Dirk Baecker Hrsg. Schlüsselwerke der Systemtheorie 3. Auflage Schlüsselwerke der Systemtheorie Dirk Baecker (Hrsg.) Schlüsselwerke der Systemtheorie 3., durchgesehene und erweiterte Auflage Hrsg. Dirk Baecker Universität Witten/Herdecke Witten, Deutschland ISBN 978-3-658-30632-8 ISBN 978-3-658-30633-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio- grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2005, 2016, 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 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Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Vorwort zur dritten Auflage Der Anlass zu dieser dritten Auflage der Schlüsselwerke der Systemtheorie ist die Korrektur eines Druckfehlers, auf den mich Malte Jessen aufmerksam gemacht hat. Ausgerechnet in die Übersetzung des „law of calling“ in Louis H. Kauffmans Beitrag über George Spencer-Browns Laws of Form hatte sich ein „nicht“ zu viel hineingeschmuggelt. Der Wert einer nochmaligen Nennung ist nicht nicht der Wert der Nennung, sondern er ist der Wert der Nennung. Inwieweit dies tat- sächlich gilt oder auch möglicherweise nicht gilt, kann man auch an der System- theorie und ihren Schlüsselwerken studieren. Mit jeder erneuten Nennung der Systemtheorie ändert sich ihr Wert, da der Kontext ein anderer ist, in dem sie aufgerufen wird, eine Erinnerung an ihre sich laufend ergänzende Geschichte mitläuft und die Erwartungen sich ändern, die sich an sie richten. Andererseits jedoch handelt es sich noch immer um die Systemtheorie, deren Ausgangspunkt einer Unterscheidung von System und Umwelt nicht zur Disposition steht. Inso- fern ändert sich der Wert ihrer Nennung nicht. Im „law of calling“ steckt daher eins der Hauptprobleme, mit denen sich die Systemtheorie beschäftigt. Wie kann sich ein System als dieses System erhalten, wenn es sich von Ereignis zu Ereignis mit einer Umwelt auseinander- setzt, die sich laufend ändert? Welchen Status hat eine Identität, die auf einer Nicht-Identität beruht? Man kann es sich einfach machen und immer dann von „Identität“ sprechen, wenn Kontinuität aus Diskontinuität gewonnen wird. Eine Identität wäre dann eine Generalisierungsleistung, die durch die spezi- fische Differenz der Situationen, über die sie sich hinwegsetzt, nicht wider- legt, sondern herausgefordert und bestätigt wird. Man hat das Problem dann jedoch nur mithilfe einer Definition gelöst und hätte die eigentliche Arbeit, diese Generalisierungsleistung im Gegenstand aufzuzeigen, noch vor sich. V VI Vorwort zur dritten Auflage Aber genau das ist der wissenschaftliche Status einer Theorie. Man wirft begriffliche Probleme auf, um im Gegenstand nach deren Lösung zu suchen. Genau so versteht die Systemtheorie ihre empirische Arbeit. Ich habe diese dritte Auflage genutzt, um die für die zweite Auflage gefundene Gliederung zum einen zu bestätigen und zum anderen zu ergänzen. Der eine oder andere Titel ist hinzugekommen, weil er nach dem Erscheinen der zweiten Auf- lage erschienen ist. Das gilt für Fritz B. Simons Buch über Formen (2018), das als maximaler Test auf die Frage verstanden werden kann, welche Identitäten sich in den grundlegenden Aussagen der Systemtheorie festlegen lassen. Und es gilt für James Lovelocks Buch über das Novacene (2019), in dem die Identitätsfrage wiederum anders gelöst wird, nämlich mithilfe eines Verweises auf den Super- organismus Erde, genannt Gaia, für den sich die Reproduktionsfrage schon des- wegen nicht stellt, weil er bereits 4 Mrd. Jahre alt ist. Stattdessen stellt sich die Frage, ob das