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Rundbrief 70 - Verein Aktives Museum PDF

22 Pages·2014·0.38 MB·German
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AKT IVE S MUSEUM Faschismus und Widerstand in Berlin e.V. KIEZSPAZIERGÄNGE ZU STOLPERSTEINEN Aktivitäten im Berliner Themenjahr 2013 „Zerstörte Vielfalt“ MITGLIEDERRUNDBRIEF 70 · JANUAR 2014 INHALT 2 Editorial Christine Fischer-Defoy 4 Stolpersteine im Berliner Themenjahr 2013 „Zerstörte Vielfalt“ Christine Kühnl-Sager 6 Fotografien der Novemberpogrome und die Geschichte eines jahrzehntelangen Irrtums Gerd Kühling 10 „Wieder gut?“ Zur Praxis der „Wiedergutmachung“ nach 1945 im geteilten Berlin Christine Fischer-Defoy 14 Öffentliches Erinnern an Deserteure in Berlin. Eine Initiative für eine Gedenktafel Michael Roeder 16 Rezension zu Sonja Wegner: „Zuflucht in einem fremden Land. Exil in Uruguay 1933-1945“ Stefan Peters 18 Aufruf für einen Ort der Erinnerung an die Opfer der NS-Lebensraumpolitik in Osteuropa Peter Jahn 19 Publikationen des Aktiven Museums 20 Impressum AKTIVESMUSEUM MITGLIEDERRUNDBRIEF NR. 70 · Januar 2014 Liebe Mitglieder und Freunde des Aktiven Museums, In diesem ersten Rundbrief 2014 wollen wir noch einmal auf das nun vergangene Berliner Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ und die verschiedenen Aktivitäten unseres Vereins zurückblicken, aber auch neue Ideen vorstellen. Das 30-jährige Jubiläum des Aktiven Museums im Juni 2013 fiel nicht zufällig mit dem Themenjahr 2013 zusammen: vor 30 Jahren erinnerten wir – mit wenig Geld, aber viel Engagement – an das damals noch unbequeme Thema des 50. Jahrestages von 1933 und galten als „Schmutzaufwirbler“. 30 Jahre später gehört das Gedenken an die Verfolgten und das Erinnern an die Täter zum Common Sense der deutschen Politik und wird entsprechend auch mit öffentlichen Mitteln gefördert. Staatssekretär André Schmitz selbst war der Initiator des Themenjahres „Zerstörte Vielfalt“, an dem sich – anders als 1983 rund 30 Organisationen aus dem linken Milieu West-Berlins – nun etwa 170 Projektpart- ner beteiligt haben: große Institutionen wie die Komi- sche Oper oder die Charité ebenso wie Einzelpersonen, darunter auch viele, die vor 30 Jahren noch die Nase gerümpft hätten, mit uns zusammenzuarbeiten. Auch, Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e.V. / was die Formen und Inhalte und die unterschiedlichen Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin / Kulturprojekte Berlin Zielgruppen betrifft, war das Themenjahr „vielfältig“. Gmbh (Hg.): Stolpersteine in Berlin. 12 Kiezspaziergänge, Berlin Zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen fanden 2013. 180 S. ISBN 978-3-00-043996-4. Open Air im Stadtraum statt. Auch für Menschen, die sich schon lange mit der NS-Zeit in Berlin befassen, gab der Fasanenstraße noch einmal gezeigt werden. Auch es Neues zu entdecken, zum Beispiel bisher vergessene die Ausstellung „Letzte Zuflucht Mexiko“ startete be- Opfergruppen oder Täterorte. reits im Dezember 2012 in der Akademie der Künste Berlin und wanderte im September 2013 nach Paris Das Aktive Museum war mit zahlreichen Ausstellun- ins „Maison Heinrich Heine“. „Verraten und verkauft“ gen an all‘ dem beteiligt und wurde, so André Schmitz über jüdische Gewerbeunternehmen machte