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Rationales Handeln und soziale Prozesse: Beiträge zur soziologischen Theoriebildung PDF

426 Pages·2004·32.389 MB·German
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Michael Schmid Rationales Handeln und soziale Prozesse Michael Schmid Rationales Handeln und soziale Prozesse Beitrage zur soziologischen Theoriebildung VS VERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFTEN - =111 + VS VERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFTEN VS verlag fOr Sozialwissenschaften Entstanden mit Beginn des Jahres 2004 aus den beiden Hausern Leske+Budrich und Westdeutscher verlag. Die breite Basis fOr sozialwissenschaftliches Publizieren Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Ober <http://dnb.ddb.de> abrufbar. 1. Auflage April 2004 Aile Rechte vorbehalten © VS Verlag fOr Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004 Softoover reprint of the hardoover 1s t edition 2004 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag fOr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden dOrften. Umschlaggestaltung: KOnkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier ISBN-13: 978-3-322-80487-7 e-ISBN-13: 978-3-322-8Q486.0 DOl: 10.10071978-3-322-80486-0 Ernst Topitsch (20.03.1919 - 26.01.2003) in dankbarer Erinnerung Inhalt Einrtihrung: Rationalannahmen und das Integratiousprogramm der Sozialwissenschaften .............................................. 9 L Theorievergleich: Methodologische Grundlagen soziologischer Theoriebildung Soziologischer Theorienvergieich ...................................................................... 23 Soziologische Handlungstheorie. Probleme der Modellbildung ........................... 61 n. Rationalitiit: Rekonstruktion des soziologischen Forschungsprogramms Paradigmawechsel in der Sozialtheorie? Zum Verhiiltnis der soziologischen und okonomischen Handlungstheorie ......................................... 93 Unsicherheit, Ineffizienz und soziale Ordnung. Bemerkungen zum Verhiiltnis des soziologischen und tikonomischen F orschungsprogranuns ........ 110 Die evolutorische Okonomik. Wfirdigung eines Forschungsprogranuns ..................................................................................... 126 Die Theorie rationaler Wahl. Bemerkungen zu einem Forschungsprogranun ...................................................................................... 146 Rationales Handeln und technische Innovation. Eine Untersuchung des ErkUirungspotenzials der okonomischen Entscheidungstheorie ........................ 171 IlL Soziale Prozesse: Theoretische Integration oDd Kritik Das Problem der Normentstehung .................................................................... 199 Reziprozitat. Bemerkungen zur Theorie der TauschverWiltnisse ....................... 219 Konsens und Gewalt. Zur handlungstheoretischen Integration soziologischer und okonomischer Modellierungen sozialer Mechanismen der Normentstehung ..................................................... 247 Die Wende und ihre Theorien. Modellogische Kritik der Transformationsforschung ............................................................... 299 Literatur ......................................................................................................... 334 Drucknachweise ............................................................................................. 433 Einidhrung: Rationalannahmen und das Integrationsprogramm der Sozialwissenschaften 1. Problemstellung Die nachfolgend abgedruckten Arbeiten beruhen auf einem wissenschaftstheoreti schen Verstandnis der theoretischen Sozialwissenschaften, das ich vonveg klliren mochte, urn dem Leser die Beurteilung von Reichweite und Zielrichtung meiner inhaltlich-theoretischen Uberlegungen zu erleichtem. In deren Hintergrund steht die Beobachtung, dass die wechselseitige Einschiitzung der Sozialwissenschaften und das Selbstverstandnis der akademischen Soziologie im Besonderen fiber lange Zeit durch die Meinung gepragt worden ist, die Theorielandschaft sei durch eine unaufhebbare Multiparadigmatik und eine Vielfalt irreduzibler "Perspektiven" und "Ansatze" gekennzeichnet. Verursacht wurde diese