Zwei Tage der Angst Two days of terror von Roy Sheldon VORWORT: Immer wieder haben Wissenschaftler behauptet, daß es eine „Rassenerinnerung“ gibt. Eine Erinnerung also, die Erlebnisse unserer Urväter zu unserem Eigentum macht. Sie schlummert im Unterbewußtsein. Im wachen Zustand könnte niemand be- richten, was der Urgroßvater, der Großvater, ja selbst der Vater dachte und fühlte. Und doch sind diese Erlebnisse ein Teil un- seres Ich. Wie kommt es zum Beispiel, daß eine Frau, die tags- über ihren Radioapparat bedient und mit modernen technischen Geräten in ihrer Küche herumhantiert, nachts bei einem Gewit- ter aufsteht und voller Angst in ihrer Wohnung auf und ab geht, ohne Schlaf zu finden? Diese Frau weiß, daß Blitzableiter ihr Haus schützen. Sie kann sich vielleicht sogar erklären, was ein Gewitter ist und wie es zustande kommt. Aber trotz dieses Wis- sens hat sie Angst. Wenn uns jemand eine solche Nacht schil- dert, dann sagt er vielleicht: „Ich weiß selbst nicht warum, aber ich fürchte mich schrecklich bei einem Gewitter.“ Diese uralte Angst, die wir uns heute kaum noch erklären können, ist eine Erinnerung an Zeiten, da es noch keine Blitzableiter, nicht ein- mal festgefügte Häuser gab. 3 Wenn es einem Wissenschaftler gelänge, einen Apparat zu konstruieren, der diese schlummernden Erinnerungen weckt, dann könnten wir als Beobachter die Geschichte des Fortschrit- tes verfolgen, ohne unsere Zeit zu verlassen. Und Professor Echert hat einen solchen Apparat erfunden. Seine Untersuchungslinse aber dient noch einem anderen Zweck. Doch das müssen Sie selbst lesen. PERSONEN: Professor Echert, Erfinder Joe Garolson, Sträfling Magdah, Garo, Leta, Steinzeitmenschen Professor Echert strahlte vor Befriedigung, als dieses Prachtex- emplar hereingebracht wurde. Er befahl den Wächtern, den kurzen, dicken Körper des Mannes auf der Bank festzubinden, so daß sein Kopf unter die Untersuchungslinse zu liegen kam. Der Professor entließ die Wächter, während er die Versuchs- person untersuchte. Die massige Brust des Mannes hob und senkte sich in rhythmischen Bewegungen unter der tiefen Nar- kose. Seine Augenlider waren geschlossen; die zottigen Augen- brauen bildeten eine scharfe Linie unter der schräg Zurücklie- genden Stirn. Seine Arme, die eng an den Körper gefesselt wa- ren, zeigten eine ungewöhnliche Länge; die Hände waren über- mäßig kräftig entwickelt, und auf den Fingern wuchsen an den Außenseiten pechschwarze Haare. Es war ein prachtvolles Exemplar innerorganischer Rück- entwicklung, stellte der Professor fest. Primitiv, grausam, ei- gensinnig und verbrecherisch – darum war der Mann auch hier; er hatte seine Wahl getroffen zwischen diesem Versuch und dem elektrischen Stuhl. 4 Der Versuch! Echert hob seine Augen zu der großen Ma- schine über der Versuchsperson. Es war seine eigene Erfin- dung. Ein Wunder von angewandter Physik und Philosophie. Eine Maschine, die geheimste Tiefen des Unterbewußtseins sondieren, die rassischen Erinnerungen wecken und in Bildform auf eine Leinwand projizieren sollte. Der Ton würde auf einen Lautsprecher übertragen werden. Professor Echert schaltete den Strom ein, setzte sich vor die Leinwand und schaltete den Lautsprecher ein. Dann warf er den Hebel herum, und der Versuch konnte beginnen … Neuland Die Tage waren länger und wärmer geworden, und der Fluß war zu einem ganz beachtlichen Strom angeschwollen. Das rau- schende