noch in seinem Glückwunsch zum 30-jährigen Jubiläum des einmal Station in der Schwartz‘schen Villa in Steglitz, Vereins, zu „einem der wichtigsten Projektpartner“ des wanderte von dort im Mai 2013 in die Industrie- und Themenjahres: Bereits im Dezember 2012 eröffneten Handelskammer Berlin und war dann bis Anfang Januar wir in Kooperation mit der Gedenkstätte Haus der 2014 im Pankow-Museum zu sehen. Auf jeder dieser Wannseekonferenz die Ausstellung „Meine eigentliche Stationen wurde sie um weitere bezirkliche Unterneh- Universität war Auschwitz“. Die Banner werden aus mensgeschichten ergänzt. Diese Ausstellung wird auch Anlass des 40. Todestages von Joseph Wulf ab dem in Zukunft unterwegs sein: Dank der Unterstützung 10. Oktober 2014 im Haus der Jüdischen Gemeinde in durch den Handelsverband Berlin-Brandenburg e.V. – 2 – AKTIVESMUSEUM MITGLIEDERRUNDBRIEF NR. 70 · Januar 2014 wird sie an berufsbildenden Schulen gezeigt werden geplante Ausstellung zur Praxis der Entschädigung können, zunächst ab Ende Januar im Oberstufenzen- und „Wiedergutmachung“ im geteilten Berlin, dessen trum Handel I, der größten Schule Deutschlands (!), Projektexposé wir hier in diesem Rundbrief vorstel- in der Kreuzberger Wrangelstraße. Ab Anfang März len. Diese Ausstellung soll quasi als ein „Folgeprojekt“ 2014 gibt es überdies eine Online-Version, unter des Themenjahres „Zerstörte Vielfalt“ aus Anlass des www.verratenundverkauft.info. 70. Jahrestages des Weltkriegsendes im Sommer 2015 in der Topographie des Terrors gezeigt werden. Hierfür Die Ausstellung „Gute Geschäfte“ über den Berli- haben wir beim Hauptstadtkulturfonds einen Antrag ner Kunsthandel 1933-1945 wurde bis Mitte 2013 im eingereicht und werden für die Realisierung des Pro- Mitte Museum gezeigt und danach aufgelöst. Die von jektes wieder eine Arbeitsgruppe einrichten. großer Medienöffentlichkeit begleitete Entdeckung der Kunstsammlung von Cornelius Gurlitt sorgte un- Unser Vorstandsmitglied Gerd Kühling setzt sich vorhersehbar für neues Interesse an diesem Thema. in einem weiteren Text dieses Heftes mit Fotos der So ist nun der umfangreiche, seit längerem vergriffene Novemberpogrome und der Geschichte eines jahrzehn- Ausstellungskatalog zu den „Guten Geschäften“ in einer telangen Irrtums auseinander. Michael Roeder berichtet Nachauflage seit Dezember wieder erhältlich. über seine Initiative für Gedenktafeln zur Erinnerung an noch in den letzten Kriegstagen ermordete Deser- Zu den Kooperationsprojekten im Rahmen des teure in Berlin. Stefan Peters rezensiert Sonja Wegners Themenjahres gehörten die Informationstafeln am Veröffentlichung „Zuflucht in einem fremden Land. Exil Strandbad Wannsee und auf Schwanenwerder, die in in Uruguay 1933-1945“. Abschließend dokumentieren Zusammenarbeit mit dem Kulturamt Steglitz-Zehlen- wird einen Aufruf für einen Ort der Erinnerung an dorf entstanden und im April 2013 eingeweiht wur- die Opfer der NS-Lebensraum-Politik in Osteuropa, den. Standen viele Anwohner dem Projekt zunächst über den sich mehr auf www.gedenkorte-tiergarten. skeptisch gegenüber, so hat es mittlerweile eine große de erfahren lässt. Akzeptanz gefunden. Zum „Tag des offenen Denkmals“ veranstaltete die Evangelische Akademie hierzu ein Hinweisen möchte ich an dieser Stelle noch auf Wochenend-Seminar