Deutung gleichermaBen durch die fiiihe Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaften, durch die Ver selbststandigung der juristisch ausgerichteten Staatswissenschaften und vor aHem der Okonomie, die in allen ihren Versionen daraufbesteht, fiber eine fachspezifi sche Weltsicht zu verfiigen. Innerhalb der Soziologie hatte die Parsonsschule zwar versucht, ein Integrationsprogramm zu propagieren, war aber infolge ihrer Unfli higkeit, eine fruchtbare Forschungsheuristik zu entwickeln, in eine Vielzahl sich bekampfender Schulen auseinandergefalleni, und endlich wurde die Vielgestal tigkeit der Sozialwissenschaften auch durch die Eigenstiindigkeitsanspmche neo rnarxistischer Stromungen verstlirkt2• Dieser Zusammenbruch einer einheitlichen sozialwissenschaftlichen Forschungstradition, wie sie von Thomas Hobbes, David Hurne und Adam Smith begrfindet worden waf3, wurde abgesegnet durch eine Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, die in strikter Ablehnung aller Comte schen (und noch Parsonsscher) Vereinheitlichungsvorschlage die Existenz diszi plinar eigenstandiger Erkenntnismethoden und inhaltlich unvergleichbarer "Para digmen" behauptete4. Mittlenveile beginnen sich die Zeichen fur eine veranderte Deutung der Sach lage zu mehren. So zeigt die Wissenschaftsphilosophie, dass disziplinenfibergrei- vgl. die Schilderung bei Alexander 1984. 2 Die Betonung von Klassen und K1assenkonflikten diente dabei als Grenzmarkierung, vgl. die zusarn menfassenden Diskussionen bei Rex 1961 und Giddens 1973. 3 Vgl. zur Rekonstruktion des entsprechenden Forschungsprogramms Pfibram 1912, Vanberg 1975, Bohnen 1975, Bohnen 2000. 4 Die Genese dieser Auseinandersetzung ist immer wieder beschrieben worden, vgl. etwa Mandelbaum 1971. Fur die Paradigmafrage vgl. aUgemein Kuhn 1967 und rur die soziologische Debatte u.a. Ale xander 1982 und Rhoads 1991, S. 7ffbzw. Sclunid in diesem Band, S. 92ff. 10 Rationalannahmen fende Rationalitatsanspruche des menschlichen Erkenntnisvermogen unter der Tatsache, dass sich Forschungen thematisch wie methodisch unterscheiden, nicht leiden mussen5, und in der Sozialtheorie verbreitet sich die Einsicht, dass weder die Differenzen zwischen "Handlung" und "System" oder ,,Konflikt" und ,,Kon sens", noch die Gegeneinanderstellung von "Rationalitat" und "Normorientie rung" oder ,,Mikro-,, versus "Makrotheorien" dazu taugen, eigenrechtliche Schu len zu griinden, sondem dass alle diese Faktoren "Einzelaspekte" eines ubergrei fenden theoretischen Arguments bezeichnen6. Natiirlich wird die Notwendigkeit eines solchen Einheitsprogramms infolge der disziplinaren Aufteilung der Sozi alwissenschaft und den damit verbundenen Partikularinteressen nur zogerlich zu gestanden und es gibt eine entsprechende Vielzahl von Versuchen, bei seiner Ausarbeitung liebgewonnenen Auffassungen eine dominante Position zu verschaf fen; gleichwohl beginnen sich wenigstens die Umrisse einer ubergreifenden Sichtweise abzuzeichnen, die ich in den nachfolgenden Abschnitten schildem mochte. 2. Ein einheitliches Erkliirungsprogramm fur die Sozialwissenschaften Ausgangspunkt der sich anbahnenden Neubewertung ist das auch durch philoso phische Vor- und Begleitarbeiten erzwungene EingeStiindnis7, dass sich die sozi alwissenschaftliche Theorie nicht auf die Erforschung uberindividueller Ereignis ketten und die Abfolge von Makrozustiinden und Verteilungsstrukturen einlassen sollte, ohne der Tatsache Rechnung zu tragen, dass diese durch das aggregierte Handeln einzelner Akteure entstehen und ihrerseits auf dessen Erfolgsbedingun gen kanalisierend zurUckwirken. Sozialwissenschaftliche Erkliirnngen basieren demnach auf dem Nachweis, dass "kollektive Phanomene"g - und d.h. Vertei lungsstrukturen, Organisationsformen und soziale Prozesse -als Ergebnis indivi dueller Handlungen und deren kollektiver Folgen zu deuten sind. Aus dieser Prob lemsicht resultieren zwei logisch verkniipfte Fragen9: Zum einen die Frage, mit Hilfe welcher Theorie das Handeln individueller Akteure erklart werden kann, und zum anderen die Frage, wie die Theoriebildung mit dem Problem umgehen solI, dass Akteure in sozialen Situationen damit reehnen mussen, dass Verlauf und Erfolg ihres Handelns von den Handlungen ihrer Mitakteure abhlingen. 