Zur Dialektik von Theorie und Praxis bei Adorno Inauguraldissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main vorgelegt von Heiko Knoll aus Wiesbaden 2005 1. Gutachter: Prof. Dr. Jürgen Ritsert 2. Gutachter: Prof. Dr. Dieter Mans Tag der mündlichen Prüfung: 25.05.05 II Inhaltsverzeichnis I. Einleitung 1. Zum Thema der Untersuchung 1 1.1 Zweck 1 1.2 Warum dieses Thema? 2 1.3 Mittel 3 2. Grundlinien bisheriger Forschung 6 2.1 Kritische Standpunkte 6 2.2 Zustimmende Standpunkte 12 II. Hauptteil 3. Dialektik bei Adorno 17 3.1 Zur doppelten Bedeutung der strikten Antinomie für die Frage nach Adornos Dialektik 17 3.2 Was ist eine strikte Antinomie? 19 3.2.1 Erste Annäherung: Widerspruch, Nicht-Widerspruch, strikte Antinomie 19 3.2.2 Merkmale und Ursachen der strikten Antinomie 23 3.2.2.1 Die Lügnerantinomie als Beispiel 23 3.2.2.2 Strukturierende Thesen 24 3.2.2.3 Merkmale der strikten Antinomie: Wechselseitige Implikation der Gegensätze auf mehreren Ebenen 25 3.2.2.4 Die Ursachen einer strikten Antinomie: Negative Selbstbezüglichkeit genauer betrachtet 32 3.2.2.5 Das Problem der Sprache 45 3.3 Zum Umgang mit strikten Antinomien 47 3.3.1 Die Theorie der Sprachstufen: Strikte Antinomien im Spannungsfeld Sprache-Welt 49 3.3.1.1 Die Zweiteilung der Welt als Keimzelle der Sprachstufentheorie 50 3.3.1.2 Einwände 52 3.3.1.3 Das Dilemma der Sprachstufenhierarchie auf allen Stufen 58 3.3.1.4 Die Umgangssprache als letzte Metasprache (Habermas) 62 3.3.1.5 Die unendliche Hierarchie der Sprachstufen ist unhintergehbar (Brendel) 74 III 3.3.2 Der Zirkel der Referenz: Produktive Möglichkeiten einer unvermeidlichen Antinomie 98 3.3.2.1 Von der Lügnerantinomie zum Problem der Erkenntnis 98 3.3.2.2 Das Problem der Erkenntnis in strikt antinomischer Aussagenform 99 3.3.2.3 Zum praktischen Umgang mit dem Zirkel der Referenz 110 3.4 Die strikte Antinomie als Grundlage der Dialektik Adornos oder: Die argumentative Erweiterung des Zirkels der Referenz 114 3.4.1 Der Zirkel der Referenz in einer elementaren Form bei Adorno 116 3.4.2 Der Zirkel der Referenz in Begriffspaaren 122 3.4.2.1 Zur Dialektik von Subjekt und Objekt 122 I. Subjekt und Objekt als relationale Begriffe 122 II. Vertiefung der Asymmetrie zwischen Subjekt und Objekt zugunsten des Objekts oder: Vom Vorrang des Objekts zu einer materialistischen Dialektik 133 3.4.2.2 Identität und Nicht-Identität 137 I. Bedeutungen von „Identität“ und „Nicht-Identität“ 137 II. „Identität“ und „Nicht-Identität“ in der Auseinandersetzung mit Kant und Hegel 142 3.4.3 Der Zirkel der Referenz gesellschaftstheoretisch und gesellschaftskritisch erweitert 149 3.4.3.1 Zur gesellschaftlichen Bedingtheit von Erkenntnis 149 3.4.3.2 Erkenntnis und Gesellschaftskritik 152 3.4.3.3 Elemente der Gesellschaftskritik Adornos 156 I. Naturbeherrschung 156 II. Warentausch 169 III. Ideologie 192 IV. Basis und Überbau 206 3.4.3.4 Begeht Adorno einen herrschaftssoziologischen Fehlschluss? 208 4. Zur Dialektik von Theorie und Praxis bei Adorno 218 4.1 Methodische Vorüberlegungen 218 4.2 Theorie und Praxis auf allgemeiner Ebene 224 4.2.1 Begriff-Sache, Denken-Tun 224 4.2.2 Normative Dimensionen 231 4.2.3 Freiheit 235 4.3 Theorie und Praxis auf gesellschaftstheoretischer und auf gesellschaftskritischer Ebene 237 4.3.1 Zur Einheit von Theorie und Praxis 239 4.3.2 Zur Autonomie von Theorie und Praxis 256 4.3.3 Zum angeblichen Praxisverzicht Adornos 268 IV III. Schluss 5. Zusammenfassende Thesen 278 Siglenverzeichnis 281 Literatur 282 1 I. Einleitung 1. Zum Thema der Untersuchung 1.1 Zweck Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage zu bieten, wie das Thema „Theorie und Praxis“ bei Adorno zu