Klassiker der Sozialwissenschaften Herausgegeben von K. Lichtblau, Frankfurt a. M. In den Sozialwissenschaft en gibt es eine ganze Reihe von Texten, die innerhalb der Scientifi c Community seit vielen Jahren immer wieder gelesen und zitiert werden und die deshalb zu Recht den anerkannten Status des „Klassischen“ für sich in An- spruch nehmen können. Solche fraglos gültigen Bezugstexte sind nicht das Privileg einer einzelnen theoretischen Strömung, sondern im Gegenteil: Man fi ndet sie in allen Fraktionen und weltanschaulichen Lagern innerhalb der modernen Sozial- wissenschaft en, so dass intersubjektiv anerkannte Klassiker die Möglichkeit eines ökumenischen Dialogs zwischen den oft mals verfeindeten Schulen eröff nen. Man kann diese neue Schrift enreihe auch so verstehen, dass konfessionelle Zugehörig- keiten den Zugang zur eigentlichen „Sache“ nicht verstellen dürfen, aufgrund der prinzipiellen Standortgebundenheit aller kultur- und sozialwissenschaft lichen Erkenntnis aber selbstverständlich als jeweils besondere „Perspektive“ bei der Klärung der entsprechenden Sachverhalte eingebracht werden müssen. Diese neue Schrift enreihe ist deshalb darum bemüht, die unterschiedlichsten, oft zu Unrecht vergessenen Klassiker der Sozialwissenschaft en anhand von ausgewählten Texten wieder einer breiteren Öff entlichkeit zugänglich zu machen. Herausgegeben von Klaus Lichtblau, Frankfurt a. M. Peter Gostmann • Alexandra Ivanova (Hrsg.) Schriften zur Wissenschaftslehre und Kultursoziologie Texte von Emil Lederer, herausge- geben und eingeleitet von Peter Gostmann und Alexandra Ivanova Herausgeber Dr. Peter Gostmann M.A. Alexandra Ivanova Goethe Universität Frankfurt am Main, Deutschland ISBN 978-3-658-03242-5 ISBN 978-3-658-03243-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-03243-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio- nalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu- stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über- setzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 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Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de Inhaltsverzeichnis Emil Lederer: Wissenschaft slehre und Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Peter Gostmann und Alexandra Ivanova Th eoretische und statistische Grundlagen zur Beurteilung der modernen Angestelltenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Das ökonomische Element und die politische Idee im modernen Parteiwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Zur Soziologie des Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Von der Wissenschaft zur Utopie – Der Sozialismus und das Programm ,Mitteleuropa‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Einige Gedanken zur Soziologie der Revolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Zum sozialpsychischen Habitus der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Soziologie der Gewalt – Ein Beitrag zur Th eorie der gesellschaft sbildenden Kräft e . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Zeit und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Aufgaben einer Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 6 Inhalt Zum Methodenstreit in der Soziologie – Ein Beitrag zum Grundproblem einer ,verstehenden‘ Soziologie ....................................... 259 Japan – Europa .................................................... 283 Durch die Wirklichkeit zur politischen Idee ........................... 309 Freiheit und Wissenschaft ........................................... 323 Die öffentliche Meinung ............................................ 333 Die Suche nach der Wahrheit ........................................ 341 Drucknachweise ................................................... 