Universum in jener Menschheit, in der es bisher zum Bewusst- sein seiner selbst gekommen ist, bereits zu einem hinreichenden Bewusstsein gekommen ist. Möglicherweise bewährt sich die Erde als dynamisches System erst darin, dass sie eine künstliche Intelligenz hervorbringt, die in der Lage ist, den wegen seiner zu großen Nähe zur Sonne überhitzten und sich mit mensch- licher Hilfe immer mehr überhitzenden Planeten auch weiterhin hinreichend zu kühlen. Darüber hinaus habe ich die Gelegenheit genutzt, einige Lücken in den bis- herigen Abschnitten zu füllen (Allen Newell und Herbert A. Simon, Human Problem Solving), wichtige soziologische beziehungsweise sozialwissenschaft- liche Texte zu ergänzen (George P. Richardson, Feedback Thought in Social Science and Systems Theory; Kenneth D. Bailey, Sociology and the New Systems Theory; Stephan Fuchs, Against Essentialism; Helmut Willke, Symbolische Systeme; und Richard Jung, Experience and Action) und einen neuen Abschnitt zu den Künsten und zu den Literaturwissenschaften aufzunehmen (Niels Werber, Literatur als System; Matthias Prangl und Henk de Berg, Kommunikation und Differenz; Natalie Binczek, Im Medium der Schrift; Harry Lehmann, Flüchtige Wahrheit der Kunst; und Bruce Clarke, Neocybernetics and Narrative). Nach wie vor gilt das Prinzip, die jeweiligen Schlüsselwerke zu würdigen, aber auch die Forschungsperspektiven der jeweiligen Kommentatoren zu ihrem Recht kommen zu lassen. Nach wie vor handelt es sich um Schlüsselwerke nicht nur der System- theorie, sondern mehr noch für bestimmte Autoren, die nach wie vor in der Systemtheorie grundlegende Ansätze und offene Fragen sehen. Der gemeinsame Nenner dieser Ergänzungen ist ein Interesse an Formalisierung. Newell und Simons Versuch der Programmierung eines General Problem Solver Vorwort zur dritten Auflage VII auf der Grundlage von Überlegungen zur künstlichen Intelligenz in den 1970er Jahren hat in der Systemtheorie seither keine Nachfolge gefunden. Aber keines der Schlüsselwerke ist frei von Versuchen, Grundgedanken („Identitäten“ oder auch „Invarianzen“) festzuhalten, die sich in der Analyse von Systemen aller Art bewähren. Mit Richardson wäre das der Gedanke der Rückkopplung, mit Bailey die Konzepte der Negentropie und Autopoiesis, mit Stephan Fuchs die Rekursivi- tät der Selbstbeobachtung, mit Willke die in Prozessen der Symbolisierung fest- gehaltene Differenz lebender, psychischer und sozialer Systeme und mit Jung das Prinzip einer maximal möglichen Reduktion von Uneigentlichkeit. So auch das künstlerische und literaturwissenschaftliche Interesse an der Systemtheorie. Hier geht es durchaus nicht nur darum, der Systemtheorie den Einwand einer Nichtmodellierbarkeit hermeneutischer Prozesse des Verstehens entgegenzu- setzen. Sondern es geht ganz im Gegenteil um Prozesse der Bewährung, Gestaltung und Veränderung von Identitäten unter nicht nur widrigen, sondern kreativ- produktiven Bedingungen. Wenn Niklas Luhmann in einer seiner radikalsten Formulierungen schreibt, dass Kommunikation keine Inhalte, sondern Differenzen kommuniziert (zum Beispiel die Differenz zwischen Form und Medium, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 195, aber das gilt auch für die Differenzen von Kommunikation und Bewusstsein, Variation und Selektion, Komplexität und Selbstbeschreibung oder auch analogen und digitalen Anschlüssen), dann ist dies für Fragen nach den Spezifika ästhetischer Wahrnehmung zwar möglicherweise besonders einleuchtend, aber für Fragen der Reproduktion von Funktionssystemen oder