rudolf Stephan gilt ferner mein Dank für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe der "Berliner musikwissenschaftlichen Arbeiten". Während der Beschäftigung mit meinem Thema habe ich von vielen Seiten freundliche Unterstützung erfahren. Reichen Dank schulde ich der Direktorin des Skrjabin-Museums in Moskau, Frau Tatjana Saborkina, die mir großzügigen Ein- blick in die Schätze ihres Instituts gewährte und sich stets aufgeschlossen zeigte für meine Fragen. Zu danken habe ich ferner dem Glinka-Museum in Moskaufür die Erlaubnis zur Einsichtnahme in die Skizzen Skrjabins. Mit besonderer Dank- barkeit denke ich an die Gastfreundschaft und Hilfe, die mir Maria und Elena Skrjabin, die Töchter des Komponisten, zukommen ließen. Folgenden Verlagen bin ich sehr verbunden für die freundliche Genehmigung zum Abdruck von Notenbeispielen: M. P. Belaieff Musikverlag, Frankfurt; Boosey & Hawkes Music Publishers Ltd. , London; Robert Forberg/P. Jurgenson Musik- verlag, Bonn-Bad Godesberg; Anton J. Benjamin, Hamburg und Universal-Edition, Wien. Berlin, im Dezember 1977 Gottfried Eberle 4 INHALT VORWORT 3 1. EINLEITUNG 5 1.1 Bericht über den Stand der Forschung 6 1.2 Problemstellungen. Zur Methode der Arbeit 11 2. DER GRUNDAKKORD DES "PROMETHEUS" 14 2.1 Die Oberton-These 14 2.2 Zur historischen Genesis der Prometheus -Harmonie 16 2.3 Zum Verhältnis von Terzen- und Quartenschichtung 32 2.4 Reduktion auf einen Akkord 41 3. DAS "KLANGZENTRUM" 49 3.1 Der Terminus 49 3.2 Klangzentrum und Zwölftonreihe 51 3.3 Klangzentrum und Akkord 53 3.4 Klangzentrum und Tonart 61 3.5 Zur Frage der "Polytonalität" 67 3.6 Zum Verhältnis von Melodie und Harmonie im Klangzentrum 70 4. ENTWICKLUNG DER HARMONIK NACH DEM "PROMETHEUS" 76 4.1 Erweiterung der Quartenstruktur 79 4.2 Chromatische Modifikation der Prometheus-Harmonie 83 4.3 Vom Prometheus-Akkord zur symmetrischen Grundskala. Weitere Strukturierung des Klangzentrums 99 4.4 Die Skizzen zur "Vorbereitenden Handlung" 111 5. HARMONIK UND FORM 120 5.1 Tritonus- und Quintverhältnis 120 5.11 Schlußbildungen 121 5.12 Das Tritonusverhältnis in der zweiteiligen Form 123 5.13 Die Tritonusbeziehung in der Sonatenform 126 5.2 Kadenz und Sequenz 130 5.3 Bedeutungswandel der Sonatenform 133 BIBLIOGRAPHIE 138 5 1. EINLEITUNG "Ist es möglich, einen Musiker wie Skrjabin mit irgendeiner Tradition in Ver- bindung zu bringen? Wo kommt er her? Wer sind seine Vorfahren?" 1 Die Frage, die Stravinskij in seiner "Musikalischen Poetik" stellt, läßt sich durchaus beantworten. Die Tradition, aus der Skrjabin herauswächst, ist frei- lich weniger in Rußland zu suchen. Er gehört nicht zu den Komponisten, die eine nationale Musik wollen, welche sich speist aus heimischer Folklore. Er orien- tiert sich eher in Richtung Westen. Das Idol seiner Jugend ist Chopin, um die Jahrhundertwende spielt eine Zeitlang Wagner für ihn eine Rolle, zumal in den symphonischen Werken, und Parallelen zu Lisztschem Denken und Komponieren begegnen in allen Schaffensphasen. Der Einfluß Liszts ist der Punkt, der Skrja- bin mit den Petersburger "Jungrussen" und deren Nachfahren verbindet, die ihm ansonsten, in ihrer Ästhetik vor allem, denkbar fern sind. Die Unterscheidung zwischen Nationalrussen und "Westlern" (zapadniki), die schon für das 19. Jahr- hundert zu grob war, hat am Anfang des 20. vollends an Triftigkeit verloren. Zu viele Fäden laufen zwischen den Richtungen und