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Vorlesungen Uber Allgemeine Konstitutions- und Vererbungslehre: Fur Studierende und Arzte PDF

224 Pages·1923·15.88 MB·German
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VORLESUNGEN DBER ALLGEMEINE KONSTITUTIONS UNDVERERBUNGSLEHRE FUR STUDIERENDE UND ARZTE VON DR. JULIUS BAUER PRlVATDOZENT FUR INNERE MEDIZIN AN DER UNIVERSITAT WIEN ZWEITE VERMEHRTE UND VERBESSERTE AUFLAGE MIT 56 TEXTABBILDUNGEN BERLIN VERLAG VON JULIUS SPRINGER 1923 lSBN-13: 978-3-642-98856-1 e-lSBN-13: 978-3-642-99671-9 DOl: 10.1007/978-3-642-99671-9 Alie Reohte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Spraohen, vorbehalten. Copyright by Julius Springer in Berlin. Vorwort znr ersten Anflage. Die individuelle Konstitution als Ausdruck samtlicher in der Erb masse eines Individuums enthaltenen Anlagen, ob sie nun im Lame des Lebens manifest werden oder latent bleiben, ist in den letzten Jahren stark in den Vordergrund des medizinischen Interesses getreten. Sie bei der atiologisch-pathogenetischen Betrachtung, bei der Diagnose, Prognose und Therapie richtig einzuschatzen, ist heute eine unerlaB Hche Pflicht des Arztes, auf welchem Spezialgebiet immer er sich be tatigt. Um so dringender ist fiir ihn das Bediirfnis, sich. mit dem Wesen der Konstitution und mit den Gesetzen wes Werdens, wer BeeinfluB barkeit und Bedeutung fiir krankhaftes Geschehen vertraut zu machen. Diese Kenntnis wird durch die allgemeine Konstitutions- und Vererbungs lehre vermittelt. Da eine kiirzere und doch das Wichtigste umfassende Darstellung der in Betracht kommenden Vorgange, also eine Art Physio logie und allgemeine Pathologie der Erbmasse, bisher nicht fiir den Gebrauch des Mediziners vorliegt - Marti us' Standardwerk ist fiir diesen Zweck wohl schon etwas zu umfangreich - so entschloB ich mich einem Wunsche meiner Rorer Folge leistend zur Rerausgabe dieser Vorlesungen. Mogen sie zur Verbreitung der Kenntnisse und des Verstandnisses der normalen und krankhaften Erbmasse beitragen! Wien, im April 1921. J. Bauer. Vorwort znr zweitell Anflage. Nach kaum zwei Jahren soIl also schon die Neuauflage folgen. lch habe mich bemiiht, vieles leichter verstandlich darzustellen, vor aHem aber die Vorlesungen iiber Vererbungsgesetze weitgehend zu erganzen und dem heutigen Stande unseres Wissens anzupassen. Selbstverstand Hch sind auch in anderen Abschnitten vielfach Erganzungen und Erwei terungen auf Grund eigener und fremder Forschungen notwendig ge worden. Fran Dr. Berta Aschner danke ich fiir die Besorgung des Sachverzeichnisses. Wien, im JuIi 1923. J. Bauer. Inhaltsverzeichnis. Seite Erste Vorlesung. Wesen und Ziele der Konstitutionspathologie Zweite Vorlesung. Die individuelle Variabilitat, ihre GesetzmaBigkeitund MeBbarkeit 10 Dritte Vorlesung. Die Ursachen der individuellen Variabilitat . • . 27 Vierte Vorlesung. Die Ahnlichkeit del' Individuen. - Zwillinge. - Verwandtschaft. - Korpel'- verfassung, Konstitution, Kondition. Genotypus und Phanotypus •. 42 Ftinfte Vor les ung. Verel'bung. Statistische (Galtonsche) Vererbungsgesetze. Die stete Neu- kombination und die Kontinuitat des Keimplasmas. Del' Ahnenverlust 60 Sechste Vorlesung. Die experimentell-biologisehen (Mendelschen) Verel'bungsgesetze 70 Sie ben te Vorlesung. Die Mendelsehen Vel'erbungsgesetze beim Menschen. Die gesehleehts- gebundene Verel'bung • . . . . • • . • . • . .. • . . • .. 96 Achte Vorlesung. Die Phanomenologie del' Konstitution. Die Konstitutionsanomalien. Abartung und Entartung. Status degenerativus . .. . . . . . . .. 134 N eun te Vorlesung. . Die Blutdrtisen. Das Prinzip del' dreifachen Sicherung. Die individuelle Blut- drtisenformel . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . 143 Zehnte Vorlesung. Systematik der Konstitution . . . . . . . . . . 162 Elfte Vorlesung. Die partiellen konstitutionellen Minderwertigkeiten 190 Zwolfte Vorlesung. Konstitution - Rasse-Gesellsehaft. Der Konstitutionsstatus 206 Saehverzeichnis ....•.............. 216 Erste Vorlesung. Wesen und Ziele der Konstitutionspathologie. M. H.! Als Sie naeh entspreehender Vorbildung . an das Studium del' speziellen Pathologie herantraten, wur!;len Sie dureh klinisehe Vor lesungen und Lehrbiieher mit einer groBen Anzahl versehiedener Krank heiten bekannt gemaeht. Sie lernten aus einer ungeheuren Menge mannig faeher Symptome, die sieh aus del' Untersuehung des kranken Mensehen und seiner Ausseheidungen ergeben, eine groBe Reihe typiseh wieder kehrender Kombinationen kennen, welehe Sie zurAufstellung bestimmter Diagnosen befahigte. Diese typisehen Symptomgruppierungen und del' typisehe VerIauf der betreffenden Gesundheitsstorung bereehtigen Sie, den Krankheitsfall mit einer bestimmten Etikette zu versehen und ihn in das System von Krankheiten einzuordnen, mit welehem Sie im Laufe Ihres Studiums vert,raut gemaeht wurden. Es hat also den Anschein, daB es ausreiehend ist, sieh eine geniigende Sieherheit und Fertigkeit im Auffinden del' einzelnen Krankheitssymptome anzueignen, d. h. also die klinisehen Untersuchungsmethoden zu beherrsehen und gut zu beobachten, um eine Diagnose stellen und damit eine zweekentspreehende Behandlung einleiten zu konnen. In Wirklichkeit steht es abel' mit del' Ausiibung des arztliehen Berufes nieht ganz so. Daher die so haufige Enttausehung des jungen Arztes, del', auf seine unzweifelhaften Kenntnisse poehend, den Aufgaben der Praxis mit dem Gefiihl del' Sieherheit entgegen getreten ist und nun sieht, daB zu diesen Kenntnissen noeh etwas anderes gehort, was den guten 'Arzt ausmaeht, und das ist Erfahrung und eine ganz bestimmte Begabung, diese Erfahrungen zweekdienlieh zu ver werten. Warum ist das So 1 Was del' junge Arzt wahrend seiner Studienzeit kennen gelernt hat und gelernt haben kann, sind "Krankheiten" und Krankheiten sind Abstraktionen beobaehteter Vorgange, sind sogenannte Fikt,ionen, d. h. zweekmaBige Denkgebilde ohne reale Grundlage 1); womit es abel' der Arzt spateI' zu tun bekom~t, sind Kranke, sind Mensehen, an denen sieh die Lebensvorgange in einer von del' Norm abweiehenden, fiir das be treffende Individuum sehadliehen odeI' gefahrliehen Weise abspielen. Wenn aueh diese krankhaften Vorgange gewisse Typen erkennen, sieh in ein System bringen und einordnen lassen, so ist dieses System doeh 1) Vgl. H. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. 3. Auf!. Leipzig: F. Meiner 1918; Rich. Koch: Die arztliche Diagnose. Beitrag zur Kenntnis des arztlichen Denkens. 2. Auf!. Wiesbaden: J. F. Bergmann 1920. Bauer, Konstitutionslehre. 2. AutI. 1 2 Erste Vorlesung. kein unwandelbares, natiirliches und abgeschlossenes, sondern immer ein mehr oder minder unvollkommenes, erganzungs- und korrektur bediirftiges. So ist es vielfach umstritten, ob gewisse Symptomgrup pierungen einfach als "Symptomenkomplexe" oder "Syndrome" an gesehen oder ob sie als Entitaten in den fiktiven Begriff der "Krankheiten" aufgenommen werden sollen. Da sich schon im gesunden Zustande die einzelnen menschlichen Organismen morphologisch und funktionell nicht vollkommen gleichen, so ist von vornherein zu erwarten, daB sich auch krankhafte Betriebs stOrungen in den einzelIten Organismen nicht immer vollkommen gleichen werden, mogen sie auch durch dieselben auBeren oder inneren ursachlichen Momente bedingt sein. Vor allem spielt der individuell sehr differente Zustand, die sehr verschiedene Empfindlichkeit und Reaktionsweise der nervosen Zentralorgane