Wasser der dahinschmelzenden Eisdecke schoß gur- gelnd über die Steine des Flußbettes dahin und leuchtete ab und zu in hellen Farben auf, wenn ein überraschter Fisch vor Magdah und Garo angeschwemmt wurde. Die beiden Männer saßen schweigend da. Ihre Augen hielten sie auf die kleinen Fleischstückchen gerichtet, die am Ende ei- ner Ranke im Wasser tanzten. Die Ranke war an einem starken Ast befestigt. Wenige Zentimeter unter der Oberfläche bewegte sich der Köder verlockend vor den Augen der Fische. Aber keiner kam nahe genug, um von Garos langstieliger Axt erreicht zu werden. Immer wieder erhob der Jäger seine Waffe, stets bereit, vor- wärtszuspringen und seine Steinaxt auf einen der farbenprächti- gen Lungenfische oder auf andere Bewohner des Flusses nie- derzuschmettern. Aber immer wieder fiel sein Schatten auf das Wasser vor ihm und verscheuchte die geängstigten Fische. Ver- ärgert sank Garo jedesmal in seine hockende Stellung zurück. 5 Mit jedem dieser Versuche verrannen einige Sekunden – Sekun- den einer anderen Zeit. Magdah und Garo lebten in der späten Steinzeit; sie wußten nichts von Städten, Flugzeugen und Radioapparaten. Die beiden Männer standen noch am Anfang einer Entwicklung, die sie selbst nie begriffen hätten. Magdah hatte die ganze Zeit über regungslos dagesessen, während Garo alle Augenblicke aufsprang und sich dann wie- der niederhockte. Magdah hatte seinen Köder im Auge. Eigent- lich nicht nur den Köder; er beobachtete gern, wie die kräuseln- den Wellen das Sonnenlicht brachen, er liebte das kräuselnde Wasser selbst, wenn es in seiner wilden, ungestümen Art um die Felsbrocken brandete. Allerdings sollte er seine ganze Auf- merksamkeit auf die näher kommenden Fische richten, aber er war nicht hungrig. Die Luft war so warm, und aus der Ferne drang die Sinfonie des Dschungels hinter dem steilen Flußufer. Es war ein friedvolles Dasein. Garos fortwährendes Aufspringen störte ihn. Warum konnte der Mann nicht stillsitzen und warten, bis ein Fisch nach dem Köder schnappte? Warum mußte er immer in Bewegung sein – immer laufen, hin und her springen und mit der Axt auf ein ge- stelltes Wild einschlagen? Garo ist eben nur ein Jäger, dachte Magdah, nichts als ein Jäger, der töten muß; ein immer ge- spannter Körper, der selbst das Essen als Zeitverlust betrachtete. Nein, das stimmte nicht ganz. Garo konnte auch anders sein, netter – manchmal. Magdah wandte sich dem Fluß zu. Wieder sprang Garo auf, holte aus, fehlte und knurrte ärger- lich. Aber diesmal hockte er sich nicht wieder hin. Er stand auf- recht, wie es alle Männer seines Zeitalters taten, mit leicht ein- geknickten Knien; seine buschigen Augenbrauen schützten die Augen vor der Sonne, die kurzen, dicken Finger baumelten lose an seiner Seite. Verdrossen gab er dem Ast, seiner Angelrute, 6 einen Fußtritt. Der rollte über den Felsen, der ihm als Halt diente, und war nahe daran, in den Fluß zu fallen. Garo, der jetzt seine Handlungsweise bereute, sprang vor und faßte den Ast, gerade ehe er im Wasser landete. Fast wäre er dabei auf dem schlüpfri- gen Stein ausgerutscht. Mit einem Grinsen legte er den gerette- ten Ast auf den Boden und sah sich nach Magdah um. „Garo geht“, sagte er. „Garo nicht fischen. Garo fängt Moa- Vogel.