Tilman Lutz Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit Band 9 Herausgegeben von: Roland Anhorn Frank Bettinger Henning Schmidt-Semisch Johannes Stehr In der Reihe erscheinen Beiträge, deren Anliegen es ist, eine Perspektive kritischer Sozialer Arbeit zu entwickeln bzw. einzunehmen. „Kritische Soziale Arbeit“ ist als ein Projekt zu verstehen, in dem es darum geht, den Gegenstand und die Aufgaben Sozialer Arbeit eigen- ständig zu benennen und Soziale Arbeit in den gesellschaftspolitischen Kontext von sozialer Ungleichheit und sozialer Ausschließung zu stellen. In der theoretischen Ausrichtung wie auch im praktischen Handeln steht eine kritische Soziale Arbeit vor derAufgabe, sich selbst in diesem Kontext zu begreifen und die eigenen Macht-, Herrschafts- und Ausschließungs- anteile zu reflektieren. Die Beiträge in dieser Reihe orientieren sich an der Analyse und Kritik ordnungstheoretischer Entwürfe und ordnungspolitischer Problemlösungen – mit der Zielsetzung, unterdrückende, ausschließende und verdinglichende Diskurse und Praktiken gegen eine reflexive Soziale Arbeit auszutauschen, die sich der Widersprüche ihrer Praxis bewusst ist, diese benennt und nach Wegen sucht, innerhalb dieser Widersprüche das eigene Handeln auf die Ermöglichung einer autonomen Lebenspraxis der Subjekte zu orientieren. Tilman Lutz Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs Jugendhilfe und ihre Akteure in postwohlfahrtstaatlichen Gesellschaften Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. . . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson - dere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein- speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17137-1 Für Magda, Johanna und Gustav Inhalt Abkürzungsverzeichnis .................................................................................... 11 Einleitung .......................................................................................................... 13 Soziale Arbeit im Dilemma ........................................................................ 15 Anliegen und Gegenstand: die Akteursperspektive .................................... 17 Feld und Forschungsmethode ..................................................................... 18 Zum Aufbau der Studie – die Architektur .................................................. 20 1 Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs: der Bezugsrahmen ........................ 25 1.1 Die neue Kultur der Kontrolle: von der Integration zum selektiven Risikomanagement ....................... 28 1.2 Der aktivierende Sozialstaat: von der Versorgung zur Eigenverantwortung ....................................... 35 1.3 Die repressive Wende in der Sozialen Arbeit? Jugendhilfe im Umbruch ....................................................................... 44 1.4 Der theoretische Bezugsrahmen: Gouvernementalität der Gegenwart in der Sozialen Arbeit .................. 53 2 Die Akteursperspektive: die Tücken des Gegenstands ......................... 61 2.1 Der Blick von ‚oben’: über Wurzeln, neuere Strömungen und zentrale Konflikte .......................................... 65 2.1.1 Wurzeln und Dimensionen ........................................................ 66 2.1.2 Neuere Konjunkturen und Leitdiskurse ..................................... 69 2.1.3 Hilfe, Kontrolle und andere Dilemmata .................................... 71 2.2 Der Blick von ‚unten’: die empirische Perspektive und ihre Rezeption – wenig erforscht und viel diskutiert ..................... 75 2.2.1 Über Selbstverständnisse und deren Konstruktion .................... 76 2.2.2 Die Rezeption: früher war alles besser? .................................... 84 3 Die Studie: Anliegen und Durchführung ............................................... 91 3.1 Die Fragestellung und der Begriff des Selbstkonzeptes ....................... 92 3.2 Das Forschungsfeld: die Hilfen zur Erziehung in Hamburg ................. 97 3.3 Die Methode: Experteninterviews ...................................................... 