Sexuelle Gewalt und Pädagogik Martin Wazlawik Stefan Freck Hrsg. Sexualisierte Gewalt an erwachsenen Schutz- und Hilfebedürftigen Sexuelle Gewalt und Pädagogik Herausgegeben von M. Wazlawik, Münster, Deutschland A. Dekker, Hamburg, Deutschland Weitere Bände in dieser Reihe http://www.springer.com/series/13856 „Sexuelle Gewalt und Pädagogik“ – dieser Zusammenhang wird insbesondere seit dem öffentlichen Bekanntwerden von Fällen sexualisierter Gewalt in Einrich- tungen des Erziehungs-, Bildungs- und Sozialwesens im Jahr 2010 und der sich anschließenden medialen Aufmerksamkeit vermehrt diskutiert und analysiert. Die Verbindung verweist auf ein zwar seit längerem bekanntes, jedoch bisher nicht systematisch bearbeitetes Feld innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung, das grundlegende Herausforderungen für pädagogische Arrange- ments impliziert. Diese Herausforderungen betreffen sowohl die organisationalen Bedingungen pädagogischer Institutionen als auch die Gestaltung der gelebte n pädagogischen Beziehungen zwischen Professionellen und Adressat_innen, die nicht zuletzt für das Zustandekommen von professionellen Arbeitsbünd- nissen entscheidend ist und somit eine zentrale Aufgabe jeglicher pädagogischer Professionalität markiert. Die zahlreichen noch unbeantworteten Fragen zu den Entstehungsbedingungen und Dynamiken sexueller Gewalt im Rahmen pädago- gischer Kontexte sind nicht nur von den Antinomien pädagogischer Handlungs- felder geprägt, sondern infolge einer umfassenden Tabuisierung des Sexuellen auch schwer zugänglich. Ihre Bearbeitung ist sowohl als Aufarbeitung fehler- haften und verfehlten professionellen Handelns zu verstehen, als auch als Grund- bestandteil einer zukunftsweisenden erziehungswissenschaftlichen Programmatik. Diese muss sich der Aufgabe stellen, konkurrierenden gesellschaftspolitischen Ansprüche und pädagogischen Erwartungshorizonten gerecht zu werden, die in unterschiedlichster Weise den Schutz und das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen definieren und einfordern. Martin Wazlawik · Stefan Freck (Hrsg.) Sexualisierte Gewalt an erwachsenen Schutz- und Hilfebedürftigen Herausgeber Dr. Martin Wazlawik Stefan Freck Westfälische Wilhelms-Universität Köln, Deutschland Münster, Deutschland Sexuelle Gewalt und Pädagogik ISBN 978-3-658-13766-3 ISBN 978-3-658-13767-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-13767-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. 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Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Martin Wazlawik und Stefan Freck Kapitel 1: Wissenschaftliche Bezugspunkte Sexuelle Selbstbestimmung im Spannungsfeld innerer und äußerer Möglichkeitsräume . . . . . . . . . . . 9 Barbara Ortland Sich nicht beobachten heißt sich nicht verändern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Organisationale Veränderungsoptionen aus systemtheoretischer Perspektive Thorsten Möller und Martin Wazlawik Sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der Erwachsenenhilfe . . . . . . . . . 39 Rechtliche Erwägungen Petra Ladenburger und Martina Lörsch Gewalt in Einrichtungen der Altenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Rolf Dieter Hirsch V VI Inhaltsverzeichnis Kapitel 2: Perspektiven der Praxis in der Alten-, Kranken- und Behinderten hilfe Dimensionen von Macht und Beschämung in der stationären Altenpfl ege . . 91 Caroline Bohn Sexualisierte Gewalt in Institutionen der Behindertenhilfe . . . . . . . . . . . . 105 Kathrin Römisch Sexualisierte Gewalt in der Alten- und Krankenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Blick auf institutionelle Risiken und Abbilder von Realitäten der Krankenhäuser Andrea Rose Vertrauen und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Ethische Orientierungen im Hintergrund der Prävention sexualisierter Gewalt in der Arbeit mit erwachsenen Schutzbedürftigen im Krankenhaus Peter-Felix Ruelius Kapitel 3: Prävention von und Beratung bei sexualisierter Gewalt in der Arbeit mit erwachsenen Schutzbedürftigen Achtsamkeit in Institutionen mit macht-asymmetrischen Beziehungs verhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Über die Notwendigkeit von Prävention sexualisierter Gewalt in Einrichtungen der kirchlichen Erwachsenenhilfe Andreas Zimmer Institutionelle Schutzkonzepte als Strukturmodelle zum Schutz vor sexualisierter Gewalt in Einrichtungen der Erwachsenenhilfe . . . . . 