“ Magdah sah ihn an, seine Mundwinkel zogen sich nach oben. In seinen Augen zeigte sich ein Glitzern, das dem Leuchten des Wassers glich. Er wußte, daß es so kommen würde, so war es bisher immer gewesen. Garo langweilte sich. Fischen befriedigte ihn nicht. Meist hielt er es eine Weile aus, um zu zeigen, daß er seinen Teil beitragen wollte. Aber fast immer wurde er dann unruhig, legte die Angelrute weg und machte sich auf die Suche nach einer lebhafteren Beute. Jetzt war es wieder so. „Gut“, grunzte Magdah. „Garo fängt viel Fleisch.“ Er hatte den Jäger bei diesen Anlässen nie getadelt. Wenn der eben so veranlagt war, mußte man ihm seinen Willen lassen. Schließlich hatte sich auch Garo nie beschwert, wenn Magdah den Sonnenuntergang oder das Wasser betrachtete, anstatt zu fischen oder Feuer zu machen. Er blickte hinter Garo drein, der langsam auf die Höhle zu- ging. Seine Gestalt war gespannt, sein ständiger Tätigkeitsdrang wurde nur von einem dünnen Schleier der Selbstbeherrschung überdeckt. Sein Körper zeigte viele Narben von Kämpfen mit Tieren und Menschen. Auch Magdah hatte solche Narben, aber weit weniger. Er wandte sich wieder dem Fluß zu und verlegte seinen Kö- der an eine andere Stelle. Das Wasser war ganz klar, so daß er jedes Steinchen auf dem Grunde des Wassers sehen konnte, ebenso die kleinen Sandstreifen, die von dem wirbelnden Was- 7 ser dauernd bewegt und verändert wurden. Fasziniert sah er zu. Aber ein Teil seines Selbst, ein kleiner Teil, spähte immer nach den großen, braunen Gestalten und langen, grünen Körpern, die sich den Schatten auf dem Wasser neugierig näherten. Jetzt hörte er patschende Schritte auf den Steinen hinter sich, und als er sich umsah, bemerkte er Leta, die von der Höhle auf ihn zukam. Er betrachtete ihre geschmeidige Gestalt, die von der Sonne überflutet wurde. In der warmen Luft konnte sie auf das Bärenfell verzichten. Wenn er sie so sah, erschien es ihm als ein großes Wunder, daß sie seine Gefährtin war. Seine Ge- fährtin, die vor einiger Zeit durch die Nacht zu ihm gekommen war und sich so natürlich und vollkommen in sein Leben einge- fügt hatte. Als sie erschien, damals in der Regennacht, begleitet von Magdahs Sloth, dem entlaufenen Faultier, bekam Garo einen Wutanfall und war davongelaufen. Garo hatte keine Zeit für eine Gefährtin. Aber später, als er Letas Fertigkeit, Angreifer abzuwehren, erkannte – eine Geschicklichkeit im Kampf, wie sie bei Frauen selten war – hatte sich Garo beruhigt und Leta zum Bleiben ermutigt. Aber das Mädchen war auch jetzt noch nicht von seiner Freundschaft überzeugt. Sie wollte nie allein mit ihm in der Höhle bleiben – nicht, weil sie einen Angriff von ihm befürchtete, sondern weil sie ihn nicht reizen wollte. Magdah wußte es. Als er sie jetzt über die Felsbrocken klet- tern sah, freute er sich, daß sie zu ihm kam, obwohl sie in der Höhle viel Arbeit hatte. Sie half ihm dort, seine Bilder auszu- bessern, die kürzlich mutwillig zerstört wurden, als eine her- umwandernde Familie die Höhle in Besitz nehmen wollte. Ob- wohl auch er hier zu tun hatte, würde es doch nett sein, sie ne- ben sich zu wissen am Ufer des Flusses. Auch Leta liebte die tanzenden Lichtreflexe auf dem Wasser und den wirbelnden Sand. Am meisten interessierten sie jedoch die Fische. Magdah 8 wußte, wie sie aufgeregt herumhüpfte, wenn sie ein farbiges Leuchten erblickte und wie sie versuchte, einen Fisch, der in die Nähe des Ufers kam, zu fassen. Auch Leta liebte mehr Dinge als Jagen und Töten. Aber sie konnte jagen und töten, wenn es sein mußte. Sie kam jetzt heran und setzte sich auf einen Stein neben Magdah. Ihre braunen Augen blickten ihn lächelnd an. Oft hatte Magdah versucht, so zu lächeln, es war ihm aber nie gelungen. Nur Leta verstand, mit den Augen zu lachen. Über ihre Schulter blickte sie nach der Höhle zurück. Als sie ihm den Blick wieder zuwandte, war wieder die alte Fröhlich- keit in ihren Augen. „Garo jagen, eh?