347 Emil Lederer: Wissenschaftslehre und Kultursoziologie Zur Einleitung Peter Gostmann und Alexandra Ivanova Emil Lederer, der am 22. Juli 1882 in Pilsen, der zweitgrößten Stadt Böhmens, als zweiter Sohn Sofi e und Philipp Lederers, eines Kaufmanns, geboren wurde, starb am 29. Mai 1939 als Emigrant in New York. Der Weg von dort nach hier führte über Wien, Heidelberg, Tokio und Berlin. Im Folgenden skizzieren wir in knappen Zügen die wichtigsten Elemente der Denkbewegung Lederers, der als langjähriger Redakteur bzw. Herausgeber des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, als Direktor des Heidelberger Ins- tituts für Sozial- und Staatswissenschaft en, als Inhaber des Berliner Lehrstuhls für Nationalökonomie und Finanzwirtschaft und als Gründungsdekan der ,University in Exile‘ an der New Yorker New School for Social Research einer der maßgeblichen Sozialwissenschaft ler seiner Zeit war. Heute ist Lederer fast vergessen. Dabei ist es um die Kenntnis von Lederers nationalökonomischen Arbeiten besser bestellt als um die Kenntnis seiner soziologischen Schrift en. Allerdings bildet, wie die in diesem Band versammelten Texte zeigen, die Soziologie das Fundament, auf dem seine nationalökonomischen Arbeiten stehen (vgl. bereits Huebner 2008). In einem Aufsatz über die verstehende Soziologie Max Webers, den Lederer 1925 im Rahmen einer mehrjährigen Gastprofessur an der Kaiserlichen Universität Tokio in der Zeitschrift der japanischen Gesellschaft für Soziologie publizierte, hob er die Soziologie von den „Einzelwissenschaft en“, wie sie z. B. in der „juristische[n], d[er] ökonomische[n], d[er] politische[n] usw. Betrachtung“ eines „Tatbestandes“ Gestalt nähmen, ab, da diese „stets von einem bestimmten Gesichtspunkt aus“ erfolgten (Lederer 1925: 275). Gegenüber der Soziologie, der es darum gehen sol- le, „menschliche Beziehungen im Tatbestand als solchen“ und „gesellschaft liches Handeln“ gemäß „seine[s] wahren Inhalt[s]“ zu erfassen, stelle die „Begriff sbildung P. Gostmann, A. Ivanova (Hrsg.), Schriften zur Wissenschaftslehre und Kultursoziologie, Klassiker der Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-03243-2_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 8 Peter Gostmann und Alexandra Ivanova […] der Einzelwissenschaften“, nicht anders als die „des täglichen Lebens“, eine „Trübung“ dar (ebd.: 266). Diese ,Trübung‘ disqualifiziert zwar die einzelwissenschaftliche Analyse nicht geradezu, denn immerhin gründet die, so Lederer weiter, auf „bestimmte[n] Zü- ge[n] der Erfahrung“, die sie „unterstreicht, in spezifischer Weise deutet, und so ein Gedankenbild schafft“ (ebd.: 270); in diesem Sinne beschäftigte er selbst sich in seinen Schriften mit einer Reihe einzelwissenschaftlicher Probleme, z. B. mit Fragen der Währungspolitik oder der Konjunkturentwicklung (u. a. Lederer 1923a, Lederer 1927a). Aber für Lederer unterläge eine einzelwissenschaftliche Analyse, die nicht einherginge mit der „Erfassung des Phänomens, wie es ist“, dem Fehl- schluss, jene „Hilfsmittel zur Bewältigung der Erfahrung“, die die einzelwissen- schaftlichen Begriffssysteme darstellen, „für die Realität selbst [zu] nehmen“. Die Erfassung der Phänomene, wie sie sind, obliegt hingegen der Soziologie (Lederer 1925: 270f.). Lederers Behandlung einzelwissenschaftlicher Fragen, von Währung, Konjunktur usw., steht also auf soziologischem Fundament. Anhand der Schriften, die der vorliegende Band versammelt, lässt sich das soziologische Element in der Denkbewegung Lederers von der Habilitation 1912 bis zu den Exilschriften der 1930er Jahre nachverfolgen. Wien: Akademische Anfänge In Wien, der Hauptstadt des cisleithanischen Teils der k. u. k. Doppelmonarchie, nahm Lederer 1901 das Studium der Rechte auf, das er 1906 mit dem Erwerb des akademischen Grads eines Doktors der Jurisprudenz abschloss. Sein Hauptinte- resse während des Studiums galt der Politischen Ökonomie, die seinerzeit „der juristischen Fakultät angegliedert“ war (Speier 1979: 258). Als Lederers wichtigste Lehrer gelten denn auch die Nationalökonomen Eugen von Böhm-Bawerk und