auf der Insel. Auch an dem Pro- die gerade erschienene neue Ausgabe des Buches „Der jekt zur „Fontanepromenade 15“, für das die Initiative gelbe Stern“ von Gerhard Schoenberner. Bis zu seinem vom KreuzbergMuseum ausging, waren wir beteiligt, Tode vor einem Jahr hat Gerhard intensiv an dieser sowie an der Ausstellung über den Kirchenbau im Na- neuen Version gearbeitet, danach hat Mira Schoen- tionalsozialismus, die in der Gedenkstätte Deutscher berner das Manuskript bis zur Drucklegung liebevoll Widerstand gezeigt wurde. betreut. Von der Erstausgabe 1960 unterscheidet es sich vor allem in der Form: dem sensiblen Umgang mit den Die zum Aktiven Museum gehörige Koordinie- historischen Fotografien, die nun nicht als dramatischer rungsstelle Stolpersteine Berlin engagierte sich zum Ausschnitt, sondern meist vollständig und in hoher Abschluss des Themenjahres am 9. und 10. November Qualität reproduziert wiedergegeben sind. 2013 mit Berlin-weit stattfindenden Gedenkspazier- gängen, bei denen auch Stolpersteine geputzt wurden, Ich danke allen, die unsere Arbeit im vergangenen und einer besonderen Publikation (siehe Abbildung). Jahr unterstützt und mit getragen haben und freue mich Hierüber berichtet auch Christine Kühnl-Sager in die- auf eine gute Zusammenarbeit im neuen Jahr! sem Rundbrief. Christine Fischer-Defoy Nach dem Ende des Themenjahres geht der All- tag der Erinnerungsarbeit weiter. Hierzu gehört eine – 3 – AKTIVESMUSEUM MITGLIEDERRUNDBRIEF NR. 70 · Januar 2014 STOLPERSTEINE IM BERLINER lautete so: „Unsere Vielfalt nimmt uns keiner mehr! Dafür THEMENJAHR 2013 „ZERSTÖRTE wollen und müssen wir notfalls auch kämpfen.“ VIELFALT“ Bereits am 9. November fanden im Rahmen des Themenjahres rund 20 Kiezspaziergänge statt, deren Projektion auf das Brandenburger Tor während der Veranstaltung Stolperstein-Kiezspaziergang in Schöneberg am am 10. November 2013. 9. November 2013 „Eine Stadt erinnert sich“ – so Kulturstaatssekretär Routen zu Stolpersteinen führten und bei denen an die André Schmitz am 10. November am Brandenburger Schicksale der vielen weniger bekannten Verfolgten und Tor – an die Machtübertragung an das Naziregime vor ihrer Familien erinnert und ihrer gedacht wurde. Das 80 Jahren, an die Novemberpogrome vor 75 Jahren Interesse war in allen Berliner Bezirken groß. Immer und alle Verbrechen, die bis zur Befreiung 1945 von wieder schlossen sich Passanten den Rundgängen an. Deutschland ausgingen. Bewohner kamen aus den Häusern und trugen eigene Informationen zu den früheren Bewohnern bei. Blumen Das Brandenburger Tor war an diesem Abend der und Kerzen wurden zu den Stolpersteinen gebracht. Ort einer bewegenden Kundgebung, die vor allem der Das geplante Putzen der Steine konnte vielfach „aus- Erinnerung an die Persönlichkeiten gewidmet war, denen fallen“ – Anwohner, Paten oder Mitglieder der Stol- Berlin und Deutschland seine künstlerische, politische, perstein-Bezirksinitiativen hatten sich schon vorher wissenschaftliche und geistige Vielfalt verdankte und darum gekümmert. die durch das NS-Regime zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen, inhaftiert oder ermordet wurden. Ihre Por- Die Spaziergänge boten auch die Möglichkeit, träts erschienen auf der Leinwand am Brandenburger auf andere Orte aufmerksam zu machen, die für