102 8 Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs 4 Der Interviewkontext: Aktivierung und Kontrolle in Hamburg ........ 109 4.1 Hintergründe und Daten: die Entwicklung der Erziehungshilfen in Hamburg ............................ 110 4.1.1 Sozialraumorientierung und -budgetierung: ein Modellprojekt ..................................................................... 113 4.1.2 Grundsteinlegung für die Weiterentwicklung der Jugendhilfe – 2001 ............................................................. 117 4.1.3 Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung und Etablierung des Familieninterventionsteams – 2002 ........ 118 4.1.4 Sozialräumliche Angebotsentwicklung und neue Rahmenverträge – 2003 ........................................... 119 4.1.5 Der Versuch der Sozialraumbudgetierung und die Neuordnung der Hilfen zur Erziehung – 2004 ............ 122 4.1.6 Der ‚Jessica-Effekt’: Kindeswohlgefährdung verdrängt Jugenddelinquenz? – 2005 .......................................126 4.1.7 Zusammenfassung: Hilfen zur Erziehung unter Druck ............130 4.2 Eine Binnenperspektive: die Entwicklungen im Blick der Leitungskräfte ..................................135 5 Sozialarbeiter im Kontrolldiskurs ........................................................ 145 5.1 Dramatis personae: Selbstkonzepte und Verarbeitungsstrategien der Befragten ......................................... 146 5.1.1 Frau Hilt – ich arbeite trotzdem weiter .................................... 148 5.1.2 Frau Schorn – die Behördenmitarbeiterin ................................ 151 5.1.3 Frau Bick – Sozialpädagogin, nicht Sachbearbeiterin ............. 153 5.1.4 Frau Maas – Macherin zwischen Anpassung und kritischer Rhetorik ............................................................ 155 5.1.5 Frau Pant – die Resignative ..................................................... 159 5.1.6 Herr Klut – politisch und gesellschaftskritisch ........................ 162 5.1.7 Herr Ferna – unzufrieden angepasst ........................................ 165 5.1.8 Herr Ehl – die Machtlosigkeit des kleinen Rädchens .............. 168 5.1.9 Frau Gaad – die Eigenständige oder: Anpassung durch Mitgestaltung .............................................. 171 5.1.10 Herr Lorig – der ressourcenorientierte Manager ..................... 174 5.1.11 Herr Molter – Selbstbewusst und professionell durch Weiterbildung ................................... 178 5.1.12 Herr Thome – Verlust der professionellen Autonomie ........... 181 5.1.13 Grundlegende Verarbeitungsstrategien – eine erste Zusammenschau ...................................................... 184 Inhalt 9 5.2 Die Typisierung: zwischen Klientenkonzept und Hilfeverständnis ........................................................................... 190 5.2.1 Autonomie versus äußere Zwänge: Gradmesser für den Erfolg der Verarbeitung .......................... 193 5.2.2 Die Relevanz des Alltags – oder: die andere Seite der Autonomie ..................................... 200 5.2.3 Klientenkonzepte und Aktivierung: von Klienten, Kunden und Adressaten .................................... 203 5.2.4 Hilfeverständnisse im Kontrolldiskurs: von der Ablehnung bis zur sanften Adaption .......................... 233 6 Zusammenfassung und zentrale Perspektiven ..................................... 261 6.1 Klientenkonzepte versus Hilfeverständnisse? Über die Bedeutungen der Traditionen ............................................... 263 6.2 Hilfe und Kontrolle: neue Qualitäten eines alten Spannungsfeldes? .................................... 268 6.3 Aktivierende Klientenkonzepte: Weg zum Erfolg oder zurück zur Zweiklassensozialarbeit? .................................................................... 271 6.4 Sozialarbeiter im Kontrolldiskurs: Resümee und Perspektiven .......... 276 7 Glossar ..................................................................................................... 281 7.1 Hilfeplanverfahren und Erziehungskonferenz .................................... 