183 Stefan Freck Und jetzt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Beratung in irritierten Systemen nach Vorwürfen von sexueller Gewalt – ein Erfahrungsbericht Ulla Stollenwerk Autor_innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Einleitung Martin Wazlawik und Stefan Freck Die jüngere Debatte um sexualisierte Gewalt in Abhängigkeitsverhältnissen ist durch eine große und sicherlich auch überfällige Intensität geprägt. Bei allen Fort- schritten, die hierzu auf gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Ebe- ne sowie in den unterschiedlichen Praxisfeldern und auf Seiten der Träger und Verbände verzeichnet werden können, besteht dennoch die Notwendigkeit fort, nach „blinden Flecken“ Ausschau zu halten. Schnell fällt hierbei eine drohende Vereinseitigung des Diskurses hinsichtlich der spezifi schen Gefährdungsszenarien für Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten auf. Sind hierzu auch längst noch nicht alle Wissenslücken geschlossen, so hat sich doch zumindest ein weitgehender Konsens dahingehend etabliert, die Zusammenhänge zwischen de- ren entwicklungsbedingter Abhängigkeit von erwachsenen Bezugspersonen und dem Entstehen von sexualisierter Gewalt gegen sie anzuerkennen. Diese Anerken- nung ist zwar eine schmerzhafte, da sie mit dem Eingeständnis einherging, dass die Sicherheit von Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Einrichtungen kei- ne Selbstverständlichkeit darstellt, sondern nur durch fortwährende Bemühungen zu gewährleisten ist. Dennoch ist eine solchermaßen selbstkritische Refl exion die Grundvoraussetzung dafür, solche Bemühungen voranzutreiben und in Form kon- kreter Maßnahmen zu implementieren. Ob die besonderen Vulnerabilitätsmerkmale von erwachsenen Menschen gegenüber sexualisierter Gewalt, wie sie etwa durch körperliche oder geistige Be- hinderungen, akute oder chronische Krankheit oder altersbedingte Beeinträchti- gungen bedingt sind, in gleicher Weise anerkannt werden, soll an dieser Stelle hinterfragt werden. Gleichzeitig entwickelt sich jedoch zunehmend auch in den Handlungsfeldern Alten-, Kranken- und Behindertenhilfe vor dem Hintergrund © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 1 M. Wazlawik und S. Freck (Hrsg.), Sexualisierte Gewalt an erwachsenen Schutz- und Hilfebedürftigen, Sexuelle Gewalt und Pädagogik, DOI 10.1007/978-3-658-13767-0_1 2 Martin Wazlawik und Stefan Freck einer fordernden öffentlichen Erwartungshaltung, eine neue Aufmerksamkeit für diesen Forschungsdiskurs. Der vorliegende Sammelband möchte diese Aufmerksamkeit verstärken, Ideen und Refl exionen bündeln und auf weitergehende Überlegungen verwei- sen. Die Idee zu diesem Band geht auf ein Praxisentwicklungsprojekt zurück, in dem Einrichtungen der katholischen Alten-, Kranken- und Behindertenhilfe sich mit Fragen der Prävention von sexualisierter Gewalt an erwachsenen Hilfe- und Schutzbedürftigen auseinandergesetzt haben. Die Erfahrungen der Praxis und die Erfahrungen in diesem Prozess haben einige Autor_innen in ihre Beiträge auf- genommen und refl ektiert. Der Artikel von Barbara Ortland „Sexuelle Selbstbestimmung im Spannungs- feld innerer und äußerer Möglichkeitsräume“ macht darauf aufmerksam, dass Menschen mit Behinderungen noch heute ihr Recht auf Sexualität aberkannt wird und sie sich dieses Recht häufi g auch selbst nicht zugestehen. Neben inneren Denkspielräumen und eigenen Abwertungsprozessen spielen dabei auch äußere Denkspielräume eine Rolle. Herausgearbeitet wird, dass ein erheblicher Verände- rungsbedarf auf allen institutionellen Ebenen besteht, um für Männer und Frauen mit Beeinträchtigungen äußere Möglichkeitsräume zu schaffen. So können diese ihre inneren Möglichkeitsräume erkennen und ihr Recht auf Selbstbestimmung leben. Um ein Konzept sexueller Selbstbestimmung zu realisieren, muss ein Ver- änderungsprozess aller Mitarbeitenden initiiert werden, der nicht nur die beruf- liche