eine groBe Rolle, denn, was einen Kranken zum Arzt fiihrt, sind nur in der Minderzahl der Falle objektive Krank heitserscheinungen, in der iiberwiegenden Mehrzahl sind es krankhafte subjektive Empfindungen, die durch eine BetriebsstOrung im Organismus hervorgerufen, bei den einzelnen Individuen sehr verschiedene Grade erreichen und sehr vel'schiedene Reaktionen auslOseil konnen. Es sind also die haufigen Atypien im Krankheitsbilde und Krankheits verlauf, wie sie vor aHem durch die individueHen Unterschiede im Korper bau und in der feineren Organisation bedingt werden, welche eine ent sprechende Erfahrung von seiten des Arztes erfordern, und es ist die an die intuitive Tatigkeit des Kiiustlers gemahnende psychologische Fahigkeit, allerlei individueHe Besonderheiten, das Wesen der ganzen Personlichkeit des Kranken rasch zu erfassen und dessen Verhalten gegeniiber den BetriebsstOrungen in seinem Organismus gewissermaBen vorauszusehen, die die spezieHe arztliche Begabung ausmacht. Was von dem Erfassen individueller Besonderheiten in bezug auf Diagnose und Prognose gilt, das spielt eine noch weit groBere Rolle in der Therapie. Die Therapie des guten Arztes darf sich nicht bloB darauf beschranken, aus dem Wissens born der Pharmakologie zu schopfen, sie muB in allererster Linie, bei der medikamentOsen wie bei der physikalisch-diatetischen und psychi schen Behandlung, Besonderheiten der Personlichkeit beriicksichtigen. Die mannigfachen Differenzen im korperlichen und geistigen Ver halten der einzelnen Individuen aus der Sphare mehr kiiustlerischer Intuition, in der sie dem guten Arzte seit jeher ins BewuBtsein kamen, in das Gebiet wissenschaftlichel' Erfol'schung hiniibel'zuleiten, ist das Ziel del' Konstitutionspathologie. Es mag zllIlli.chst den Anschein haben, als stiiude dieses Ziel der Konstitutionspathologie in einem gewissen Gegensatze zu den sonstigen Prinzipien einer Wissenschaft, denn Wissen schaft heiBt nicht nur analysieren, sondern auch ordnen und klassifizieren und die Konstitutionspathologie scheint zunachst bloB die analytische Tatigkeit anzustreben, ja genauer genom:men, scheint sie sogar eine Klassi fikation auszuschlieBen, wenn wir uns einer Vberlegung Rich. KochR erinnern. "Nicht erkennbar ist die Individualitat, denn dieser Begriff schlieBt die Erkennbarkeit aus. Erkennbar ist nur, was sich wiederholt. Die Individualitat wiederholt sich aber iiberhaupt nicht." Wir werden Wesen und Ziele der Konstitutionspathologie. 3 indessen im Verlaufe unserer Besprechungen auf diesen Punkt, auf die Klassifikation und Systemblldung in der Konstitutionspathologie noch ausfiihrlich zu sprechen kommen. Wir wollen nur noch erwahnen, daB Arzt und Kiinstler auch darin einen gemeinsamen Beriihrungspunkt haben, daB sie beide gerade an individuellen Besonderheiten interessiert sind - im diametralen Gegensatz zum Juristen. Die Begriffe Biiro kratismus und Amtsschimmel kennzeichnen ja die strengste Befolgung eines fiktiven Systems unter extremer Nichtbeachtung der dem System zuwiderlaufenden individuellen Spezialfalle. Wollen wir nun unsere bisherigen Auseinandersetzungen nochmals kurz zusammenfassen: Die Kenntnis der vielfachen individuellen Differenze:p. im Bau, in der Organisation, Funktionsfahigkeit und Reaktionsweise des Korpers ist fiir den Arzt von groBter Wichtigkeit, da diese Differenzen die Symptomatologie krankhafter Betriebsstorungen und deren Verlauf wesentlich beeinflussen, ihnen somi t fiir Diagnose, Prognose und Thera pie eine nicht zu unterschatzende Bedeutung zukommt. Diese wissenschaftliche Kenn tnis vermi ttel t die Konsti tu tions pa thologie. Da jede rationelle arztlicheTatigkeit von dem Verstandnis der Genese eines krankhaften Vorgangs ausgehen