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Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782–1848 PDF

414 Pages·2016·3.007 MB·German
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Philipp Lenhard Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782–1848 Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit Herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf, Miloš Havelka und Martin Schulze Wessel Band 4 Vandenhoeck & Ruprecht Philipp Lenhard Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782–1848 Vandenhoeck & Ruprecht Mit zwei Karten Umschlagabbildung: Grand Sanhédrin des Israélites de France (4 février 1807) d’après la peinture d’Édouard Moyse, Lithographie, 1868 Photo © Musée d’art et d’histoire du Judaïsme Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-31025-6 Der Druck dieses Buches wurde ermöglicht durch einen Druckkostenzuschuss aus Mitteln des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Internationalen Graduiertenkollegs »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts«. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Dieses Werk ist als Open-Access-Publikation im Sinne der Creative-Commons-Lizenz BY-NC-ND International 4.0 (»Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitun- gen«) unter dem DOI 10.13109/9783666310256 abzurufen. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Inhalt Vorwort: Geschichtsschreibung als Formgebung . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung 1. Wandel statt Erfindung: Eine Neubetrachtung jüdischer Ethnizität . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Auf- und Umbrüche: Das Ringen um die jüdische Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Blickpunkte: Identität, Kollektivbewusstsein, Ethnizität . . . . . . . . . . . . . . . 38 Erster Teil: Der Übergang zur Moderne 4. Tradition im Wandel: Jüdische Lebenswelten und Kollektivbewusstsein im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 5. Von anderen Menschen: Die Entstehung der Völker- und Rassenlehre . . . . . . . . . . . . . 80 6. Echte und unechte Nationen: Die Juden im Zeitalter des entstehenden Nationalismus . . . . . . . 93 Zweiter Teil: Von der Einheit zur Unterscheidung 7. Zerbrechende Tradition: Neuverortungen des jüdischen Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 8. Nichts als Religion: Die Abkopplung des Judentums vom Volksgedanken . . . . . . . . 152 9. Christliche Religion, jüdischer Stamm: Die Ambivalenz des Konvertiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 6 Inhalt Dritter Teil: Die Romantisierung des Vergangenen 10. Keine deutsche Synagoge: Orthodoxe Widerstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 11. Gemeinschaft und Tradition: Der moderne Konservativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 12. West und Ost, Schwarz und Weiß: Identifikation und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Vierter Teil: Dialektiken des Universalismus 13. Spukende Volksgeister: Der »Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden« . . . . . . . . . 259 14. Ein lebendiger Organismus: Der jüdische Hegelianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 15. Der zukünftige Völkerbund: Saint-Simonismus und jüdischer Messianismus . . . . . . . . . . . . 317 Ausblick: (Dis-)Kontinuitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Glossar hebräischer Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Vorwort: Geschichtsschreibung als Formgebung Wir alle leben mit eingeschliffenen Denkmustern und Stereotypen. Ohne sie kämen wir in der Welt nicht zurecht, denn unsere Vorstellungen, wie realitäts- fern auch immer sie im Einzelnen sein mögen, geben uns Halt und bieten Ori- entierung. Niemand kann ohne Vorannahmen in die Welt hinausgehen, weil die schiere Flut an Wahrnehmungen jeden erdrückt, der sie nicht zu strukturieren, zu gewichten und zu ordnen vermag. Ein Mensch lernt das ganze Leben, wie die Welt, in der er sich bewegt, funktioniert, wie sie aufgebaut ist und welche Mög- lichkeiten sie bereithält. Diese Suche nach Orientierung hört niemals auf und ständig können bisherige Gewissheiten an der Macht des Faktischen zerschel- len. Problematisch wird es, wenn wir uns der Erfahrung verschließen; wenn wir die Erkenntnis nicht zulassen wollen, dass wir uns bislang in unseren Anschau- ungen geirrt haben könnten. Dann verhärten sich Stereotype zu Ressentiments und die Anschauung der Welt verwandelt sich in eine Weltanschauung. Geschichtsschreibung als Formgebung des Sinnlosen Man könnte die Wissenschaft als großangelegtes Unternehmen zur Infrage- stellung alter Gewissheiten bezeichnen. Ähnlich den Naturwissenschaften ver- suchen auch Historiker, Hypothesen, die mitunter gar als Tatsachen gelten, zu falsifizieren. Oder es werden Forschungsfragen formuliert, die unbearbeite- tes Territorium erschließen sollen und dabei bisherige Erkenntnisse und Ver- mutungen korrigieren oder präzisieren. Bei diesem Verfahren entstehen, ganz wie von selbst, neue Hypothesen, alte werden gestützt oder verworfen. »Wissen- schaftlicher Konsens« ist daher, streng gesehen, ein Mythos. Tatsächlich han- delt es sich beim so genannten Konsens um einen bestimmten Aggregatzustand der Wissensproduktion, der allerdings, so naiv sollte gerade ein Historiker nicht sein, gewiss nicht kondensierte, endgültige Wahrheit ist. »Die Wahrheit hat immer einen Zeitkern«1, pflegte Theodor W. Adorno seinen Studenten im- mer wieder einzuschärfen, um sie vor Dogmatismus zu bewahren und ihnen 1 Diese Wendung findet sich u. a. im Vorwort zur Neuausgabe der Dialektik der Aufklä- rung aus dem Jahr 1969, in: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklä- rung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1998, IX. 8 Vorwort das kritische Potential von Wissenschaft zu erschließen. Gleichwohl wäre es Adorno nie in den Sinn gekommen, deshalb den Wahrheitsanspruch als solchen aufzugeben – vielmehr war es ihm um eine gesellschaftstheoretische Situierung von Erkenntnis zu tun. Sein Werk ist ein einziges Zeugnis dafür, Erkenntnis geschichtlich zu verstehen und zugleich Geschichte als von gesellschaftlicher Zwangslogik Ergriffenes zu dechiffrieren. Geschichte ist keine zufällige An- sammlung von toten Fakten, sondern das Übergreifen gesellschaftlicher Dyna- miken auf die Zeit. Damit kann auch eine historiographische Arbeit niemals ein unschuldiges Unterfangen sein, in dem Begebenheiten einfach zu einer zusam- menhängenden Darstellung addiert werden. Vielmehr sind stets jene Ebenen in Betracht zu ziehen, welche die Bedingungen geschichtlicher Ereignisse darstel- len – gesellschaftliche, politische, ökonomische Voraussetzungen und Kontexte, ohne die weder Wandel noch Kontinuität zu verstehen sind.2 Dies gilt nicht nur für die Vergangenheit: Auch seine eigene Zeit, seine eigenen Abhängigkeiten und Beschränkungen muss der Historiker berücksichtigen. Wissenschaft und Gesellschaft, Begriff und Sache, sind daher stets aufeinander zu beziehen, der Historiker muss die Form des Gegenstandes und deren Darstellung reflektieren. Handelt es sich um ein weithin zufällig gewähltes »Thema«, um ein Forschungs- feld, das erfunden wurde, um den Historiker zu beschäftigen? Oder steckt im Gegenstand das Potential, Antworten auf Fragen zu finden, die den beschränk- ten Horizont der Untersuchung übersteigen? Vermögen die gewonnenen Ergeb- nisse die Erkenntnis der Gegenwart zu verbessern, weil sie etwas Unabgegolte- nes erfassen, das noch ins Jetzt hineinragt? Die vorliegende Arbeit hat den Anspruch, nicht nur eine »Lücke« zu schlie- ßen, sondern die Geschichte der Modernisierung des Judentums aus einer an- deren, bislang nicht berücksichtigten Perspektive in den Blick zu nehmen. Die zentrale These lautet, dass jüdische Ethnizität – also das Bewusstsein, einer spe- zifisch jüdischen Abstammungsgemeinschaft anzugehören3 – im Prozess die- ser Modernisierung eine bedeutsame Rolle spielte, die mit der Transformation des religiösen Bewusstseins nicht nur korrespondierte, sondern ihr teilweise auch widersprach. Die Arbeit setzt damit freilich jene anderen Erzählungen, ge- gen die sie Einspruch erhebt, immer schon voraus und kann sie bei Strafe des Verstummens nicht loswerden. Allerdings kann sie das Bekannte in einen an- deren Zusammenhang stellen, es mit bisher nicht beachtetem Quellenmate- rial konfrontieren und gerade durch die Einbeziehung und Betonung bislang nicht untersuchter Thematiken das geläufige Interpretationsschema partiell re- vidieren. Damit ist die von Theodor Lessing klug konstatierte »Sinngebung des 2 Vgl. die programmatischen Vorbemerkungen von Kittsteiner, Heinz Dieter: Die Stabi- lisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618–1715. München 2010, 23–33. 3 Zur Definition von »Ethnizität« vgl. Kapitel 3. Vorwort 9 Sinnlosen«, welche die Geschichtsschreibung betreibe, nicht außer Kraft ge- setzt.4 Auch durch Korrekturen und Revisionen wird der Sinnzusammenhang, den jeder Historiker, ob willentlich oder nicht, konstruiert, grundsätzlich nicht gesprengt. Ohne diesen Sinn, den der Historiker in die Geschichte hineinlegt, gäbe es kein Verstehen. Doch die Sinngebung des Historikers, welche Siegfried Kracauer – der der Geschichtswissenschaft freundlicher gegenüberstand als Lessing – erkenntnistheoretisch als »Formgebung« gefasst hat, kann immerhin versuchen, die Offenheit der Geschichte im historiographischen Entwurf selbst zum Ausdruck kommen zu lassen und damit allem Determinismus eine Absage zu erteilen.5 Es war, so schrieb Walter Benjamin in einer Vorstudie zu seinen be- rühmten Geschichtsthesen, immer möglich, die »Notbremse« zu ziehen.6 Auch wenn Benjamin die »Notbremse« emphatisch als Revolution verstand, die mit allem Bestehenden bricht, lässt sich aus seinem Gedanken auch etwas über das Begreifen von Geschichtlichkeit überhaupt lernen: Was sich als objektive Tendenz darstellt, was als historische Entwicklungslinie in den großen Büchern von Meisterdenkern postuliert wird, ist nie so eindeutig, wie es den Anschein hat. Geschichte verdankt ihre Existenz den Entscheidungen, Weigerungen, Ver- mittlungen der Einzelnen; selbst wenn sich eine Tendenz im historischen Rück- blick als übermächtig erweisen sollte, so beruht ihre Kraft doch immer auch auf der Zustimmung oder zumindest Akzeptanz von Individuen – obwohl die Ein- zelnen als Vereinzelte wenig zu bewirken vermögen.7 Geschichte ist ab ovo of- fen, widersprüchlich, kontingent. Erst im gesellschaftlichen Vollzug erstarrt sie zu jenem Objektiven, zu dem sie Ontologen des Geschichtlichen immer schon machen wollen. Benjamin und auch andere Vertreter der Kritischen Theorie be- anspruchten ganz in diesem Sinne, »Geschichte gegen den Strich zu bürsten«8, das zeitgeschichtliche Kontinuum für eine offene Zukunft »aufzusprengen«9. Diesem Imperativ fühlt sich auch die vorliegende Arbeit verpflichtet. Je- der Historiker, so positivistisch sein Selbstverständnis im Einzelfall auch sein mag und so sehr er womöglich »nur die Fakten« aufzählen will, ist demnach verpflichtet, sich mit dem Begriff dessen, was er tut – nämlich Geschichte schreiben  –, auseinanderzusetzen. Historiographie und Nachdenken über 4 Vgl. Lessing, Theodor: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen [1919]. München 1983. 5 Vgl. Kracauer, Siegfried: Geschichte – Vor den letzten Dingen. In: Ders.: Werke. Her- ausgegeben von Ingrid Belke. Bd. 4. Frankfurt a. M. 2009, 60–69. 6 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte (Vorstudien). In: Ders.: Gesam- melte Schriften. Herausgegeben von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Bd. 1.3. Frankfurt a. M. 1991, 1223–1266, hier 1232. 7 Vgl. Adorno, Theodor W.: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit [1964/65]. In: Ders.: Nachgelassene Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Abt. 4: Vorlesungen. Bd. 13. Frankfurt a. M. 2006, 102–106. 8 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Illuminationen. Aus- gewählte Schriften 1. Frankfurt a. M. 1974, 251–261, hier 254. 9 Ebd. 260.

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