Fa- Tor. Auf der Bühne persönlicher anwesend waren Inge schismus und Widerstand in Berlin von Bedeutung Deutschkron, Margot Friedländer und Coco Schumann. waren und sind. In Schöneberg war es zum Beispiel Der britische Geiger Daniel Hope ließ zusammen mit dem das Kammergericht im Kleistpark, über dessen Bedeu- Pianisten Jacques Ammon und dem Streichquintett des tung als zeitweiliger Verhandlungsort des berüchtigten Deutschen Kammerorchesters Musik der 1920er-Jahre „Volksgerichtshofes“ zwischen August 1944 und Januar lebendig werden, etwa von Coco Schumann und dem 1945 berichtet wurde. Ein ebenso interessanter Ort damals berühmten Efim Schachmeister. Das Resümee bei diesem Rundgang war die St. Matthias Kirche am – 4 – AKTIVESMUSEUM MITGLIEDERRUNDBRIEF NR. 70 · Januar 2014 Winterfeldtplatz. Dort erinnert eine Gedenktafel an gelegt, rund 70 Menschen waren bei dieser beson- Clemens August Kardinal Graf von Galen, den späteren deren Verlegung dabei. Zum ersten Mal waren die Bischof von Münster. Er war von 1919 bis 1929 Pfarrer Steine am 29. Oktober 2010 verlegt und bereits in an dieser Kirche und trat in der Zeit des NS-Regimes der folgenden Nacht durch Schläge mit einem harten, gegen Rassismus und Antisemitismus auf. scharfen Gegenstand beschädigt worden. Die am 3. Stolperstein-Kiezspaziergang in Schöneberg am Die mutwillig beschädigten Stolpersteine in der Gleditschstraße 9. November 2013 55 wurden am 10. November 2013 durch neue ersetzt. Die meisten Rundgänge sind nachzulesen in der Publi- März 2011 neu verlegten Steine erfuhren kurz darauf kation „Stolpersteine in Berlin. 12 Kiezspaziergänge“, einen gleichartigen Angriff. Das macht deutlich, dass die auf Anregung und mit finanzieller Unterstützung auch bei so umfassender Information wie in diesem der Kulturprojekte Berlin GmbH entstand. Das Buch Jahr die alten und die neuen Nazis durchaus aktiv sind wurde am 9. und 10. November an die interessierten und politische Wachsamkeit, Widerstand, ziviler Un- Teilnehmerinnen und Teilnehmer der verschiedenen gehorsam und Engagement weiter nötig sind. Dazu Veranstaltungen verteilt und ist in einer neuen Aufla- riefen am 10. November am Brandenburger Tor auch ge seit Anfang Dezember für 12 Euro im Buchhandel die Zeitzeugen auf. und in unserer Geschäftsstelle zu erwerben. Es ent- hält neben den Spaziergängen weitere Informationen, Das Aktive Museum, die Koordinierungsstelle darunter Gespräche mit Gunter Demnig und Michael Stolpersteine Berlin und die bezirklichen Stolperstein- Friedrichs-Friedlaender und einen Beitrag über die Initiativen waren an vielen Veranstaltungen und Akti- ersten Stolpersteine in Berlin. Die Koordinierungsstelle vitäten des Themenjahres beteiligt. Das dabei in dieser Stolpersteine Berlin plant, zukünftig in allen Berliner Breite neu entstandene Netzwerk zu erhalten und zu Bezirken regelmäßig Kiezspaziergänge als eine höchst festigen und damit kontinuierliches bürgerschaftliches lebendige und anregende Art des Erinnerns, Gedenkens Engagement zu fördern, wird eine Aufgabe in den und Informierens anzubieten. kommenden Jahren sein. Am 10. November wurden im Rahmen des The- Christine Kühnl-Sager menjahres in der Schöneberger Gleditschstraße 55 die Stolpersteine für Rosa und Ferdinand Traub und Christine Kühnl-Sager ist stellvertretende Vorsitzende des ihren Sohn Alfred zum dritten Mal in das Pflaster ein- Aktiven Museums. – 5 – AKTIVESMUSEUM MITGLIEDERRUNDBRIEF NR. 70 · Januar 2014 FOTOGRAFIEN DER NOVEMBER- materialien heraus, die historische Fotos zum Thema POGROME UND DIE GESCHICHTE EI- „Terror und Widerstand 1933-1945“ enthielt. Darunter befand sich auch eben jene Aufnahme aus Baden-Baden, NES JAHRZEHNTELANGEN IRRTUMS jedoch mit der Bildunterschrift „Die neuen Machthaber greifen durch. 