muB, so fallt die Bedeutung indi vidueller Differenzen der Korperbeschaffenheit auch vom atiologischen und pathogenetischen Standpunkt stark ins Gewicht. Es ist ihnen allen gewiB schon aufgefallen, daB fiir die Entstehung einer Krankheit nur ganz ausnahms~eise ein einziges atiologisches Moment in Betracht kommt, in der weitaus iiberwiegenden Mehrzahl der FaIle ist das Zusammen wirken einer ganzen Reihe atiologischer Faktoren fiir die Entwicklung einer Krankheit erforderlich. Erleidet jemand eine Verbrennung, ver giftet er sich mit einer gehorigen Dosis Zyankali oder wird er von einem malariainfizierten Anopheles zum erstenmal in seinem Leben gestochen, dann kommt neben dem betreffenden einen exogenen atiologischen Moment ein zweites kaum in Betracht. Anders ist es schon, wenn sich jemand eine Erfrierung der Zehen, eine chronische Nikotinvergiftung oder eine Tuberkulose zuzieht, wenn er an einem Magengeschwiir oder einem Diabetes erkrankt. Hier spielen nur zum Tell bekannte auBere physikalische, chemische und infektiose Einfliisse eine atiologische Rolle, zum anderen Tell muB eine Interferenz mehr oder minder zahlreicher, dem Organismus selbst innewohnender Bedingungen, sei es mit diesen auBeren Einfliissen, sei es auch ohne sie erfolgen, damitsich das betreffende Krankheitsblld entwiclde. Die Tatsache der Multiplizitat atiologischer Faktoren ent spricht iibrigens nur der ganz allgemein fiir das Geschehen in der Natur giiltigen Regel, daB ein Vorgang durch eine Summe bedingender MQmente zustande zu kommen pflegt. Deshalb ja auch der Gegen sat;z; in den Auffassungen und Bezeichnungen dieser atiologischen Mo mente bei den sogenannten Kausalisten einerseits und den Kon ditionalisten andererseits. Die extremen Konditionalisten (Ver worn) gehen so weit, den Ursachenbegriff iiberhaupt fallen zu lassen. 1* 4 Erste Vorlesung. Es gebe gar keine Ursache im Sinne eines Ereignisses, an welches ein anderes als Wirknng nnabanderlich gebunden ware, denn ein gesetz maJ3iger Vorgang oder Zustand sei nie eindeutig bestimmt durch eine einzige Ursache, sondern immer nur durch eine Reihe von Beding ungen, die samtlich gleichwertig, weil sie eben samtlich notwendig seien. Dieser extreme Standpunkt erscheint gemildert nnd korrigiert durch die Annahme von Haupt- oder notwendigen Bedingnngen nnd Ersatz- oder substituierbaren Bedingnngen (v. Hansemann). Auf der anderen Seite bemiihen sich die Kausalisten urn die Fassnng nnd Definition des doch nnentbehrlichen Begriffes der Ursache 1). Wir wollen den Sach verhalt an Hand eines speziellen Beispieles iiberdenken, urn einen Stand punkt in dieser prinzipiell wichtigen Frage zu gewinnen. Unter den atiologischen Faktoren der Pneumonie ist ein jeweils ver schiedenartiger mikrobieller Erreger unerlaBlich, eine eigenartige, ihrem Wesen nach nns nnbekannte individuelle DisposItion des Lnngengewebes - den gewohnlichen Modus del' Infektion vorausgesetzt - wahrscheinlich gleichfalls absolut erforderlich, eine Erkaltting, ein Trauma, Alkoholismus u. dgl. dagegim fakultativ nnd variabel. Dariiber herrscht ja volle Einig keit. Der Unterschied der einzelnen atiologischen Faktoren besteht also ausschlieBlich darin, daB die einen unerlaBlich, obligat, die anderen dagegen entbehrlich nnd substituierbar sind; aber selbst wenn beide obligate Faktoren in Wirksamkeit treten, muB noch keine Pneumonie resultieren, wenn nicht einer oder der andere der substituierbaren Fak toren hinzukommt. Von einem absolut konstanten Kausalzusammen hang kann also keine Rede sein, von einer Ursache der Pneumonie im eigentlichen Sinne des Wortes kann nicht gesprochen werden. Anders in den oben angefiihrten Fallen von Verbrennnng, Zyankalivergiftnng oder Malaria. Wird hier der