verstehen sei oder – etwas konkreter formuliert –, wie Theorie und Praxis in der kritischen Gesellschaftstheorie Adornos als einzelne Momente näher bestimmt sowie in ihrem Verhältnis zueinander begriffen werden können. Dabei halte ich es aus noch zu erläuternden Gründen (siehe 1.3) für sinnvoll, mich zunächst mit den notwendigen Voraussetzungen einer fundierten Darstellung des Themas zu beschäftigen. Das heißt nicht, dass ich mich der Frage nach einer Bestimmung von Theorie und Praxis bei Adorno entziehe – im Gegenteil: Auf der zu erarbeitenden Grundlage der notwendigen Voraussetzungen kann man, so denke ich, dem Thema näher kommen als eine Darstellung, die die Untersuchungsfrage direkt angeht, dabei aber diese Voraussetzungen vergisst. Meine Absicht, Theorie und Praxis in der Gesellschaftstheorie Adornos zu untersuchen, impliziert eine Einschränkung, die ich hier ausdrücklich betonen will, um Missverständnisse zu vermeiden: In der vorliegenden Arbeit geht es um eine Analyse der Soziologie und Philosophie Adornos, um die Beschäftigung mit einer bestimmten Theorie also. Mein primäres Interesse gilt nicht der Frage, wie und ob Adorno versuchte sein Denken in die politische und sonstige Praxis umzusetzen. Mit dem Verzicht auf die Untersuchung der tatsächlichen politischen Praxis Adornos wird dem Thema zweifelsohne einiges von der Brisanz genommen, die es vor über dreißig Jahren gehabt haben mag. Damalige Diskussionen gipfelten in dem Vorwurf, Adorno habe sich inkonsequent verhalten, indem er sich der Revolte der Studierenden, die sich sozusagen als (praktische) 2 Exekutive seiner Theorie sahen, nicht bedingungslos, sondern höchstens teilweise anschloss. Meine Ausführungen werden zwar auch auf Material zurückgreifen, in welchem Adorno zu diesem Vorwurf Stellung nimmt, doch nur weil es Aufschluss gibt über seine theoretische Auffassung bezüglich des Problems. Denn erst wenn einigermaßen geklärt ist, wie Adorno das Theorie- Praxis-Problem theoretisch gefasst hat, kann beurteilt werden, ob und inwieweit der Vorwurf der praktischen Inkonsequenz überhaupt berechtigt ist! 1.2 Warum dieses Thema? Wer sich mit Adornos kritischer Theorie auseinandersetzen möchte, dem stellt sich das hermeneutische Problem, dass einzelne Aspekte seines Denkens nicht zu verstehen sind ohne die ganze Theorie und die ganze Theorie nicht zu verstehen ist ohne die darin enthaltenen einzelnen Aspekte. Diese Feststellung scheint einerseits trivial zu sein, da sie auf jede Theorie zutreffen mag und unter der Bezeichnung „hermeneutischer Zirkel“ längst bekannt ist, doch andererseits trifft sie die Beschäftigung mit Adorno in besonderem Maße, weil dieser, so behaupte ich zunächst ohne Beleg, in vollem Bewusstsein dieses Zirkels sein Denken formiert. Eine Untersuchung von Theorie und Praxis scheint mir vor diesem schwierigen Hintergrund besonders geeignet zu sein, weil sie beide Bewegungen des hermeneutischen Zirkels, vom Ganzen zum Einzelnen sowie umgekehrt, berücksichtigen muss. Denn zum einen ist der Untersuchungsgegenstand Theorie & Praxis ein allumfassender, unter den alle anderen besonderen Einzelthemen, die sich überhaupt denken lassen, eingeordnet werden können. Das nötigt mich geradezu, allgemeine Aussagen über die kritische Theorie, also über einzelne Aspekte hinaus, zu treffen – was dann auf die Beschäftigung mit vielen einzelnen Aspekten zurückwirken mag. Zum anderen kann Theorie & Praxis selbst als einzelner Aspekt der kritischen Theorie betrachtet und als solcher untersucht werden, um von ihm aus die Theorie als Ganze zu fundieren. Wie in einem Vexierbild wechselt so die Perspektive auf das Thema: Theorie & Praxis einmal als