281 7.2 Sozialraumorientierung ....................................................................... 283 Literatur .......................................................................................................... 289 Danksagung ..................................................................................................... 307 Anhang ............................................................................................................. 309 A1 Leitfaden Akteure im ASD und freien Träger .................................... 309 Abkürzungsverzeichnis ALG II – Arbeitslosengeld Zwei bzw. Grundsicherung für Arbeitsuchende DBSH – Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit DM – Deutsche Mark CDU – Christlich Demokratische Union Deutschlands DJI – Das Deutsche Jugendinstitut EK – Erziehungskonferenz FIT – Familieninterventionsteam GAL – Grün-Alternative Liste (Bündnis 90/Grüne in Hamburg) GR – Globalrichtlinie HzE – Hilfen zur Erziehung JWG – Jugendwohlfahrtsgesetz OKJA – Offene Kinder- und Jugendarbeit SAE – Sozialraumorientierte Angebotsentwicklung SPD – Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPFH – Sozialpädagogische Familienhilfe Einleitung Zu den zentralen Themen der sozialwissenschaftlichen Kriminologie zu Beginn des 21. Jahrhunderts gehören die tatsächlich oder vermeintlich gestiegene Puni- tivität sowie Debatten um soziale Ausschließung, um die parteiübergreifende Affirmation einer law and order Politik und um die sukzessive Verabschiedung des sozialstaatlichen Resozialisierungsideals zu Gunsten eines selektiven Risi- komanagements. Garland (2001)1 spricht mit Blick auf Großbritannien und die USA von einer neuen Kultur der Kontrolle, die den Strafmodernismus des Pe- nal-Welfare State ablöse. Diese betreffe jedoch nicht nur die Kriminalpolitik im engeren Sinn, sondern durch ihre Einbettung in den gesamtgesellschaftlichen Wandel auch die Institutionen des Wohlfahrtsstaates (vgl. ebd.: insbes. 92ff). Diese Kultur und die Transformationsprozesse der Spätmoderne2 haben auch vor Kontinentaleuropa nicht haltgemacht. Mit dem Umbau des Wohlfahrts- staates zum Postwohlfahrtstaat, bzw. hierzulande zum so genannten aktivieren- den Sozialstaat, werden Sicherheit und Kontrolle zu zentralen Themen in Politik, Medien, Wissenschaft und Gesellschaft (vgl. Garland/Sparks 2000: 18). Das Leitziel dieses Umbaus – die Stärkung und Aktivierung der individuellen Eigen- verantwortung der Bürger sowie der Zivilgesellschaft – wird mit der Bindung von Hilfe an Wohlverhalten verknüpft und beinhaltet verstärkt Zwangs- und Kontrollmaßnahmen, die sich primär gegen so genannte Randgruppen richten (Arbeitslose, Hilfeempfänger jeglicher Art, Kriminelle, delinquente Jugendliche, Bettler usw.). Zeitgleich führen der Um- bzw. Rückbau des Sozialstaates, die Deregulierung der Wirtschaft sowie die damit verbundene Erosion sozialer Si- 1 Es geht in dieser Studie nicht um eine Auseinandersetzung mit David Garland und seiner Kon- zeption im Besonderen (vgl. dazu bspw. die Beiträge in Hess et al. 2007). Seine Prominenz in der Einleitung ist zum einen der Bedeutung geschuldet, die The Culture of Control (Garland 2001) für die Idee, diese Studie durchzuführen und die Entwicklung der Fragestellung hatte, zum anderen der Bedeutung dieses Buches in den Diskursen um und über Soziale Kontrolle und Kontrollpolitiken im 21. Jahrhundert, die Fritz Sack (vgl. 2007a) klar und begründet dargelegt hat. 2 Die Spätmoderne wird auch mit den Schlagworten Postmoderne, Risikogesellschaft, Postfordis- mus, Neoliberalismus usw. beschrieben, die sich alle darauf beziehen, dass Gesellschaft und Ökonomie in massiver Veränderung begriffen sind. Der Übergang vom Wohlfahrtsstaat zum Postwohlfahrtsstaat begann etwa in den 1970ern zunächst im angloamerikanischen Bereich und hat spätestens in den 1990ern Kontinentaleuropa und die Bundesrepublik erreicht (vgl. Wac- quant 2000) – mit Differenzen und unterschiedlichen Ausprägungen entsprechend der länderspe- zifischen Kulturen und Wurzeln der Wohlfahrtsstaatlichkeit (vgl. bspw. Esping-Anderson 1990; 1996).