den einzelnen Komponisten hin und her. Und am Ende trifft sich Skrjabin - und das wird erst in jüngster Zeit gesehen - in der Strukturierung seines musikalischen Materials mit der national- russischen Schule. Skrjabin "gelangt, mit seltsamer Koinzidenz - auf seinem eigenen Weg - zu denselben Modi wie andere russische Komponisten (Glinka, Rimskij -Korsakov, Ljadov) " 2. Offenkundig aber zielt Stravinskijs Frage nicht eigentlich auf Skrjabins musi- kalische Herkunft - über die dürfte sich Stravinskij im Klaren gewesen sein -, sondern sie sucht eine Erklärung für den Bruch mit der Tradition, den Skrjabin schließlich vollzog: Wohin ging er? Wie geriet er gerade auf diesen Weg? 1 I. Stravinskij, Musikalische Poetik, Mainz o. J. , S. 60. Russische Namen und Titel von Schriften werden in dieser Arbeit in wissenschaftlicher Umschrift nach der "Transliteration der Preußischen Bibliotheken" wiedergegeben. 2 A. Ratiu, Le systeme harmonique de Scriabine, Muzica (Bukarest) 1973/2, S. 45. 6 1.1 BERICHT ÜBER DEN STAND DER FORSCHUNG Die Ratlosigkeit darüber, wie Skrjabin einzuordnen sei, hält bis heute an. Es gibt wenige Komponisten, die sich so unterschiedliche Bestimmungen ihres sti- listischen und geschichtlichen Standorts haben gefallen lassen müssen wie er. Das landläufige Skrjabin-Bild, soweit es überhaupt existiert, ist geprägt von Etikettierungen wie "Spätromantiker mit impressionistischem Einschlag" 1 oder "romantisch-impressionistischer Nachklang der Wagner-Epoche" 2. Für Hans Mersmann ist Skrjabin ein "Ausläufer des Impressionismus ... Er ist inner- halb des Impressionismus der Gegenpol Debussys, an den er innerlich anknüpft und dessen Entwicklungslinie er konsequenter durchführt" 3. Andere wieder sehen in Skrjabins Spätwerk eine "geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik" 4 oder "geradezu serielle Konsequenz" 5. Die differierenden Standpunkte rühren her vor ganz unterschiedlichen Blick- winkeln, die jeweils nur einen Teil von Skrjabins Gesamtwerk ins Gesichtsfeld be- kommen oder ernstnehmen: Die eine Seite hat eher den an den Chopin-Liszt-Wa- gner-Tradition anküpfenden jungen Skrjabin im Auge und ignoriert den späten Skrjabin mehr oder weniger. Viele Pianisten, die Skrjabin, ein Klavierkomponist par excellence, doch an- gehen müßte, kennen allenfalls ein paar frühe Préludes. Die andere Seite interes- siert vornehmlich das Spätwerk als eines der frühesten Beispiele von Neuer Mu- sik; das Frühwerk gilt da als traditionsverhaftet oder gar epigonal. Die Aufspaltung der Skrjabin-Rezeption findet sich bereits zu Skrjabins Leb- zeiten angelegt. Eine große Anzahl bedeutender zeitgenössischer Musiker ver- mochte gerade noch bis zum "Poeme de l'Extase" mitzugehen und blieb den spä- teren Werken gegenüber ratlos oder ungerecht. Zu ihnen gehören Skrjabins Leh- rer Sergej Taneev, der schon von der 5. Sonate sagte: "Sie schließt nicht, sie bricht ab", sowie Nikolaj Rimskij-Korsakov und Anatol Ljadov. Die Ablehnung des Spätwerks fand eine Zeitlang, ideologisch motiviert, ihren Widerhall in der sowjetischen Musikforschung. Danilevic schrieb: "Wir bewundern diejenigen Werke sehr, die Skrjabin in jener Periode schrieb, als er noch die Verbindung mit den großen Traditionen der realistischen Kunst aufrechterhielt. Später wich er von diesen Traditionen ab. Er geriet unter den Einfluß der reaktionären idealistischen Philosophie, unter den Einfluß der bürgerlichen Kultur in der Epoche des Imperialismus. Die idealistischen Theorien vergifteten das Bewußt- sein des bedeutenden Künstlers und lenkten sein überragendes Talent auf einen falschen Weg, den Weg des Modernismus. " 6 Der Kreis andererseits, der sich 1 Reclams Konzertführer von Hans Renner, Stuttgart 41959, S. 587. 