1933: SS führt verhaftete politische Geg- ner durch die Straßen von Berlin“.1 Zwei Jahre später erschien das Foto in der Dokumentation „Kennzeichen Im Jahr 2013 beging die Stadt Berlin anlässlich des J“ von Helmut Eschwege, die im Ost-Berliner Verlag 80. Jahrestages der Machtübertragung an die Nati- der Wissenschaften erschien. Hier wurde das Bild zwar onalsozialisten 1933 sowie des 75. Jahrestages der den Novemberpogromen von 1938 zugeordnet. Die Novemberpogrome von 1938 das Themenjahr „Zer- Unterschrift lautete allerdings: „Deportation Berliner störte Vielfalt“. Mit hunderten von Veranstaltungen, Juden nach Sachsenhausen“.2 Der Grundstein für eine Installationen, Ausstellungen und (Begleit-)Publikati- jahrzehntelange Falschbezeichnung war gelegt. Bis in onen wurde an Menschen erinnert, die einst zur Viel- die 1980er Jahre – und zum Teil weit darüber hinaus falt Berlins beigetragen hatten, während der NS-Zeit – wurde das Foto in diversen Publikationen und Aus- jedoch vertrieben, verfolgt oder ermordet worden stellungen fortan unter der Bezeichnung Berliner Juden waren. Durch Open-Air-Ausstellungen und spezielle auf dem Weg ins Konzentrationslager Sachsenhausen Stadtmarkierungen an authentischen Orten gelangte im November 1938 präsentiert.3 eine Vielzahl historischer Fotos an die breite Öffent- lichkeit. Manche von ihnen sind seit Jahren bekannt Eine ernsthafte Suche nach dem Originalfoto oder und können mithin als fotografische Ikonen bezeichnet zumindest dessen Ursprung scheint in den ersten vier werden. Andere dagegen wurden erst kürzlich entdeckt Jahrzehnten nach Kriegsende nicht stattgefunden zu beziehungsweise einer genaueren Analyse unterzogen. haben. In einer Abhandlung zur Geschichte der Pres- Dass letztgenanntes Vorgehen jahrzehntelang nicht sefotografie von 1983 lautete es sogar: „Der Fotograf unbedingt zu den ersten Gepflogenheiten von Histo- des Bildes, Abraham Pisarek, ist selber Jude und wäre rikern und Publizisten gehörte, ist mittlerweile keine um ein Haar mitverhaftet worden. Er hat die schlimmen Neuigkeit mehr. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Foto Jahre überlebt und über sie in Bild und Wort berichtet. von der als „Prangermarsch“ inszenierten Verhaftung Nur über dieses Bild gibt es keine Äußerung von ihm. jüdischer Männer im November 1938: Lange Zeit wurde Wo stand er, als er dieses Foto gemacht hat? Hinter es als Transport aus Berlin in das Konzentrationslager einer Gardine, auf einem Torbogen? Kannte er einige Sachsenhausen ausgegeben. Tatsächlich entstand die von denen, deren wahrscheinlich letztes Bild er hier Aufnahme am 10. November 1938 in Baden-Baden und aufnahm? Wie gelang es ihm, das Bild zu machen, zeigt jüdische Männer vor ihrem Abtransport in das ohne selbst verhaftet zu werden?