“ fragte sie. „Garo nicht gern fischen. Eh?“ Aus Magdahs Kehle drang ein leises Knurren. Leta hatte auch für Garo Verständnis. Sie erkannte den Jäger in ihm, sah die kraftvollen Muskeln, die unbarmherzige Absicht zu töten, wenn er eine Beute erblickte. Magdah wußte, daß sie Garo gern leiden mochte. Aber Leta war Magdahs Gefährtin. Sie saßen still und betrachteten das Wasser. Der Fluß war jetzt breiter als zu der Zeit, da Magdah zu der Höhle gekommen war. Das andere Ufer war volle hundertachtzig Meter entfernt. Man konnte das kaum noch als Fluß bezeichnen, nachdem die Eisdecke unter der warmen Sonne geschmolzen war. Magdah bemerkte, wie sich die Entfernung von der Höhle zum Ufer ver- ringert hatte. Er brauchte längst nicht mehr so lange, um einen Kürbis voll Wasser zu holen. Das Fleisch des Köders tanzte unter der Oberfläche des Was- ser, aber seine Lockung wurde von den Fischen nicht beachtet. Im Wasser zeigte sich keinerlei Bewegung. Magdah ließ seinen Blick über die Berge hinter dem anderen Ufer schweifen. Das Purpur des Morgens hatte sich in ein dunkles Grünblau ver- wandelt, das sich in Magdahs Augen mit dem Blau des Him- 9 mels mischte. Er überlegte, ob er nicht lieber Berge malen sollte statt wie bisher Tiere. Leta stieß einen Schrei aus. Magdah drehte sich um und sah, daß sie sich aufgerichtet hatte und auf das Wasser zeigte. Er folgte ihrem Blick und bemerkte einen prachtvollen, orange- und rotgefärbten Fisch, der den Lockungen des Köders nicht widerstehen konnte. Er war aber auch wirklich schön. Wie immer, war Leta ganz aufgeregt. Sie kniete am Ufer nieder und streckte ihre Arme nach dem Fisch aus. Magdah lä- chelte. Sie würde ihn nicht erreichen. So schnell sich ihre brau- nen Glieder auch bewegten, sie konnte nicht schneller sein als der Fisch. Dann verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, als er sah, wie Leta das Gleichgewicht verlor, auf dem schlüpfrigen Stein ausrutschte und ins Wasser fiel. In der Nähe des Ufers war es ziemlich seicht, aber die rasche Strömung und die Kälte hatten eine Panikstimmung in Leta hervorgerufen. Sie plät- scherte kopflos herum und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Aber dabei geriet sie immer tiefer in den Fluß. Bevor er nur die Hand ausstrecken konnte, war sie bereits außer Reichweite und in der schnellen Strömung der Flußmitte. Er unterdrückte seine Furcht vor dem durchsichtigen Naß und sprang sofort ins Wasser, von dem er wußte, daß es bereits viele verschlungen hatte. Rasch watete er auf Leta zu und stand bald bis zu den Hüften im Fluß. Dann erfaßte ihn die natürliche Tragfähigkeit des Wassers und riß die Beine unter ihm weg. Instinktiv schlug er mit Armen und Beinen um sich. Angst und Furcht ergriffen Besitz von jedem Muskel seines Körpers, als das eisige Wasser über seinem Kopf zusammenschlug und in seinen Mund drang. Er war noch nie im Wasser gewesen, oder doch nie weiter als bis zu den Knöcheln. Er fühlte sich allein und verlassen. Nirgends fand er Halt oder festen Boden 10