Friedrich von Wieser (ebd.; Krohn 1995: 12). Beide waren Schüler Carl Mengers, der 1871 mit seinen Grundsätzen der Volkswirthschaftslehre einen neuartigen, in der Retrospektive gewöhnlich auf das Theorem des ,Grenznutzens‘ verdichteten Versuch vorgelegt hatte, „die complicirten Erscheinungen der menschlichen Wirth- schaft auf ihre einfachsten, der sicheren Beobachtung noch zugänglichen Elemente zurückzuführen, an diese letztern das ihrer Natur entsprechende Mass zu legen und mit Festhaltung desselben wieder zu untersuchen, wie sich die complicirteren wirthschaftlichen Erscheinungen aus ihren Elementen gesetzmässig entwickeln“ (Menger 1871: VII). Die Voraussetzung für die Konkretion dieses ,natürlichen‘ Maßes im Begriff des „Grenznutzens“ sollte sein, dass der „Wert“ von Gütern als nichts diesen „An- Emil Lederer: Wissenschaftslehre und Kultursoziologie 9 haftendes“, aber auch nicht als ein „selbständiges, für sich bestehendes Ding“ zu betrachten sei, sondern als zu bemessen anhand der „Bedeutung“ dieser Güter für einzelne „Menschen“, und zwar gemäß deren „Bewusstsein[s]“, „in der Befriedigung ihrer Bedürfnisse von der Verfügung über die betreffenden Güter abhängig zu sein“ (ebd.: 108). Der Wert eines Gutes ist demnach immer zuerst der Wert, den es für eine bestimmte Person hat. Zu bemessen sei dieser Wert – so Lederers Lehrer Böhm-Bawerk – weder gemäß des „größte[n] Nutzen[s] […], den das Gut stiften könnte“, noch gemäß des „Durchschnittsnutzen[s], den ein Gut seiner Art stiften kann“; er entspreche vielmehr dem „kleinste[n] Nutzen, zu dessen Herbeiführung [ein Gut] oder seinesgleichen in der konkreten wirtschaftlichen Sachlage rationel- lerweise noch verwendet werden dürfte“. Wenn man z. B. die unterschiedlichen Einzelnutzen ermitteln und addieren würde, ließe sich der Gesamtwert eines Gütervorrats taxieren (Böhm-Bawerk 1886: 28 u. passim). Im Sinne der Differenzierung von (einzelwissenschaftlicher) Nationalökonomie und (grundwissenschaftlicher) Soziologie, die Lederer später im Weber-Aufsatz für Shakai Zasshi vornahm, ist schon die Definition eines ,Grenznutzens‘, mehr noch dessen wirtschaftsstatistische Operationalisierung, eines jener Hilfsmittel zur Bewältigung der Erfahrung, die sinnvoll sind, solange man sie nicht für die Realität selbst nimmt. Zu ihrer Fundierung müsste es um Soziologie gehen, und soziologisch ginge es, da um die menschliche Beziehung im Tatbestand als solchen, nicht zuletzt um die Erklärung dessen, was ,rationellerweise‘, gemäß des Gedankenbilds vom Grenznutzen, nicht sein dürfte. Lederers Lehrer Böhm-Bawerk und Wieser hatten Menger in den 1880er Jahren im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Straßburger Ordinarius Gustav Schmoller unterstützt, dem Menger als einem der einflussreichsten Vertreter der sogenannten „historischen Schule“ unter den deutschen Nationalökonomen „zum Vorwurfe“ machte, statt „die Geschichte der Volkswirthschaft als Hilfswissen- schaft der politischen Oekonomie [zu] betreib[en], […] über historischen Studien die politische Oekonomie selbst aus dem Auge verloren“ zu haben (Menger 1884: 25) – d. h. über der Beschäftigung mit den „concreten Erscheinungen und d[en] concreten Entwickelungen“ der Frage der „,Erscheinungsformen‘ und ,Gesetze‘ der bezüglichen Menschheitsphänomene“ nicht die ihr angemessene Aufmerksamkeit zu widmen (ebd.: 17). In gewisser Weise knüpfte Lederer an diesen Gedanken an, wenn er im Weber-Aufsatz die Betrachtung der Erscheinungsformen der Mensch- heitsphänomene als Soziologie identifizierte – während er in Übereinstimmung mit Weber davon absehen wollte, sich deren Gesetzen zu widmen: „Schon deshalb, weil ja nicht eine ,Gesellschaft‘ Subjekt des Handels ist; die ganze Fülle der Subjekte, und diese wieder in verschiedensten Gruppierungen, sind Träger des sozialen Handelns. […] Infolgedessen wird sich die soziologische Analyse den Phänomenen
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