“4 Die Fragen mussten KZ Dachau. Doch wie kam es zu dieser Fehlinterpre- zwangsläufig ins Leere führen, war doch der Fotograf tation und wer deckte sie auf? Und können aus dieser nicht Pisarek, sondern Josef Friedrich Coeppicus.5 Der Geschichte eines jahrzehntelangen Irrtums Lehren für (nicht-jüdische) Inhaber eines kleinen Fotogeschäftes in die Zukunft gezogen werden? Baden-Baden hatte am 10. November 1938 eine ganze Serie von insgesamt 22 Bildern in der südwestdeutschen Die Falscheinordnung des Fotos reicht bis in die Kurstadt aufgenommen. Ob er die Negative vor oder 1960er Jahre zurück und könnte als eine deutsch- nach 1945 entwickelte, ist nicht mehr festzustellen; deutsche Co-Produktion bezeichnet werden: Zunächst der größte Teil der Aufnahmen wurde schließlich 1965 gaben Eberhard Aleff, Ilse Kemter und Friedrich Zipfel durch das Stadtmuseum Baden-Baden von Coeppicus für die (West-)Berliner Landeszentrale für Politische Bil- erworben. Auf welchem Weg das Bild des „Pranger- dungsarbeit 1964 eine Zusammenstellung von Arbeits- marsches“ nach Berlin kam, wird sich ebenfalls nicht – 6 – AKTIVESMUSEUM MITGLIEDERRUNDBRIEF NR. 70 · Januar 2014 Baden-Baden, 10. November 1938: Jüdische Männer werden in das Konzentrationslager Dachau abgeführt. mehr ermitteln lassen, denn in Publikationen der 1960er Weg nach Sachsenhausen handelte.6 Er war überzeugt, bis 1980er Jahre erscheinen die unterschiedlichsten zwischen Berlin und Oranienburg gäbe es nirgends eine Provenienzen: Mehrfach wird das Privatarchiv Gerhard topografische Situation, wie sie auf dem Bild gezeigt Schoenberners genannt, der in den 1960er Jahren mit wurde. Den Hinweis, dass es sich vielmehr um ein Bild aus seiner Fotodokumentation „Der gelbe Stern“ große Baden-Baden handelte, gab dann ein Spiegel-Artikel (Der Bekanntheit erlangte. Angeführt werden aber auch Spiegel, Nr. 37/1988) zum Novemberpogrom. In dem die Aktion Sühnezeichen, ADN-Zentralbild Ost-Berlin, Beitrag von Wolfgang Benz war ein Bild aus Baden-Baden oder Helmut Eschweges „Kennzeichen J“. Mit Quellen- abgedruckt, auf dem man ebenfalls die Dreierreihen der angaben und Bildrechten nahmen es die Autoren und Verhafteten sah. Friedrich erkannte mit scharfem Blick, Herausgeber offensichtlich nicht allzu genau. dass es sich um dieselben Personen handelte wie auf dem Plakatmotiv. Im Spiegel waren glücklicher Weise Erst 1988 führte der Berliner Publizist und Ausstel- die korrekten Angaben zu lesen: Festgenommene Juden lungskurator Thomas Friedrich eingehende Untersu- in Baden-Baden. Friedrich fand die weiteren Bilder zu chungen zu dem Foto durch. Er gehörte zum Team der dem Ereignis, die er dann mit seinem Kollegen Jürgen Ausstellung „Vor aller Augen: Der Novemberpogrom Freter in die richtige Reihenfolge brachte. Zur Hilfe 1938“, die aus Anlass des 50. Jahrestages der Pogrome kam ihnen dabei, dass sie den Fotos einen bisher kaum in der Akademie der Künste in West-Berlin gezeigt beachteten Zeitzeugenbericht über den 10. November wurde. Das besagte Foto war als Plakatmotiv vorge- 1938 in Baden-Baden zuordnen konnten, der 1955 in sehen, wobei Friedrich große Zweifel hatte, ob es sich Großbritannien vom Holocaust-Überlebenden Arthur bei der Aufnahme wirklich um Berliner Juden auf dem Flehinger verfasst worden war. – 7 – AKTIVESMUSEUM MITGLIEDERRUNDBRIEF NR. 70 · Januar 2014 