Oberkategorie, die alles unter sich 3 einschließt, dann aber auch wieder als spezielle Dimension eines anderen Übergeordneten. Außerdem wird in der Forschungsliteratur (siehe Kapitel 2) Adornos Auffassung bezüglich Theorie und Praxis nicht selten als die Schwachstelle seiner kritischen Theorie erachtet. Der Ausdruck „Schwachstelle“ legt nahe, dass zunächst nicht die Theorie als Ganze gemeint ist, sondern nur ein einzelner Aspekt derselben. Damit stellt sich aber folgende Frage: Handelt es sich, erstens, um einen isolierten/isolierbaren Fehler oder, zweitens, ist diese angebliche Schwachstelle Ausdruck einer grundsätzlich verfehlten Theorie bzw. wirkt sie sich auf die Theorie als Ganze aus? Die meisten Kritiker Adornos würden wohl eher die zweite Möglichkeit bejahen (siehe 2. Kapitel), was plausibel ist, wenn der oben eröffnete enge Zusammenhang zwischen der kritischen Theorie und den darin enthaltenen einzelnen Aspekten, zwischen dem Ganzen und seinen Teilen also, stichhaltig ist und einer dieser einzelnen Aspekte zudem eine Schwachstelle darstellt. Falls also die Konzeption von Theorie und Praxis sich als mangelhaft erweisen sollte, dann zugleich die ganze Theorie. Mit anderen Worten: Ich vermute, dass die kritische Theorie Adornos ohne dessen spezifisches Verständnis von Theorie & Praxis nicht zu haben ist, und umgekehrt. Das bedeutet aber zugleich: Sollte sich die Kritik an Adornos Auffassung von Theorie & Praxis selbst als kritikwürdig erweisen, sollte nicht einmal die offensichtlichste Schwachstelle eine sein, dann müsste in diesem Falle auch die Einschätzung der kritischen Theorie im gesamten überdacht werden. 1.3 Mittel Dem Ziel einer Darstellung von Theorie und Praxis in der kritischen Theorie Adornos versuche ich mich auf einem scheinbaren Umweg zu nähern, insofern dass es mir zunächst wichtig erscheint, auf grundlegende Merkmale der spezifischen Argumentationsweise Adornos einzugehen. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang lautet: Wie sind seine Argumente bezüglich verschiedener Gegenstände – darunter eben auch Theorie & Praxis – zu verstehen? 4 Als allgemein anerkannt gilt zwar, dass Adorno dialektisch argumentiert, doch leider verschiebt das nur meine Hauptfrage zu der, was unter einer dialektischen Argumentation Adornoscher Prägung zu verstehen sei. Warum dann überhaupt dieser offensichtliche Umweg, sich zunächst mit der Argumentationsweise Adornos zu beschäftigen, wenn es doch auch möglich wäre, direkt in die Theorie-Praxis-Diskussion, inhaltlich also, einzusteigen? Zwar mag mein Vorgehen nicht generell angebracht sein, aber sehr wohl aufgrund des derzeitigen Standes der Forschungen zu Adorno. Viele dieser Forschungen sind meiner Ansicht nach in eine Sackgasse geraten, gerade weil sie an der besonderen, das heißt dialektischen Argumentationsweise Adornos vorbeisehen, damit aber auch die wesentlichen inhaltlichen Punkte seiner kritischen Theorie gar nicht treffen; denn bei Adorno – so behaupte ich – sind Form und Inhalt in besonderer Weise, nämlich bewußt reflexiv, miteinander verknüpft. Das heißt, auch wenn die genauere Bestimmung der spezifischen Argumentation Adornos ein schwieriges Unterfangen ist, so ist sie doch zum Verständnis seiner kritischen Theorie unerläßlich. Was Dieter Wandschneider im folgenden bezüglich Hegel schreibt, gilt deshalb in gleichem Maße für Adorno. „Die Frage, was Dialektik sei, ist bisher außerordentlich kontrovers diskutiert worden und insoweit noch ohne befriedigende Antwort. Das ist eine unerfreuliche Situation: Nicht nur daß damit unqualifizierter Polemik Tür und Tor geöffnet ist; auch das objektiv-idealistische Programm Hegels ist so sehr mit der Möglichkeit einer dialektischen Logik verknüpft, daß es mit dieser steht und fällt. Es ist daher ein dringliches Desiderat, über die Stringenz dialektischer Argumentation Klarheit zu gewinnen.