organisierten Systemen nicht minder gültig. Insofern schult sich im Umgang mit den Künsten eine Wahrnehmung, die auch andernorts ihren Platz hat – und nicht etwa die Künste gegenüber anderen Systemen der Gesellschaft privilegiert. Das gemeinsame Interesse an einer über ein differentielles Verständnis von Identitäten laufenden Formalisierung ist jedoch genau das, ein Interesse. Es findet in der Mathematik rekursiver Funktionen von Heinz von Foerster, in der Kybernetik der Polykontexturalität von Gotthard Günther und im Indikationenkalkül von George Spencer-Brown zwar weiterhin anregende Anhaltspunkte, aber auch nicht mehr als das. Die Zeiten, in denen Ludwig von Bertalanffy sich die Systemtheorie als ein System von Differentialgleichungen vorstellen konnte, sind vorbei. Fortschritte im Maschinenlernen verdanken sich dem Einsatz raffinierter statistischer Methoden, wenn nicht sogar dem expliziten Verzicht auf systemtheoretische Modelle, wie man es etwa an der Systembiologie studieren kann. Die Entwicklung der Systemtheorie verharrt an der Schwelle zur Modellierung von Selbstreferenz. VIII Vorwort zur dritten Auflage Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass es zu den vornehmsten Eigen- schaften der Systemtheorie gehört, auch und gerade in ihrer Arbeit an den Grundbegriffen Raum für Ausbruchsversuche zu haben, so als sei kein System vollständig, wenn es nicht seine eigene Negation, seine eigene Unvollständig- keit enthält. Im Formbegriff von George Spencer-Brown wird das explizit, doch es kennzeichnet so frühe Auseinandersetzungen wie jene von Ludwig von Bertalanffy, der, wie Gerard de Zeeuw in seinem komplett neu gefassten Beitrag zeigt, den Begriff des Systems nur für die zweitbeste möglicher Lösungen im Umgang mit dem viel grundsätzlicheren Problem der Modellierung strategischen Handelns gesehen hat, wie so späte Auseinandersetzungen wie jene von Stephan Fuchs, der, wie Maren Lehmann in ihrem Beitrag zeigt, den Begriff der Kultur gegen jenen der Gesellschaft ausspielt und dem Systembegriff nur eine Chance gibt, wenn es ihm gelingt, sich auch anhand von Phänomenen durchzusetzen, die möglicherweise eher mit dem Netzwerkbegriff abgebildet werden können. Dirk Baecker Vorwort zur zweiten Auflage Zehn Jahre sind seit der ersten Auflage der vorliegenden Kommentare zu Schlüsselwerken der Systemtheorie vergangen. Für den langen Atem der System- theorie ist dies keine nennenswerte Zeit. Und doch stellt sich die Systemtheorie in den Varianten, in denen sie hier verhandelt wird, zum gegenwärtigen Zeit- punkt in meinen Augen anders dar als vor zehn Jahren. Nach wie vor konzentriert sich die Diskussion auf den deutschsprachigen Raum. Und nach wie vor sind es vor allem die Anwendungsfelder der Soziologie, der Managementlehre und der Therapie und Beratung, in denen die meisten Aktivitäten zu verzeichnen sind. Bahnbrechende neue Systemmodelle sind nicht zu verzeichnen. Und doch schälen sich einige Schwerpunkte der Arbeit an und mit der System- theorie deutlicher und, wenn ich das so sagen darf, unaufgeregter heraus als noch vor zehn Jahren. Das gilt zum einen für die bereits von Niklas Luhmann formulierte Vermutung, dass die Systemtheorie dank ihrer Rezeption der Laws of Form von George Spencer-Brown eine noch allgemeinere Analyseebene erreicht, auf der die System/Umwelt-Unterscheidung nur ein Fall jener „nur einseitig ver- wendbaren Zweiseitenformen“ ist, für die es auch andere Fälle gibt, etwa die Unterscheidungen von Zeichen und Bezeichnetem oder von Ding und Medium (Luhmann 2002, S. 