Wirtschaft + Gesellschaft Helmut Wiesenthal Rationalität und Organisation 1 Akteur- und Organisationstheorie Wirtschaft + Gesellschaft Reihe herausgegeben von A. Maurer, Universität Trier, Deutschland U. Schimank, Universität Bremen, Deutschland Wirtschaft und Gesellschaft ist ein wichtiges Themenfeld der Sozialwissenschaften. D aher diese Buchreihe: Sie will zentrale Institutionen des Wirtschaftslebens wie Märkte, Geld und Unternehmen sowie deren Entwicklungsdynamiken sozial- und gesellschaftstheoretisch in den Blick nehmen. Damit soll ein sichtbarer Raum für Arbeiten geschaffen werden, die die Wirtschaft in ihrer gesellschaftlichen Einbettung betrachten oder aber s oziale Effekte des Wirtschaftsgeschehens und wirtschaftlichen Denkens analysieren. Die Reihe steht für einen disziplinären wie theoretischen Pluralismus und pflegt ein offenes Themenspektrum. Reihe herausgegeben von Andrea Maurer, Universität Trier Uwe Schimank, Universität Bremen Beirat Jens Beckert, Max-Planck-Institut, Köln Anita Engels, Universität Hamburg Stefanie Hiß, Universität Jena Sighard Neckel, Universität Hamburg Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12587 Helmut Wiesenthal Rationalität und Organisation 1 Akteur- und Organisationstheorie Helmut Wiesenthal Berlin, Deutschland Wirtschaft + Gesellschaft ISBN 978-3-658-19999-9 ISBN 978-3-658-20000-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-20000-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail- lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Inhalt Einleitung Elemente einer Theorie rationaler politischer Akteure (1991/2017) . . . . . 1 Kapitel 1 Rational Choice: Grundlinien, Theoriefelder und Themenakquisition (1987) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Kapitel 2 Methodologischer Individualismus als Akteurtheorie (1993/96) . . . . . . 57 Kapitel 3 Markt, Gemeinschaft, Organisation – Bausteine empirischer Koordinationsweisen (2000) . . . . . . . . . . . . 83 Kapitel 4 Akteurrationalität . Zur Steuerungsfähigkeit politischer Akteure in der Beschäftigungskrise (1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Kapitel 5 Sozialverträglichkeit ist nicht gleich Betroffenenpartizipation (1990) . . . 131 Kapitel 6 Constraint-Soziologie als Risiko . Zur begrenzten Diagnosefähigkeit der Sozialwissenschaften für Globalisierungsfolgen und -optionen (1998/2017) . . . . . . . . . . . 155 VI Inhalt Kapitel 7 Optionensonde und Entscheidungshelfer . Zur unausgeschöpften Beratungskompetenz der Soziologie (2006) . . . . 181 Kapitel 8 Rationalität und Unsicherheit in der Zweiten Moderne (2009) . . . . . . . 201 Kapitel 9 Akteurkompetenz: Das Trilemma strategisch ambitionierter Mitgliederverbände (1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Kapitel 10 Kritischer Rückblick auf die emphatische Gewerkschaftstheorie (1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Kapitel 11 Konventionelles und unkonventionelles Organisationslernen (1995) . . . 265 Kapitel 12 Organisationslernen revisited. Weiterführende Überlegungen und Grenzerfahrungen (2005) . . . . . . . 297 Kapitel 13 Forschungsevaluation als Organisationslernen (2007) . . . . . . . . . . . 309 Kapitel 14 Unsicherheit und Multiple-Self- Identität (1989/2017) . . . . . . . . . . . 323 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Einleitung Elemente einer Theorie rationaler politischer Akteure (1991/2017)1 Das Verlangen nach Rationalität im Umgang mit Wirklichkeit verdankt sich zum be- trächtlichen Teil der Allgegenwart von Unsicherheit. Das Erleben von Unsicherheit betrifft nicht nur die Möglichkeit von Naturkatastrophen und mancherlei scheinbar zufälligen Ereignissen, sondern ebenso sehr das Denken, Wollen und Tun unserer Mitmenschen, genauer: von autonomen Individuen. Für den Umgang mit „unsiche- ren“ Naturereignissen wie für die Bearbeitung, Verringerung, im Extremfall auch Beherrschung „menschlicher“ Unsicherheit existiert ein sozialer Mechanismus: die Organisation der zwischenmenschlichen, d. h. sozialen, Beziehungen. Organisation ist – in einer unüberschaubaren Vielfalt von Formen und Spielarten – die am Wei- testen verbreitete Antwort auf ubiquitäre Unsicherheit und folglich prominentester Ausdruck des Bemühens um Berechenbarkeit und Zielverwirklichung in der genuin unsicheren Welt. Die Texte dieses Bandes haben ein gemeinsames Grundthema. Sie handeln von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten des Umgangs mit Unsicherheit, sei es im Bemühen um rationale, d. h. konsequenzenbedachte, Entscheidungen, sei es durch je besondere Spielarten von Organisation. Es sind entweder Anwendungen der soziolo- gisch informierten Rational Choice-Theorie oder aber Reflexionen auf Eigentümlich- keiten dieses Theoriezweigs. Sofern letzterer nicht der unmittelbar behandelte Ge- genstand ist, drehen sich die einzelnen Analysen um kollektive Akteure, das heißt um Organisationen, seien es Parteien, Gewerkschaften oder Wirtschaftsunternehmen, und zwar speziell um deren auf die Handlungsumwelt bezogene Entscheidungspro- duktion. Besondere Aufmerksamkeit gilt den strategischen Kompetenzen kollektiver Akteure für den Umgang mit interaktions- und ereignisinduzierter Unsicherheit. 1 Teile der Einleitung entstammen einem Manuskript, das in die 1991 verfasste Habilitationsschrift Eingang fand. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 1 H. Wiesenthal, Rationalität und Organisation 1, Wirtschaft +Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20000-8_1 2 Einleitung In dieser Einleitung werden zunächst einige generelle theoretische Grundannah- men vorgestellt. In diesem Zusammenhang wird erläutert, warum allgemeine Ge- sellschaftstheorien kein geeigneter Ausgangspunkt für die Analyse des resultatorien- tierten (kollektiven politischen) Handelns sind (Abschnitt 2). Im Anschluss daran werden einige theoretische und methodologische Prämissen des verwendeten Ra- tional Choice-Ansatzes diskutiert (Abschnitt 3). Im Weiteren kommen Verbindungs- linien zu Theorieansätzen wie dem des Neuen Institutionalismus zur Sprache, die geeignet sind, Rational Choice-Erklärungen vor der Falle des ökonomistischen Re- duktionismus zu bewahren (Abschnitt 4). Im letzten Abschnitt (5) werden die je be- sonderen thematischen Schwerpunkte der einzelnen Kapitel dieses Bandes vorgestellt. Zuallererst sei jedoch das Grundthema erläutert, das in allen Texten wiederkehrt und auch die Auswahl der bevorzugt studierten Kollektivakteure begründet. 1 Das Grundthema Die Mehrzahl der versammelten Texte entstand bei der Weiterverfolgung des in einer Dissertation (Wiesenthal 1987) behandelten Standardproblems kollektiver (i. d. R. po- litischer) Akteure: das Spannungsverhältnis von Identitätskonzepten, unbeherrsch- baren Situationsbedingungen und erfolgsorientierten (d. h. intendiert rationalen) Strategien der Bestandssicherung und Zielverwirklichung. Es ist vor allem ein be- stimmter, immer wieder zu beobachtender Sachverhalt, der zur Beschäftigung mit inner- und interorganisatorischen Konfliktkonstellationen und den durch sie gepräg- ten Entscheidungsprozessen anregt. Weil die handlungsleitenden Intentionen kol- lektiver Akteure nicht nur auf Ereignisse und Institutionen in ihrer externen Um- welt gerichtet sind, sondern gleichzeitig eine nicht minder bedeutsame Rolle bei der Binnenintegration und der Darstellung kollektiver Identität spielen, geraten mitglie- derabhängige Organisationen regelmäßig in ein Dilemma. Entweder müssen sie ihre normativ gehaltvollen und zu Identitätsmerkmalen geronnenen Situationsdeutungen in Reaktion auf unvorhergesehene Umweltveränderungen modifizieren. Oder ihre Identitätskonzepte verlieren an Bindungskraft, weil die an ihnen orientierten Ziel- und Erfolgsdefinitionen in der sich kontinuierlich (und oft unerwartet) wandelnden Handlungswelt scheitern. Dieses Dilemma, in das vor allem strategisch ambitionierte Organisationen zu geraten drohen, manifestiert sich in dem