“ (Wandschneider 1995, S. 9; kursiv Gedrucktes im Original) Man ersetze den Ausdruck „das objektiv-idealistische Programm Hegels“ durch „die kritische Theorie Adornos“ und erhalte eine ebenso zutreffende Aussage. Daraus lässt sich die grundlegende These der vorliegenden Arbeit ableiten. Sie lautet: Wer verstehen will, wie in der kritischen Gesellschaftstheorie Adornos 5 Theorie & Praxis als einzelne Momente bestimmt sind sowie sich zueinander verhalten, der kann dies nur vor dem Hintergrund seiner spezifisch dialektischen Argumentationsweise. Es gilt demnach zweierlei zu klären: a) Worin besteht die dialektische Argumentationsweise Adornos? (Kapitel 3: Dialektik bei Adorno) b) Inwiefern sind Theorie & Praxis dialektisch zu verstehen? (Kapitel 4: Zur Dialektik von Theorie und Praxis bei Adorno) Was hier noch fein säuberlich getrennt erscheint – nach dem Prinzip: erst die eine, dann die nächste Frage –, lässt sich allerdings nicht so rigoros trennen. Wenn ich auf die dialektische Argumentationsweise Adornos, d.h. auf scheinbar bloß formale Fragen, eingehe, so werden sich inhaltliche Bezüge nicht vermeiden lassen und ich werde deshalb bereits dann über Theorie und Praxis reden, wenn es noch gar nicht offiziell angekündigt ist. Wer die nachfolgende Untersuchung und deren oftmals sehr komplexe Begründungsstruktur im Voraus überblicken möchte, dem sei empfohlen, zunächst das 5. Kapitel zu lesen, denn dort findet sich eine Zusammenfassung meiner Ausführungen in Form von knapp formulierten Thesen. 6 2. Grundlinien bisheriger Forschung Um meine Fragestellung zu präzisieren, dürfte es hilfreich sein, die bisherigen Forschungsergebnisse zum Gegenstand kurz darzustellen. Dabei ist es nach Sichtung der entsprechenden Literatur möglich, zwei Linien der Interpretation grob zu unterscheiden: Die erste sieht bezüglich der Frage nach Theorie und Praxis eine (irreparable) charakteristische Schwachstelle bei Adorno, die zweite nicht. Beide Linien sollen in den folgenden Abschnitten (mit den Überschriften „Kritische Standpunkte“ und „Zustimmende Standpunkte“) näher betrachtet werden. 2.1 Kritische Standpunkte Wie in der Einleitung erwähnt (siehe 1.2), lässt sich eine Vielzahl von Positionen ausmachen, die alle gemeinsam haben, dass sie den Theorie-Praxis- Komplex als eine wesentliche Schwachstelle der kritischen Theorie Adornos erachten. Diese Ansätze gelangen ebenso wie Teile der 60er-Jahre- Studentenbewegung zu der Ansicht, Adornos Haltung sei die des generellen Praxisverzichts gewesen. Doch während viele Studentenvertreter der theoretischen Analyse und Diagnose Adornos immerhin zustimmten und ihm „lediglich“ mangelndes praktisches Engagement vorwarfen, sehen die hier zu behandelnden Einschätzungen diesen Bruch schon in Adornos Theorie angelegt: der Praxisverzicht sei nur folgerichtig, nämlich einer falschen oder mindestens fragwürdigen Theorie geschuldet. Genau auf diese vermeintlichen innertheoretischen Schwierigkeiten zielt Reinhard Kager, wenn er schreibt: „Die Theorie [gemeint ist die kritische Theorie – Anmerkung H.K.], deren Wahrheitsanspruch ursprünglich an die Forderung gebunden war, in praktischer Absicht geschrieben worden zu sein, muß, indem sie ihren Ansatz konsequent und ohne Inkonsistenzen entwickelt, am Ende der Analyse absurderweise das Verdikt aussprechen, daß jegliche vernünftige gesellschaftspolitische Praxis unmöglich sei – das ist die eigentliche Aporie der kritischen Theorie.“ (Kager 1988, 128)
Description: