Starke Frauen in der Antike Vortrag von Dr. Meyerhöfer Ich habe den Titel meines Vortrags „Starke Frauen in der Antike“ einer bekannt gewordenen Ausstellung in München entlehnt, musste jedoch bei der Vorbereitung feststellen, dass dieses Thema aufgrund der Vielzahl starker Frauen in der Antike mindestens zwei Abende füllen würde. Dieses wollte ich Ihnen jedoch keinesfalls antun! Gestatten Sie daher, dass ich mich in meiner Darstellung auf das antike Griechenland beschränke, das ja nun tatsächlich eine Fülle großer und starker Repräsentantinnen des weiblichen Geschlechts vorzuweisen hat, obwohl man sich üblicherweise die antike griechische Kultur als eine vorwiegend männlich dominierte Kultur vorstellt. Daher ist es ein Hauptziel meiner Ausführungen, einseitigen Klischeevorstellungen von Rolle und Selbstverständnis der Frauen im antiken Griechenland entgegenzuwirken und an ausgewählten Beispielen aus der Kulturgeschichte Griechenlands vom 8. bis ins 1. vorchristliche Jahrhundert die Fülle sehr individueller Lebensentwürfe und individueller Selbst- und Rollenverständnisse von Frauen in dieser Zeit zu zeigen. Beginnen möchte ich mit einem Beispiel aus dem 8. Jahrhundert vor Christus, in dem die griechische Kultur - nach dem Untergang der mykenischen Paläste - gewissermaßen zu ihrem zweiten Höhenflug ansetzt und mit dem homerischen Epos den Beginn der europäischen Literatur einläutet. Ja man könnte dieses Jahrhundert als im besonderen Maße „kulturschöpferisch“ bezeichnen, ist es doch einerseits durch die kulturgeschichtlich so folgenreiche Übernahme der Schrift von den Phöniziern sowie den Höhepunkt des sogenannten „geometrischen Stiles“ in der bildenden Kunst gekennzeichnet, erweist es sich doch andererseits auch in politischer Hinsicht durch die Gründung von Kolonien auf der Chalkidike, in Kleinasien, in Unteritalien und auf Sizilien als Jahrhundert grundsätzlichen Aufbruchs, in dem die Entstehung der beiden Großepen „Ilias“ und „Odyssee“ dann den unbestrittenen kulturellen Höhepunkt markieren. Seite 1 von 19 Arete, - Gattin des Alkinoos, des Königs der Phaiaken Als der heimkehrende Odysseus, nachdem er noch einmal - nach vielen bestandenen Gefahren - in die äußerste existentielle Gefährdung geraten ist, als Schiffbrüchiger nackt und erschöpft am Gestade der Phaiaken anlandet, findet ihn die Tochter des dortigen Königs, Nausikaa, und erteilt ihm, dem Namenlosen, zu seiner Errettung aus bitterster Not folgenden Rat: „Geh in die Stadt der Phaiaken und frage nach den Häusern meines Vaters, des großherzigen Alkinoos. Doch wenn dich Haus und Vorhof aufgenommen, so gehe ganz schnell durch die Halle, bis du gelangst zu meiner Mutter. Sie sitzt am Herde in dem Schein des Feuers und dreht meerpurpurne Wolle auf der Spindel, ein Wunder zu schauen, an den Pfeiler gelehnt, und die Mägde sitzen hinter ihr. An ihn ist dort auch der Sessel meines Vaters angelehnt, auf dem er sitzt und Wein trinkt wie ein Unsterblicher. An ihm musst du vorübergehen und unserer Mutter die Arme um die Knie werfen, damit du den Tag der Heimkehr siehst, freudig, in Eile, wenn du auch sehr weit her bist. Ist jene dir freundlich gesonnen in dem Gemüte, dann ist für dich Hoffnung, dass du die Deinen siehst und in dein gutgebautes Haus und in dein väterliches Land gelangst“ (Odyssee, 6,298-315; Übersetzung Wolfgang Schadewaldt). Auch Athene, die Göttin, die Odysseus auf seinem Weg zum Palast des Phaiakenkönigs geleitet, schildert dessen Gattin mit folgenden Worten: „Ihr Name ist Arete. Diese hat Alkinoos zu seiner Gattin gemacht und hat sie geehrt, wie keine andere geehrt wird auf der Erde. So ist jene über die Maßen geehrt worden im Herzen, und sie ist es noch: von ihren Söhnen und Alkinoos selbst und den Männern des Volkes, die auf sie wie auf einen Gott blicken und sie begrüßen mit Worten, wenn sie durch die Stadt geht. Denn es fehlt ihr auch selbst nicht an Verstand, an edlem, und wem sie wohl will, dem schlichtet sie - sogar den Männern - Streitigkeiten. Wenn diese dir freundlich gesonnen ist in dem Gemüte, dann ist für dich Hoffnung, dass du die Deinen siehst und in dein hochbedachtes Haus und in dein väterliches Land gelangst“ (Odyssee 7, 54; 66-77; Übersetzung Wolfgang Schadewaldt). Seite 2 von 19 Daraus entwickelt sich im Palast des Alkinoos dann folgende Szene: „Doch er schritt durch das Haus, der vielduldende Odysseus, bis er zu Arete kam und Alkinoos, dem König. Und um die Knie der Arete warf seine Arme Odysseus. und flehte: ‚Arete, Tochter des gottgleichen Rexenor! Zu deinem Gatten und zu deinen Knien komme ich, nachdem ich vieles ausgestanden, und zu diesen Tischgesellen, denen die Götter Segen geben mögen, dass sie leben und ein jeglicher den Söhnen den Besitz in den Hallen überlassen möge und das Amt, das ihm das Volk gegeben. Doch mir betreibt ein Geleit, dass ich ins Vaterland gelange, eilends, da ich schon lange fern den Meinen Leiden leide!‘“ (Odyssee 7, 139-152; Übersetzung Wolfgang Schadewaldt). Durch diese Wendung zu den Knien der Königin findet der Bittflehende Erbarmen und freundliche Aufnahme, die ihm dann Gelegenheit gibt, sich als Odysseus zu erkennen zu geben und den Phaiaken - in einer literarischen Rückblende, einer Erzählung in der Erzählung - seine bisherigen Irrfahrten und Leiden zu schildern. Hier wie an vielen anderen Stellen zeigt sich im Übrigen die geniale Komposition der „Odyssee“, die bereits viele Techniken moderner Erzählkunst erkennen lässt und die Überlieferung des Werkes bis auf den heutigen Tag sichergestellt hat. Statue der Arete in Ephesos – Sinnbild für Tüchtigkeit und Charakterstärke Seite 3 von 19 Das Bild der Frau, das in der Gestalt der Königin Arete in dieser Szene gezeichnet wird, zeigt sicherlich Züge der Idealisierung, zeugt aber dennoch von einem in dieser Zeit vorhandenen Bewusstsein von der Gleichrangigkeit und Ebenbürtigkeit von Mann und Frau in Familie und Gesellschaft. Diese Gleichrangigkeit wird nicht eingeschränkt durch eine deutliche Aufgabenteilung: des Mannes für den Außenbereich, der Frau für alle häuslichen Belange („sitzt am Webstuhl“) unter Einschluss dessen, was die Griechen „philoxenia“, „Gastfreundlichkeit“ nennen, über die der höchste Gott Zeus als „Zeus xenios“ persönlich wacht. Diese Gleichrangigkeit findet ihren Ausdruck vor allem in der gegenseitigen Achtung und Wahrung der Würde des anderen: „Diese hat Alkinoos zu seiner Gattin gemacht und hat sie geehrt, wie keine andere geehrt wird auf der Erde“. Dieses existentielle Aufeinander-Verwiesensein von Mann und Frau, aus dem sich ihre Gleichrangigkeit ableitet, kennzeichnet ja auch das berühmteste Paar, dessen gemeinsames Schicksal gewissermaßen die Spannungsfeder des gesamten Epos „Odyssee“ bildet: auf der einen Seite die kluge Penelope, die während der zwanzigjährigen Abwesenheit ihres Mannes zusammen mit dem erwachsenden Sohn Haus und Hof, so gut sie es eben vermag, verwaltet, sich mit List der Werbung adeliger Freier entzieht und in der unverrückbaren Hoffnung auf die Rückkehr des Verschollenen den sie tragenden Sinn ihres Lebens findet; auf der anderen Seite Odysseus, der ebenso Kluge wie „Vielduldende“, „polytlas“, wie er im Griechischen heißt, der in tausend Irrungen und Gefahren, auch manch erotischer Gefährdung von weiblicher Seite niemals Penelope als endlichen Zielpunkt seines Weges vergißt. Seite 4 von 19 Kalypso Zwischen Odysseus und Kalypso, der Göttin, die ihn unsterblich machen und auf ihrer fernen Insel als Geliebten behalten