2 Hans Schnoor, Geschichte der Musik, Bielefeld 1953, S. 532. 3 Hans Mersmann, Die moderne Musik seit der Romantik (= Handbuch der Mu- sikwissenschaft, hrsg. v. E. Bücken, Bd. 7), Potsdam 1927, S. 25. 4 So der Titel eines Aufsatzes von Zofia Lissa in Acta musicologica 1935, S. 15ff. 5 Reclams Klaviermusikführer II, in Verbindung mit Klaus Billing und Walther Kaempfer herausgegeben von Werner Oehlmann, Stuttgart 1967, S. 776. 6 L. Danilevic, A. N. Skrjabin, übertragen von Margarete Hoffmann, Leipzig 1954, S. 5. 7 in Skrjabins letzten Lebensjahren um ihn versammelte, war dagegen eher ge- neigt, mit Skrjabin selbst die Kompositionen bis etwa Opus 43 als "klassisch" einzustufen und von da an erst das "eigentliche" Werk Skrjabins zu datieren, das nun, den Rahmen der absoluten Musik überschreitend, mehr und mehr der multi- medialen Idee des "Mysteriums" zusteuerte. Leonid Sabaneev, zuletzt einer der engsten Vertrauten Skrjabins, hat die Har- monik der symphonischen Dichtung "Prometheus", eines Werks der Wende, als Produkt der Töne 8 bis 14 aus der Obertonreihe interpretiert. Das dürfte mit der Anlaß dafür gewesen sein, daß Skrjabin immer wieder in Zusammenhang mit Reihentechnik gebracht wurde. Nach dem genannten Aufsatz von Zofia Lissa hat George Perle Skrjabinsche Techniken unter der Kategorie "Nondodecaphonie Serial Composition" abgehandelt 1. John Everett Cheetham nennt die Tonkomplexe, die das Grundmaterial der späteren Werke bilden, "sets" 2. In den USA insge- samt ist die Neigung zu "serieller" Skrjabin-Interpretation vorherrschend. Zum äußersten Extrem gedieh sie in der Dissertation von Helga Boegner 3, die aus der ersten Phase seriellen Komponierens stammt: Wo Skrjabins musikalische Formationen sich nicht mehr dem Obertonreihen-Abzählen fügen wollten, wur- de zusätzlich eine "Untertonreihe" bemüht. Die andere deutschsprachige Dissertation zur Harmonik Skrjabins, verfaßt von Peter Dickenmann 4, der Kategorien seines Lehrers Ernst Kurth anwendet und weiterentwickelt, macht hingegen vor dem Spätwerk halt, in der richtigen Erkenntnis, daß hierfür "teilweise ein neues Begriffssystem geschaffen werden müßte" 5. Er setzt freilich den Schnitt fälschlich erst vor Opus 60, dem "Pro- metheus" an. Die Opera 58 und 59, zur gleichen Zeit entstanden, gehören jedoch mit zum Spätwerk, sofern man darunter diejenigen Stücke versteht, die sich von funk- tionaler Tonalität gelöst haben. Dickenmanns Analyse trifft daher bei diesen Stücken auch nicht mehr. Hält man die beiden letztgenannten Arbeiten und die recht weit auseinander- klaffenden Ansichten über Skrjabin gegeneinander, so könnte der Anschein ent- stehen, als gäbe es im Schaffen Skrjabins einen radikalen Bruch. Nichts aber trifft weniger zu als das, wie zu zeigen sein wird. Selten anderswo findet sich eine kompositorische Entwicklung, die sich so bruchlos, so schrittweise, in so konsequenter Progression vollzieht wie die Skrjabins. Zofia Lissa, deren Ar- beiten über Skrjabin zu den besten zählen, hat später die Brücke zwischen Früh- und Spätwerk geschlagen, zwischen "geschichtlicher Vorform der Zwölftontech- nik" und romantischer Tradition, indem sie auf historische Wurzeln des "Pro- metheus-Akkords" hingewiesen hat 6. Mit ihrer Arbeit setzt eine adäquatere Einschätzung der kompositorischen Entwicklung Skrjabins ein, wie sie sich etwa 1 G. Perle, Serial Composition and Atonality, Berkeley 1963, S. 38. 