76). Luhmanns Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft, dem Lars Qvortrup in der vorliegenden Auflage einen Kommentar widmet, ist dafür das nach wie vor wegweisende Beispiel. Die Systemtheorie kann nur gewinnen, wenn sie „Komplexität als Formprinzip“ (Helmut Willke, in diesem Band) ernst nimmt und mit anderen Strängen der Komplexitätsforschung sowie anderen Formen von Differenztheorien in Verbindung setzt. Zum anderen hat nicht zuletzt die nach wie vor intensive Auseinander- setzung der Managementlehre und Organisationswissenschaft mit der System- theorie (siehe nur Wimmer/Meissner/Wolf 2009) dazu geführt, dass zumindest IX X Vorwort zur zweiten Auflage die hier vertretenen Versionen der Systemtheorie eher noch vorsichtiger in ihrem Anspruch geworden sind, Systeme modellieren und simulieren zu können. Die Systemtheorie ist immer noch genug Kybernetik, um nach wie vor davon fasziniert zu sein, Systeme auch bauen und auch zum Laufen bringen zu können. Und sie ist genug Kybernetik zweiter Ordnung, um sich immer wieder auf die Position zurückzunehmen, dass den untersuchten Systemen ihre Selbst- organisation und Autopoiesis wesentlich besser gelingt, als es je ein Beobachter wird nachzeichnen können. Man will die Systeme rechnen sehen, wenn man ein Systemtheoretiker ist. Und doch ist die gegenwärtige Stimmung der System- theorie eher dadurch gekennzeichnet, dass man den eigenen Rechnungen, nicht zuletzt jenen im Medium des Texts, auf die Spur kommen möchte, um sie als Paradigma formulieren zu können, das es erlaubt, Systeme nicht zu modellieren und zu simulieren, sondern zu ihnen und in ihnen hinreichend komplexe Beobachterpositionen aufbauen zu können. Nach wie vor ist es die konstituierende Paradoxie der Systemtheorie in den hier vorliegenden Fassungen, die Selbstreferenz des Gegenstands zu postulieren. Aber auch hier ist man vorsichtiger geworden. Das Axiom Luhmanns, dessen „Überlegungen“ in Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie davon ausgingen, „dass es Systeme gibt“ (1984, S. 30) und dass zu diesen nicht nur soziale, sondern auch selbstreferentiell soziale Systeme gehören, wird in der empirischen Arbeit der soziologischen Systemtheorie nach wie vor verfolgt, doch treten daneben andere Versionen der Selbstreferenz, die nicht darauf warten, irgendwann im Gegenstand auf den Beobachter zu stoßen, der diesen Gegen- stand untersucht (so die Empfehlung Luhmanns ebd., S. 30 f.), sondern den Beobachter von Anfang an nicht aus dem Blick lassen. „The self is the whole space including the mark and the observer. But the mark points, in the first place, to its own location, and in this process becomes a locus of reference. The mark refers to itself. The whole refers to itself through the mark,“ schreibt Louis H. Kauffman (1987, S. 53). Es sind daher auch hier, wie in der Management- lehre, die Markierungen, die der Beobachter selber setzt, an denen alle weiteren Beobachtungen ansetzen. Was also ist der Gegenstand einer Systemtheorie, die die Selbstreferenz als Referenz des Ganzen anhand einer Markierung auf sich selbst zu denken und dann auch zu beobachten sucht? Vielleicht lohnt es sich hier, nicht para- dox, sondern dialektisch weiterzudenken. Wesentliche Anregungen dazu ver- danken sich interessanterweise nicht der russischen (oder soll man sagen: sowjetischen?) Rezeption der Systemtheorie (siehe den Kommentar von Günter Ropohl in diesem Band zur Systems Theory von Igor V. Blauberg, Vadim N. Sadovsky und Erik G. Yudin), sondern den Arbeiten zu einer mehrwertigen