möchte, entspinnt sich, als er sie auf Beschluss der Götter verlässt, folgender Dialog, den Kalypso beginnt: Odysseus und Kalypso auf einer griechischen Vase „‘Zeusentsprossener Laertes-Sohn, reich an Erfindung, Odysseus! So willst du wirklich nach Haus, ins väterliche Land, jetzt auf der Stelle gehen? Nun, so lebe du denn wohl, trotz allem! Doch wenn du wüsstest in deinem Sinne, wie viele Kümmernisse dir bestimmt sind zu erfüllen, bevor du in dein väterliches Land gelangst, du würdest hier am Orte bleiben und mit mir dieses Haus bewahren und unsterblich sein, so sehr du auch begehrst, dein Weib zu sehen, nach der dich verlangt die Tage alle. Darf ich mich sicherlich doch rühmen, dass ich nicht schlechter bin als sie, weder an Gestalt noch auch an Wuchs, da es sich wirklich nicht geziemt, dass Sterbliche mit Unsterblichen an Gestalt und Aussehen streiten!‘ Da antwortete und sprach zu ihr der vielkluge Odysseus: ‚Herrin, Göttin! Zürne mir darum nicht! Weiß ich doch auch selber recht wohl alles: dass die umsichtige Penelope geringer ist als du an Aussehen und Größe anzusehen von Angesicht. Denn sie ist sterblich, du aber unsterblich und ohne Alter. Doch auch so will ich und begehre ich alle Tage, nach Hause zu kommen und den Heimkehrtag zu sehen. Und wollte mich auch einer von den Göttern abermals zerschmettern auf dem weinfarbenen Meere: dulden will ich es! Denn ich habe in der Brust einen leiderfahrenen Mut. Denn schon habe ich gar viel gelitten und mich viel gemüht auf den Wogen“ (Odyssee 5, 204-224; Übersetzung Wolfgang Schadewaldt). Seite 5 von 19 Penelope Meisterhaft und anrührend ist dann auch, wie der Dichter das Wiederfinden der Gatten - gewissermaßen wie in einem Dominantseptakkord, der nach endlicher Auflösung verlangt - , fast schmerzlich hinauszögert: Penelope ist nach dem Sohn Telemachos, nach dem Hund Argos, nach der Dienerin Eurykleia, nach dem Sauhirten Eumaios die Letzte, die ihren Odysseus erkennt, ja eigentlich erst nach einer ihm gestellten Probe anerkennt. Die trauernde Penelope Rückkehr des Odysseus auf einer Schale Der Panzer der Verhärtung und Entpersönlichung, der sich in zwanzigjähriger Entbehrung, Sorge und Verweigerung um ihre Seele gebildet hat, bricht erst im letzten Moment auf, in dem sie Odysseus - und damit gleichzeitig sich selbst - wiederfindet. Die europäische Literatur beginnt mit dem homerischen Epos nicht unbeholfen und anfänglich, sondern gleich mit einem Paukenschlag! Seite 6 von 19 Sappho von der Insel Lesbos. Den hohen Rang der Fra in dieser Frühzeit der griechischen Kultur repräsentiert in einzigartiger Weise auch die Dichterin Sappho von der Insel Lesbos. Der zauberhafte Klang ihrer Lieder lässt im 7. Jahrhundert vor Chr. die männlich-kriegerischen Verse des homerischen Epos in den Hintergrund treten und läutet damit gleichzeitig eine neue Epoche der abendländischen Literatur ein, die Epoche der Lyrik. Lyrik ist die Aussage eines seiner selbst in Denken, Empfinden und Individualität bewusst gewordenen Ich, das sich in seiner Einmaligkeit einer ganzen Welt gegenüberstellt. So ist diese Epoche des 7. vorchristlichen Jahrhunderts in Griechenland eine Epoche der Individualisierung, der Verfeinerung, der Vertiefung, der Ästhetisierung. Mit staunenswertem Selbst- bewusstsein stellt die Dichterin den männlichen Werten des Epos wie kriegerischem Ruhm, Kraft, militärischer Macht und Glanz der Rüstung ihre sensiblen, gefühlsgetragenen und verfeinerten Werte weiblicher Weltsicht entgegen, in deren Zentrum das in bislang unerhörter Intensität gefühlte und erlebte Phänomen der Liebe steht, des „bitter-süßen Kriechtieres“ („glykypikron orpeton“), wie Sappho die Liebe einmal nennt und damit der Ambivalenz, aber auch der Simultaneität der Gefühle