zahlreichen Publikationen und Archiven unter einer falschen Bezeichnung geführt worden war. Ob sich eine ähnliche Entdeckung, wie die von Friedrich aus dem Jahr 1988 wiederholen kann, ist nicht ausgeschlossen. Weiterhin rätselhafte Fotos von den Novemberpogromen gibt es allemal. Dies legt auch das jüngst erschienene und äußerst informative Buch „Kristallnacht? Bilder der Novemberpogrome 1938 in Berlin“ nahe, in dem Bjoern Weigel und Christoph Kreutzmüller „erstmals alle 27 Fotografien [zeigen], die bisher von den Verwüstungen jüdischer Gewerbe- triebe in Berlin bekannt geworden sind“. Die beiden Autoren geben sorgfältig recherchierte Informationen zur Herkunft jeder Aufnahme und unterziehen sie einer detaillierten Analyse. Darunter befindet sich auch ein Foto des Bettengeschäftes S. Kaliski & Co. in Berlin-Charlottenburg, das schon in den sechziger Jahren Eingang in Publikationen über die Novem- berpogrome gefunden hatte. Es zeigt einen jungen Mann in kariertem Hemd, der mit einem Besen vor den zerstörten Schaufenstern entlanggeht, während links hinter ihm ein Mann in Mantel und Hut ebenfalls Berlin, 10. November 1938: Das zerstörte Bettengeschäft Kaliski an der Ecke Tauentzien-/Nürnberger Straße. Aufräumarbeiten verrichtet.8 Beide Personen konnten bisher nicht identifiziert werden, wenngleich es einen Der nunmehr korrekt verorteten Aufnahme wid- Zeitzeugenbericht über das Geschäft im November mete man – zusammen mit weiteren Bildern aus Ba- 1938 gibt. So schreibt die Holocaust-Überlebende den-Baden – einen eigenen Teil in der Ausstellung „Vor Marta Mierendorff in einem Beitrag aus dem Jahr aller Augen“. Auch in anderen Veröffentlichungen war 1970: „Mein Ehemann Gottfried Salomon […] gebo- es fortan mit der richtigen Bezeichnung versehen, so ren am 4.4.1896 in Berlin, Kriegsverletzter im Ersten etwa in der deutschsprachigen Ausgabe der „Enzyk- Weltkrieg, war Diplom-Kaufmann und im Begriff, ein lopädie des Holocaust“, die 1993 unter Mitwirkung juristische Vollstudium zu beenden. Nach 1933 wurde von Jürgen Freter erschien. Die 2002 erschienene er von der Berliner Universität zwangs-exmatrikuliert. Publikation „Vor aller Augen. Fotodokumente des Seinen Beruf konnte er bald nur noch ab und zu und nationalsozialistischen Terrors in der Provinz“, die schwarz ausüben. Am 8. November 1938 arbeitete er im aus einem Projekt der „Topographie des Terrors“ zur Bettengeschäft Kalinsky [sic!] in der Tauentzienstraße. Erschließung von Fotomaterial entstanden war, ging Nach der Kristallnacht mußte er die Scherben der ebenso auf die Bilderserie ein.7 Zuletzt im Jahr 2012 zertrümmerten Schaufensterscheiben, umgeben von wurde von Christoph Kreutzmüller und Julia Werner Gaffern, selbst auffegen.“9 eine Detailanalyse der Baden-Badener Fotos vorge- legt. Allen diesen Beiträgen vorausgegangen war die Ist der abgebildete Mann mit Mantel und Hut Gott- akribische Recherche von Thomas Friedrich. Durch fried Salomon, der 1944 nach Auschwitz deportiert und genaue Beobachtung und Analyse war es ihm gelun- ermordet wurde? Freilich wird sich dies auch durch den gen, ein Foto richtig zu verorten, welches bis dahin in Artikel von Marta Mierendorff nicht endgültig klären – 8 – AKTIVESMUSEUM MITGLIEDERRUNDBRIEF NR. 70 · Januar 2014 lassen. Ihr Bericht verweist jedoch