atiologische Faktor wirksam, dann ist die absolute Konsequenz die Krankheit, hier konnen wir also von einer Krankheitsursache sprechen. Gesetzt den Fall, es handle sich nun nicht urn die Vergiftnng mit einer "gehorigen Dosis" Zyankali, sondern urn die perorale Einverleibnng einer eben noch vom gewohnlichen Durch schnittsmenschen ohne Krankheitserscheinnngen tolerierten Giftdosis, dann werden von einer Anzahl Menschen ceteris paribus nur etwa jene erkranken, welche infolge einer gerade bestehenden Obstipation das Gift langer in ihrem Darmtrakt beherbergen, welche infolge einer Erkranknng ihrer Darmschleimhaut das Gift rascher resorbieren oder es infolge einer Erkranknng ihrer Nieren weniger schnell eliminieren, deren Organismus infolge einer iiberstandenen Krankheit odeI' von Haus aus weniger widerstandsfahig ist als del' der anderen. Kurz, was bei der supponierten Zyankalivergiftnng Ursache war, das ist jetzt Bedingnng, obligate Be dingnng geworden, die nur unter Hinzutreten anderer, fallweise diffe renter, also substituierbarer Bedingungen das Krankheitsbild der Ver giftnng hervorruft. So fiihren kontinuierliche tJbergange von der Ur sache zur obligaten Bedingung und wir werden dem iiblichen 1) VgI. D. Earfurth, Entwicklungsmechanik und Kausalitatshegriff. Zeitschr. f. d. ges. Anat., Aht. 2: Zeitschr. f. Konstitutionslehre. Ed. 6, S. 1. 1920. Wesen und Ziele der Konstitutionspathologie. 5 Sprachgebrauch folgend wohl noch an mancher Stelle das Wort Ursache verwenden, wo eigentlich die Bezeichnung obligate Bedingung allein zutreffend ware. Die bei der Entstehung von Krankheiten wirksamen atiologischen Momente werden in exogene und endogene unterschieden, je nachdem sie auBerhalb oder innerhalb des erkrankten Organismus gelegen sind. Dort, wo beiderlei. exogene und endogene Momente beteiligt sind - und das ist in der iiberwiegenden Mehrzahl der Erkrankungen der Fall - stehen naturgemaB die einen im umgekehrten Verhaltnis zu den anderen. Steigt die Valenz der einen, so sinkt die der anderen. Man hat das in die Formel gekleidet K = :" wobei K die Krankheit, .S die ursachliche exogene Schadlichkeit und W den Widerstand bedeutet, den der Organis. mus dem Entstehen und der Entwicklung des Leidens entgegensetzt. Diesem Widerstand umgekehrt proportional ist nun das, was wir als Krankheitsdisposition (D) bezeichnen. D = ~,daher alsoK = S.D. Die tagliche Erfahrung lehrt nun, daB diese Disposition je nach den in Betracht kommenden Krankheiten und je nach dem betroffenen Indi· viduum in weitesten Grenzen variiert. Es gibt auf der einen Seite Er· krankungsformen, welche sich vollkommen unabhangig von der indio viduellen Korperbeschaffenheit bloB auf Grund exogener Noxen ent· wickeln - wir haben oben solche Beispiele angefiihrt - und es gibt am anderen Ende der Reihe Erkrankungstypen, die sich lediglich auf Grund des Vorhandenseins einer bestimmten individuellen Korperbeschaffenheit entwickeln konnen, ohne daB irgendwelche exogenen atiologischen Mo· mente mitzuwirken brauchten. Dazu gehoren beispielsweise gewisse, so· genannte heredodegenerative Systemerkrankungen des Nervensystems, die Otosklerose, gewisse Erkrankungen der Drusen mit innerer Sekretion u. a. Die Krankheitsdisposition kommt also fiir gewisse Erkrankungen iiber· haupt nicht in Betracht, bei anderen bildet sie einen atiologisch mit· wirkenden Faktor, eine Bedingung, sei es bloB eine substituierbare oder aber eine obligate Bedingung, bei einer dritten Gruppe schlieBlich kann sie das alleinige atiologische Moment, also die Ursache darstellen. Die individuellen Verschiedenheiten des Widerstandes gegeniiber der Entstehung und Entwicklung einer Krankheit, also die individuellen Verschiedenheiten der Disposition