2 J. E. Cheetham, Quasi-serial techniques in the later piano works of Alexan- der Skrjabin, Washington 1969. 3 H. Boegner, Die Harmonik der späten Klavierwerke Skrjabins, Diss. Mün- chen 1955. 4 P. Dickenmann, Die Entwicklung der Harmonik bei A. Skrjabin, Bern-Leip- zig 1945. 5 Dickenmann, a. a. 0. , S. 5 6 Z. Lissa, Zur Genesis des Prometheus-Akkords, in: Musik des Ostens 2, S. 170ff. 8 dann in Clemens-Christoph von Gleichs Dissertation spiegelt 1. Er zeigt inner- halb einer Arbeit, die gar nicht speziell die Harmonik Skrjabins zum Gegen- stand hat, relativ ausführlich, wie die Harmonie des "Prometheus" allmählich auf dem Boden der funktionalen Tonalität wuchs 2. Wo kein Bruch in Skrjabins Schaffen gesehen wird, kann aber nun anderer- seits die Theorie auftauchen, Skrjabin habe nie eigentlich den Boden der Tona- lität verlassen, sei allenfalls "bis an die Grenze der Atonalität" vorgestoßen 3 . Diese Anschauung ist charakteristisch für die sowjetische Musikforschung. Olga Sachaltujeva 4 erklärt auch noch die späten Harmonien Skrjabins als "Zwischen- dominanten ohne Tonika", Harmonien, deren letztliche Herkunft aus Akkordstruk- turen mit Dominantfunktion zwar nicht zu leugnen ist, deren Essentielles aber eben darin liegt, daß sie die Dominantfunktion abgestreift haben. Auch Varvara Dernova 5 ignoriert den entscheidenden historischen Prozeß der Ablösung von der funktionalen Tonalität. Sie sieht die für den mittleren Skr- jabin typische Tritonus-Fortschreitung zwischen den Stufen IIn und V als den Kern eines "Systems" an, das sie recht undifferenziert allen Werken substruiert. Besagte Tritonusverbindung wertet sie als Verknüpfung zweier Dominanten und verkennt damit, daß alle Akkorde zwar die Struktur der Dominantharmonie annehmen und lange noch bewahren, sehr bald aber die Funktion der Domi- nante abstreifen. Unhistorisch gesehen ist ferner die Rolle der harmoniefrem- den Töne. Daß sie sich nach und nach als akkordeigene Töne etablieren, erkennt Varvara Dernova nicht an. Den Funktionswandel immerhin sieht Jurij N. Cholopov. Er begreift, daß der "Grundakkord" der späten Werke lediglich der Genese nach mit der Dominant- funktion verbunden ist. Nun aber ist er für ihn "seinem Wesen nach eine Tonika, weil wir unter Tonika das zentrale Element des tonalen System verstehen. So ist die Aufstellung eines 'Grundakkords' in der Eigenschaft einer Basis in der späten Harmonik Skrjabins die Aufstellung einer neuen Tonika und ebenso einer neuen Tonalität" 6. Der allgemeine Begriff des "Grundakkords" ist dabei glücklicher als der der "Tonika", der den fundamentalen Unterschied zwi- schen funktionaler Tonalität und der Klangtechnik seit dem "Prometheus" ver- kennt. 1 C. -C. v. Gleich, Die sinfonischen Werke von Alexander Skrjabin, Bilthoven 1963. 2 Gleich, a. a. 0. , S. 89f. und Notenbeispiel 169. Ferner ist der Übergang von funktionaler Tonalität zur Atonalität von Carl Dahlhaus anhand des "Feuillet d'Album" op. 58 analysiert worden: Alexander Skrjabin. Aus der Vorgeschich- te der atonalen Musik, in: Deutsche Universitätszeitung 1957, S. 18ff. 3 So Günter Philipp im Vorwort zu "Alexander Skrjabin. Ausgewählte Klavier- werke", Edition Peters Leipzig. 4 0. Sachaltujeva, 0 garmonii Skrjabina, Moskau 1965. 5 V. Dernova, Garmonija Skrjabina, Leningrad 1968. 6 J. N. Cholopov, Klassiceskie struktury v sovremennoj garmonii ("Klassische Strukturen in der zeitgenössischen Musik"), in: Teoreti ceskie problemy mu- zyki XX. veka ("Theoret. Probleme der Musik des 20. Jahrhunderts"), hrsg. v. J. Tjulin, Moskau 1967, S. 98. 9 Auch Skrebkov besteht darauf, Skrjabins späte Musik sei nicht atonal, neu an ihr sei nur die Behandlung der Tonalität 1. Sehr treffend und plastisch ist jedoch sein Wort vom "Akkord im Akkord". Damit ist die "melodisch-the- matische Akzentuierung einer Gruppe von Akkordtönen" innerhalb einer viel- tönigen Harmonie gemeint, das Herausheben eines Teilaspektes aus dem kom- plexen Ganzen. Skrebkov erkennt darin "Elemente organisierter Polytonalität" 2. Diesen Aspekt entfaltet Sergej Pavcinskij in einer umfangreichen Studie zum Spätstil 3. Wichtig ist sein Hinweis: "Die verbreitete Bestimmung der Melodik des späten Skrjabin als gebaut nach den Tönen der Harmonie ist unzureichend. "4 Er schlägt die Unterscheidung von "melodischer und harmonischer Tonika" vor 5. Gewaltsam wirken freilich viele Einzelanalysen, die auf der These von der "allergrößten Nähe zu den harmonischen Strukturen und der Dur-Moll-Melodik der klassischen Musik" 6 gründen. In den letzten Jahren wächst auch innerhalb der sowjetischen Musikforschung die Bereitschaft, in der Skrjabin-Analyse das beharrliche Festhalten an Kate- gorien der funktionalen Tonalität aufzugeben. Dobrynin zögert nun nicht mehr, zu konstatieren: "Die stilistischen Veränderungen in der besagten Periode (um op. 60. D. Verf. ) erweisen sich als äußerst bedeutend, denn sie berührten selbst das 'Allerheiligste', die Dur-Moll-Grundlage des tonalen Denkens, das früher bei Skrjabin unerschütterlich war. Das Wesen der jetzt vor sich gehenden Wand- lungen muß charakterisiert werden als Tod der Tonalität im früheren, traditio- nellen Sinn des Wortes. " 7 Zugleich glaubt er aber in den allerletzten Werken eine Rückkehr zur Tonalität ausmachen zu können: "Solche Werke wie die Pré- ludes op. 74, Nr. 2 und 4, sind bei aller stilistischen Neuheit völlig tonal in der traditionellen Bedeutung des Wortes. " Bedenkenswert ist seine These von einem "System", das "isomorph" zum traditionellen gebildet ist; es bedeutet "die Abstraktion der Funktion von ihren gewohnten konkreten 'Trägern' und ihre Übertragung auf vollkommen anderes Material" 8. Dobrynin schlägt von daher Begriffe wie "Quasi-Tonika" und "Quasi-Dominante" vor. Ausdrücklich unter historischem Aspekt betrachtet Daniel Vladimirovic Zitomirskij die Skrjabinsche Harmonie in einem Aufsatz des gleichen Sammel- bandes 9. Er prägt für das Grundmaterial des Spätstils den Begriff des "Tonzen- trums", der auffallende Ähnlichkeit hat mit dem Terminus "Klangzentrum" bei Zofia Lissa (deren umfangreiche Skrjabin-Studien merkwürdigerweise in der 1 S. Skrebkov, Garmonija v sovremennoj muzyke, Moskau 1965, S. 11. 2 S. Skrebkov, a. a. O. , S. 16. 3 S. Pavcinskij, Proizvedenija Skrjabina pozdnego perioda, Moskau 1969, ("Skrjabins Werke der Spätperiode"). 4 Pavcinskij, a. a. O. , S. 5. 5 Pavcinskij, a. a. O. , S. 36. 6 Pavcinskij, a. a. O. , S. 5. 7 V. Dobrynin, Esce raz o stile pozdnego Skrjabina ("Noch einmal über den Stil des späten Skrjabin") in: A. N. Skrjabin. Sbornik statej k stoletiju so dnja rozdenija (Sammelband mit Aufsätzen zum 100. Geburtstag), Moskau 1973, S. 509. 8 Dobrynin, a. a. 0. , S. 510. 9 Zitomirskij, 0 garmonii Skrjabina, in: Sbornik statej, a. a. 0. , S. 526, deutsch in: Festschrift W. Boetticher, Berlin 1974, S. 344ff. 10 sowjetischen Literatur kaum erwähnt werden). Er betont die "tonale Unbestimmt- heit" dieses Grundmaterials und sieht sehr klar, wie es gehandhabt wird: "Der harmonische Komplex, der die Grundlage für das Thema eines Werkes bildet, verschiebt sich in verschiedenen Intervallen mit unterschiedlicher Frequenz, doch dabei zeichnet sich niemals ein logisches Ergebnis der Bewegung ab, das z. B. der Modulation in eine neue Tonart oder der Rückkehr zur alten Tonart, bei ihrer gleichzeitigen Verfestigung, analog ist." 1 Lothar Hoffmann-Erbrecht hat 1970 auf dem Internationalen musikwissen- schaftlichen Kongreß in Bonn das Problem so formuliert: Ist Skrjabins Spätwerk überhaupt atonal oder ein Schwebezustand zwischen Tonalität und Atonalität? 2 Eine Frage, die nicht generell zu beantworten ist, sondern von Werk zu Werk neu gestellt werden muß, denn Skrjabins Spätwerk ist durchaus nicht entwick- lungslos. Zitomirskij unterscheidet im Spätwerk zu Recht zwei Perioden, die etwa durch die Neunte Sonate op. 68 begrenzt werden, welche eine Auflockerung und Mobilisierung der einförmigen Klangzentren-Harmonik signalisiert. Schließlich geht er der "Ausdruckstendenz" der harmonischen Verfahren nach und sieht sie bestimmt durch deren "Verhältnis zur Norm, zum 'Bezugs- punkt' " 3. Ähnlich hatte zuvor schon Carl Dahlhaus im Blick auf Skrjabin musikalischen Ausdruck interpretiert: "Musikalischer Ausdruck haftet an Differenzen vom Schema, vom Gewohnten und Eingeschliffenen. "4 Das Verhältnis von "Struktur und Expression bei Alexander Skrjabin", das Dahlhaus thematisiert, interessiert auch Arno Forchert in einer neueren Ar- beit 5, auf die im einzelnen einzugehen sein wird. Und es bestimmt wesentlich die jüngsten Beiträge zur Skrjabin-Literatur. Der Rumäne Adrian Ratiu weist auf die Affinität von Skrjabins Grundmaterial zu Messiaens symmetrischen, begrenzt transponierbaren Modi hin 6: "Die Ver- mittlung von strenger Ordnung und Freiheit des Ausdrucks, die die Modi erlau- ben, verleiht dem Werk Skrjabins einen Charakter für sich und macht es zu ei- nem ersten Versuch der Synthese im Stil der Gegenwart. " 7 Und er bestimmt Skrjabins historischen und stilistischen Ort "zwischen französischem Impres- sionismus und deutschem Expressionismus". 1 Zitomirskij, a. a. O. , S. 355. 2 L. Hoffmann-Erbrecht, Skrjabins "Klangzentrenharmonik" und die Atonali- tät, in: Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongreß Bonn 1970, Kassel u. a. 1971, S. 436ff. 3 a. a. 0. , S. 346. 4 C. Dahlhaus, Struktur und Expression bei Alexander Skrjabin, in: Musik des Ostens 6, Kassel u. a. 1972, S. 197ff. 5 A. Forchert, Bemerkungen zum Schaffen Alexander Skrjabins. Ordnung und Ausdruck an den Grenzen der Tonalität, in: Festschrift Ernst Pepping zum 70. Geburtstag, Berlin 1971, S. 436ff. (= Forchert, Bemerkungen) 6 A. Ratiu, Le systéme harmonique de Scriabine, rumänisch in: Muzica XXII (Bukarest) 1972, H. 2, S. 17ff. und H. 3, S. 15ff. , frz. ebenda XXIII, 1973, H. 1, S. 41ff. und H. 2, S. 43ff. 7 Ratiu, a.a.O. 1973, H. 2, S. 49.

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