anhaltenden Spannungsverhältnis zwi- schen zwei gleichermaßen erfolgswichtigen Umweltsegmenten: der von Personen gebildeten (internen) Mitgliederumwelt und der mit anderen strategischen Akteu- ren geteilten (äußeren) Umwelt. Denn diese Umweltsegmente stellen gegensätzliche Anforderungen an die Entscheidungsproduktion. Mitgliederrekrutierung und Mit- gliederintegration gelingen nur, wenn die Organisation über ein normatives Profil verfügt, exklusiven Eigensinn entwickelt und die Umwelt durch eine eigene, ihrer In- tegration förderliche „Brille“ zu deuten vermag. Demgegenüber hängen die externen Elemente einer Theorie rationaler politischer Akteure 3 Erfolgsaussichten der umweltbezogenen Strategien mit der Anpassungsfähigkeit und Verlässlichkeit der Orientierungsschemata, d. h. mit dem Grad der Qualität und Flexi- bilität der handlungsleitenden Deutungen, zusammen. Als geeignete Gegenstände für das Studium von Problemen der Handlungsfähig- keit kollektiver Akteure empfehlen sich Interessenverbände, Gewerkschaften, an- spruchsvolle Reformen anstrebende Parteien, aber auch – in eingeschränktem Ma- ße – Wirtschaftsunternehmen. Die drei erstgenannten Kollektivakteure sind von besonderem Interesse, weil sie ein Merkmal miteinander teilen, das sie von anderen Organisationen unterscheidet. Sie konstituieren sich durch Bezugnahme auf struk- turelle Konfliktlinien in der modernen Industriegesellschaft und streben nicht sel- ten, wie ihre internen Diskurse belegen, institutionelle Veränderungen an, die auch die eigenen Konstitutionsbedingungen verändern würden. An Kollektivakteuren, die „Weltveränderungen“ um den Preis signifikanter Selbstveränderung intendieren, las- sen sich quasi maßstabsvergrößert generelle Steuerungsprobleme vieler kollektiver (politischer) Akteure studieren: Ihre Steuerungsprobleme fallen komplexer aus als die Bedingungen der Selbstbehauptung von marktabhängigen Wirtschaftsunterneh- men oder bürokratischen Administrationen, welche den Organisationszweck weitaus effektiver von den Mitgliedschaftsmotiven abzukoppeln verstehen.2 Der Gegenstand „politische Akteure als Organisationen mit freiwilliger Mitglied- schaft“ steht in einem prominenten sozialtheoretischen Problemhorizont. Die ge- nannten Akteure sind in den liberalen Demokratien der Gegenwart mit einer Palet- te von Themen befasst, die direkt oder indirekt die Reproduktionsbedingungen der (post-)modernen Industriegesellschaft betreffen und in zwei Hinsichten als proble- matisch gewertet werden. Erstens hat die Komplexität der „Sachthemen“, die politi- scher Entscheidungen bedürfen, infolge der globalwirtschaftlichen Integration und des beschleunigten technologischen Wandels von Jahrzehnt zu Jahrzehnt erheblich zugenommen. Zweitens haben sich die sozialstrukturellen Bedingungen der Moti- vierung, Mobilisierung und Integration von Individuen mit der Erosion traditionaler Bindungen zum Nachteil der auf freiwillige Mitgliedschaft angewiesenen Organisa- tionen gewandelt. Während diese seitens der Öffentlichkeit und der mit Steuerungs- funktionen betrauten Institutionen mit hohen Ansprüchen an Entscheidungsratio- nalität und Regulierungskraft konfrontiert sind, erleben sie zur selben Zeit die Schwächung und Diversifizierung der Beteiligungsmotivation mit der Folge einer ab- nehmenden Unterstützungsbereitschaft. In der politischen Praxis – und etwas schwächer in sozialwissenschaftlichen Dis- kursen – grassiert immer noch die Annahme, dass individuelle Interessen- oder auch nur Meinungsbekundungen ein Korrelat sozioökonomischer Umstände bzw. Aus- druck einer in politische Aktivität umgemünzten Deprivationserfahrung seien. Viel 2 Aufgrund der Differenz von „conjoint“ und „disjoint authority relations“ (Coleman 1990, ch. 4) er- weisen sich Vergleiche zwischen den Steuerungsleistungen (bzw. -problemen) von politischen Ak- teuren und Unternehmen als hilfreich für das Verständnis beider Akteurtypen.
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