Identität, sondern auch die Persönlichkeit umfasst. Der folgende Beitrag von Thorsten Möller und Martin Wazlawik „Sich nicht beobachten heißt sich nicht verändern – Organisationale Veränderungsoptionen aus systemtheoretischer Perspektive“ greift die Frage der Veränderungsprozesse auf und nimmt eine Betrachtung organisationaler Veränderungsprozesse aus sys- temtheoretischer Perspektive vor. Dabei werden organisationale Veränderungen auf den Sinnbegriff zurückgeführt. Zudem werden Selbst- und Fremdbeobachtung als Elemente organisationaler Ordnungen beschrieben. Die Autoren führen aus, dass Führung eine besondere Bedeutung zuteilwird, da das Gelingen von Ver- änderungen maßgeblich von Sinnkonstruktionen und Interventionen der Führung bedingt wird. Ausgehend von einer juristischen Perspektive verweist der Beitrag von Petra Ladenburger und Martina Lörsch „Sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der Erwachsenenhilfe – rechtliche Erwägungen“ auf die rechtlichen Rahmungen in Einrichtungen Menschen sowie auf das Selbstbestimmungsrecht der schutzbedürf- tigen in der Alten-, Kranken- und Behindertenhilfe. Der Artikel konzentriert sich besonders auf die rechtlichen Vorgaben und die sich daraus ergebenden institutio- nellen Handlungszwänge. Einleitung 3 Rolf Dieter Hirsch stellt in seinem Überblicksartikel „Gewalt in Einrichtungen der Altenhilfe“ die notwendige Sensibilität und Aufmerksamkeit in den Mittel- punkt. Gewalthandlungen werden hier nicht nur als ein personales, sondern auch ein gesellschaftspolitisches Problem betrachtet. Daher zielt auch die Prävention von Gewalt auf verschiedene Ebenen ab. Der Artikel von Rolf Dieter Hirsch zeigt auf, dass Mitarbeitende in Einrichtungen der Altenhilfe ihre Entscheidungen im Spannungsfeld von (Für-)Sorge und Schutz treffen und dabei die Autonomie und Teilhabe der alten Menschen zu berücksichtigen ist. In einem zweiten Kapitel wer- den insbesondere die drei großen Handlungsfelder der Arbeit mit erwachsenen Schutzbedürftigen – die Alten-, Kranken- und Behindertenhilfe, in den Blick ge- nommen und die Herausforderungen für einen achtsamen Umgang mit Blick auf die konkrete Praxis refl ektiert. Caroline Bohn plädiert in ihrem Beitrag „Dimensionen von Macht und Be- schämung in der stationären Altenpfl ege“ für die Refl exion des pfl egerischen Handelns insbesondere im Kontext der Wahrung der Privat- und Intimsphäre von schutzbedürftigen Menschen. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, über Kenntnisse von Macht und Scham und deren Wirkung zu verfügen dabei ein Verständnis für Macht an sich sowie das eigene machtvolle Handeln und im Kontext der Pfl ege auszubilden. Kathrin Römisch verweist in ihrem Beitrag „Sexualisierte Gewalt in Institu- tionen der Behindertenhilfe“ darauf, dass Institutionen der Behindertenhilfe ver- pfl ichtet sind, für den Schutz und das Wohlergehen von Menschen mit kognitiven, physischen und psychischen Beeinträchtigungen zu sorgen. Neben dem Umgang mit bekanntgewordenen Übergriffen und Grenzverletzungen stellt insbesondere die Akzeptanz der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderun- gen inner- und außerhalb der Institutionen eine Herausforderung dar. Kathrin Rö- misch refl ektiert vor diesem Hintergrund die institutionellen (Macht-)Strukturen der Behindertenhilfe und bezieht diese auf die Entstehung sexualisierter Gewalt. Sie resümiert, dass Institutionen als Hochrisikobereiche sexualisierter Gewalt angesehen werden können und verweist, neben der Stärkung der Rechte und der Selbstbestimmung der beeinträchtigen Menschen, auf die Notwendigkeit von ins- titutioneller Prävention. Andrea Rose betont in ihrem Beitrag „Sexualisierte Gewalt in der Alten- und Krankenhilfe. Blick auf institutionelle Risiken und Abbilder von Realitäten der Krankenhäuser“, dass die öffentliche Wahrnehmung meist von konkreten Fällen sexualisierter Gewalt geprägt ist. Sie plädiert dafür, die professionellen und empa- thischen Leistungen der Mitarbeiter_innen der Alten- und Krankenhilfe nicht zu vergessen. Dennoch besteht in diesem Handlungsfeld grundsätzlich ein Risiko für grenzverletzendes Verhalten. Die Komplexität und Ambivalenz der institutionel-