auf eine Quellengat- Ausstellung über die evangelische Kirche im Nationalsozia- tung, die in Zukunft noch stärker herangezogen werden lismus am Beispiel der Gemeinde Dahlem, Tafel 24. könnte: Die Überlieferungen der Überlebenden, die mittlerweile zum größten Teil verstorben sind. Ihnen 4) Diethart Kerbs, Walter Uka, Bilddokumente der Ver- wurde in der Bundesrepublik bis in die achtziger Jahre folgung, in: Diethart Kerbs, Walter Uka, Brigitte Walz-Rich- nur wenig Gehör geschenkt. Bei systematischer Auswer- ter (Hrsg.), Die Gleichschaltung der Bilder: Zur Geschichte tung, genauer Analyse und auch ein wenig Glück dürften der Pressefotografie 1930-36, Berlin (West), S. 127-140, sich vielleicht weitere, bisher unbekannte Berichte (wie- hier: S. 134. der-)finden lassen, die zur Identifizierung rätselhafter Fotos oder zur Vermeidung ihrer Fehlinterpretationen 5) Christoph Kreutzmüller, Julia Werner, Fixiert: fotogra- beitragen können. Grundlage muss jedoch die Suche fische Quellen zur Verfolgung und Ermordung der Juden nach der genauen Herkunft eines Fotos und dessen in Europa. Eine pädagogische Handreichung, Berlin 2012, Kontextualisierung sein. Nicht zuletzt Thomas Friedrich S. 16. ist es zu verdanken, für dieses Vorgehen ein größeres Bewusstsein und Sensibilität geschaffen zu haben. 6) Für diese und die folgenden Informationen danke ich Jürgen Freter (Berlin). Gerd Kühling 7) Klaus Hesse, Philipp Springer, Vor aller Augen: Foto- Gerd Kühling ist Historiker und Beisitzer im Vorstand des dokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Pro- Aktiven Museums. Neben seiner Tätigkeit als freier Mitarbeiter vinz, Essen 2002, S. 112f. der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz verfasste er eine Dissertation zum Thema „NS-Erinnerung in Berlin. Verfolgte 8) Bjoern Weigel, Christoph Kreutzmüller, Kristallnacht? des Dritten Reiches und geschichtspolitisches Engagement im Bilder der Novemberpogrome 1938 in Berlin, Berlin 2013, Kalten Krieg 1945-1979“. S. 29. 9) Marta Mierendorff, Das Terror-Regime der Gestapo 1) Eberhard Aleff, Ilse Kemter, Friedrich Zipfel, Terror in der Jüdischen Gemeinde Berlin, In: Die Mahnung – Zen- und Widerstand 1933-1945: Arbeitsunterlagen für die po- tralorgan Demokratischer Widerstandskämpfer und Ver- litische Bildung, (hg. von der Landeszentrale für Politische folgten-Organisationen, 1. Mai 1970. Bildungsarbeit Berlin), Berlin (West) 1964, Materialmappe J / Bilddokumente. 2) Helmut Eschwege (Hrsg.), Kennzeichen J: Bilder, Do- kumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hit- lerfaschismus an den deutschen Juden 1933-1945, Berlin (Ost) 1966, S. 110. 3) Vgl. Peter Freimark, Wolfgang Kopitzsch, Der 9./10. November 1938 in Deutschland. Dokumentation zur „Kristallnacht“, Hamburg 1978, S. 94; Micha Michalowitz, Musik in der Grenadierstraße, in: Eike Geisel, Im Scheunen- viertel: Bilder, Texte und Dokumente, Berlin (West), S. 144- 149, hier: S. 148f.; Friedenszentrum Martin-Niemöller- Haus (Berlin), Unterwegs zur mündigen Gemeinde – Eine – 9 –

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Liebe Mitglieder und Freunde des. Aktiven Museums,. In diesem ersten Rundbrief 2014 wollen wir noch einmal auf das nun vergangene Berliner Themenjahr.
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