einen neuen literarischen Ausdruck gibt: Seite 7 von 19 „Mancher hält das Leuchten der Segel für das Schönste auf der dämmernden Erde, mancher das Gewog der Reiter und mancher eines Heerzugs Erglänzen. Ich behaupte aber, dass alles schön ist, was wir lieben. Mühelos lässt sich’s dartun. Sie, die schöner war als die schönsten Menschen, Helena nämlich, löste sich vom Herzen des besten Mannes und verdarb das heilige Troja, ohne sich der Tochter, ohne der teuren Eltern sich zu erinnern. Denn sie war umsponnen vom Liebeszauber. Leicht verwirrt die Sehnsucht den Sinn der jungen Frauen. Heute hat sie mich an die ferne Anaktoria denken lassen. Um ihre Stirn das lichte Wehen, ihr erregendes Schreiten, lieber säh ich’s als die lydischen Wagen und den Erzglanz des Fußvolks.“ (16 LP; Übersetzung Manfred Hausmann) Seite 8 von 19 Dabei ist es nicht verwunderlich, wenn sich unter den Bedingungen der damals männlich dominierten griechischen Welt weibliche Sensibilität und erotische Verfeinerung zunächst vor allem in der Begeisterung für das eigene, das weibliche Geschlecht herausbildeten und gestalteten. Die homoerotischen Phänomene der beiden Geschlechter im damaligen Griechenland legen Zeugnis ab von einem wachsenden Spannungs- und Missverständnisverhältnis zwischen den Geschlechtern, wie es uns immer wieder in der klassischen Epoche entgegentritt. Bei gelassener Betrachtung bedarf es also gar nicht des gutgemeinten, „beruhigenden“ Hinweises mancher Interpreten, dass Sappho nach einhelliger historischer Überlieferung eine Tochter gehabt habe, was man als Beleg ihrer „Normalität“ werten dürfe. Nicht ihre Normalität ist das Faszinierende an dieser Frau, sondern ihre Einzigartigkeit, die Einzigartigkeit, mit der sie sich als Individuum erfährt, bekennt und als Person literarisch zu artikulieren vermag. Worin diese ganz neuartige literarische Artikulation besteht, mag das folgende Gedicht zeigen: „Komm hierher… zum weihevollen Heiligtum! Da blüht ein Gehölz von leichten Apfelbäumen, und auf Altären quillen Wolken des Weihrauchs. Kühle Wasser gehen gesangreich durch die Apfelzweige, Rosen beschatten alle Hänge, traumlos rieselt der Schlaf von ihren bebenden Blättern. Überblüht von Blumen der Frühlingstage sinkt die Trift ins Feuchte hinab, den Pferden Nahrung gebend. Leise veratmet seinen Ruch das Aniskraut. Komm doch, Kypris, waltend an dieser Stätte! Und im Gold der Krüge vermisch den Nektar mit dem zarten Duften der Festesfreude! Gib uns zu trinken!“ (2 LP; Übersetzung Manfred Hausmann) Seite 9 von 19 Was geschieht hier: eine äußere Landschaft verwandelt sich in eine „innere“, eine Seelenlandschaft; der logische Satzzusammenhang löst sich auf und verwandelt sich in Stimmung und Gefühl; konkrete Dinge werden zu Metaphern, Symbolen, Siglen, Chiffren mit „schwebender“ Bedeutung. Die Lyrik der Moderne wird hier im 7. Jahrhundert vor Christus gewissermaßen präludiert, wie der Vergleich mit einem berühmten Gedicht Gottfried Benns zeigt Letzter Frühling Nimm die Forsythien tief in dich hinein und, wenn der Flieder kommt, vermisch auch diesen mit deinem Blut und Glück und Elendsein, dem dunklen Grund, auf den du angewiesen. Langsame Tage - alles überwunden. Und fragst du nicht, ob Ende, ob Beginn, dann tragen dich vielleicht die Stunden noch bis zum Juni mit den Rosen hin. Mit dieser Differenzierung des literarischen Ausdrucks korrespondiert ein ganz neues Verständnis von Ruhm und Unsterblichkeit bei Sappho: Ruhm verspricht nicht kriegerische Tat wie im homerischen Epos, sondern künstlerische Sensibilität, humane Verfeinerung, literarische Kunst, oder - wie Sappho selbst sagt - „Rosen im Land der Musen gebrochen zu haben“. Seite 10 von 19
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