zu irgendeiner Erkrankung hangen naturgemaB mit den individuellen Unterschieden im Bau, in der feineren Organisation, in der Funktionsfahigkeit und Reaktionsweise der einzelnen Organe des Korpers zusammen. Es gehort daher mit zu den wich tigsten Aufgaben der Konstitutionspathologie festzustellen, ob und wieweit, auf welche Weise und aus welchem Grunde gewisse individuelle Besonderheiten der Spezies der Ent stehung oder dem Fortschreiten einer Erkrankung Vorschub leisten. Dieses Teilgebiet der Konstitutionspathologie fallt zugleich in das Bereich der Dispositionslehre. . Der Weg, den die Dispositionsforschung beschreitet, ist allerdings nicht immer der eben vorgezeichnete, der von gegebenen individuellen 6 Erste Vorlesung. Merkmalen und Eigenschaften ausgeht und sie auf ihren Schutz- bzw. Dispositionswert print. Meist handelt es sich gerade umgekehrt darum, zu erforschen, ob und welche individuellen Merkmale und Eigenschaften dafiir verantwortlich gemacht werden konnten, daB bestimmte Indi viduen ohne zureichende exogene Begriindung erkranken, d. h. unter der Einwirkung exogener atiologischer Faktoren, welche unter sonst gleichen auBeren Umstanden bei der Mehrzahl der Menschen nicht die betreffende Erkrankung hervorzurufen imstande sind. Ein GroBteil der haufig angeschuldigten exogenen atiologischen Momente gebOrt in diese Kategorie. So beispielsweise leichte Verkiihlungen, geringfiigige OCatfehler, relativ harmlose Traumen u. dgl. Es handelt sich also darum, festzustellen, ob in der Atiologie einer gegebenen Erkrankung eine besondere individuelle Disposition eine Rolle spielt, wenn ja, ob diese zu den substituierbaren oder obligaten Bedingungen gehort oder gar als echte (alleinige) Ursache der Erkrankungin Betracht kommen kann, es handelt sich ferner darum festzustellen, 0 b die betreffende atiologische Rolle der individuellen Disposition fiir samtliche oder nur fiir gewisse FaIle der betreffenden Kraukheitsart Geltung hat, und es handelt sich schlieBlich um die Auffindung und nahere Erforschung derjenigen individuellen Merkmale und Eigenschaften des Organismus, welche fiir die betreffende individuelte Krankheitsdisposition verantwortlich zu machen sind. Einige Beispiele mogen die eben dargelegten Beziehungen zwischen individuellen Besonderheiten und bestimmten Krankheitsdispositionen veranschaulichen. Gehen wir zunachst von gewissen individuellen Eigenheiten der Korperorganisation aus. Wer haufig Obduktionen beigewohnt hat, wird sich erinnern, daB die Lagerung und Lange der Darmschlingen, insbesonders des Dickdarms auBerordentlichen individuellen Schwankungen unterworfen ist. Auch Rontgenbilder vom Kolon gesunder oder wenigstens darmgesunder Menschen zeigen diese groBe individuelle Variabilitat. Gar nicht selten sieht man Z. B. eine auffallende Lange des Colon transversum oder Colon sigmoideum, wobei dann der lange Querdarm bis unter die Symphyse herabhangen oder selbst eine Schlinge bilden, das lange Sigmoid mannig fache Verbiegungen und Verschlingungen aufweisen kann. Derartige individuelle Besonderheiten der innerenOrganisation des Korpers konnen, wie gesagt, als Zufallsbefunde bei vollkommen gesunden Menschen erhoben werden. Wir werden es aber ohne weiteres verstandlich finden, wenn bei einer derartigen Korperbeschaffenheit besonders leicht Storungen der Darmpassage, Knickungen, Volvulushildung zustande kommen oder wenn harmlose entziindliche Erkrankungen eines derartig beschaffenen Darmabschnittes schlechtere Heilungsbedingungen finden als sonst. Eine besondere Lange des Dickdarms (Dolichokolie) kann somit eine individuelle Disposition zu gewissen krankhaften Storungen der Darm funktion abgeben.

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