5 Vg 1. Trigg 1985, Kitcher 1993, Laudan 1996, Kincaid 1996 6 Vg 1. Munch 1982, Coleman 1991, S. 1ft; Fararo 2001 7 VgI. Popper 1961, Little 1991, Bunge 1996 8 VgI. Lindenberg 1977, WipplerlLindenberg 1987 9 VgI. Alexander 1982, S. 71ft; wo er das "Problem des Handelns" vom "Problem der Ordnung" (des Handelns mehrerer Akteure) unterschieden hal und das Integrationsprogramm der Sozialwissenschaften 11 2.1. Das Problem des Handelns Auf die umfangreichen Debatten fiber die relative Bedeutsamkeit kausalistischer und mentaiistischer Handlungstheorien kann ich an dieser Stelle ebenso wenig eingehenlO wie auf die Frage, ob es eine eigenstiiudige ,,kultura1istische" Erkla rungsform menschlichen Handelns gibtl1; wichtig fUr die behaupteten Vereinheit lichungsbemiihungen ist alleine die von allen Sozialwissenschaften geteilten An sicht, dass menschliches Handeln als intentionaies oder absichtsgeleitetes Handeln betrachtet werden muss und damit als Versuch eines Akteurs, angesichts situati ver Restriktionen und Moglichkeiten bestimmte Ziele anzustreben, wobei er sich infolge der Vielgestaltigkeit seiner moglichen Handlungsalternativen durchge hend vor ein Auswahl- oder Selektionsproblem gestellt sieht. Zur Modellierung dieses Sachverhalts hat sich die AufIassung durchgesetzt, dass jedem absichtsge leiteten Handeln eine Entscheidung zugrunde liegtl2; die Basistheorie jeder Sozi alwissenschaft ist mithin eine Theone individuellen EntscheidensJ3. Dariiber, wie diese angelegt sein muss, besteht keine einheitliche Meinungl4; es lassen sich aber einige allgemein akzeptierte Elemente identifizieren, die alle dem Sachverhalt gerecht werden wollen, dass jedem Handlungsprojekt ein Min destmaB an Rationaiitat zugrunde liegt. Dieses MaB bestimmt sich zum einen da nach, dass ein Akteur nur dann erfolgreich handelt, wenn er dazu in der Lage ist, Zielzustiiude vergleichend zu bewerten; die Rationalitat eines Handeln hangt zum anderen aber auch davon ab, dass er fiber Informationen oder Envartungen fiber die Bedingungen seines Handelns verfiigt, die ihm zu beurteilen erlauben, mit welcher Wahrscheinlichkeit und aufwelchem Wege er seine Ziele erreichen kann. Dariiber hinaus ist die Handlungsrationalitat aber auch dadurch bedingt, dass die Mittel, Fahigkeiten und Moglichkeiten jedes Akteurs begrenzt sind; jede seiner Handlungen muss entsprechend dem Problem der Knappheit gerecht werden. Die se Priimissen erlauben die Ableitung der These, dass ein Akteur seine Ziele bzw. seine AufIassungen fiber die Art seines Handlungsproblems solange beibehalt als er hinreichend erfolgreich handeln kann, diese aber dann umgestaltet, wenn die ser Erfolg ausbleibt. In beiden Fallen lernt der Akteur offenbar infolge seines je weiligen Handlungserfolgsl5. Maximale Etfolge sind der unvermeidbaren Ent scheidungs-und Opportunitatskosten wegen indessen nicht erwartbar, bestenfalls konnen optimale Wahlen beobachtet werden, die die Gewinne und Ertrage einer 10 vgl. rur die altere Debatte Beckermann 1977, Schmid 1979, und neuerdings Mohr 1996. 11 vgl. Abel 1983, Reckwitz 2000, S. 91ff 12 Es ist wert daran zu erinnem, dass dies auch Parsons Ausgangspunkt war, vgl. Parsons/Shils 1951, S. 64. 13 Das gilt auch rur die Wissenschaftstheorie, sofem sie als eine empirische Theorie menscblicher For schungstiitigkeit aufgefasst winl, vgl. Kitcher 1993. Die These selbst, wonach jedem Handeln eine Entscheidung zugrunde Iiegt, stellt einen Allexistenzsatz der, der weder falsiftziert noch verifIZiert werden kann. lnsoweit besitzt (auch) das hier verteidigte Forschungsprogranun eine metaphysische Grundlage. 14 Die Literatur dazu ist villlig aus den Fugen geraten, vgl. zum Uberblick Elster 1983a, S. 2ff. 15 Das Verhiiltnis von Lemen und Entscheiden ist klarungsbedilrftig, vgl. Schmid 1993. 12 RationaJannabmen Handlung gegen die notwendigen Aufwendungen und Nebenfolgen aufrechnen. 1m Zentrum jeder (rationaIistischen) Entscheidungstheorie steht in logischer Fol ge die Frage, mit HiIfe welcher Operationen ein Akteur Ziele, Erwartungen und Knappheiten optimal miteinander verknfipfen und wie er diese Verbindung an hand seines Handlungserfolgs kontrollieren kann, ohne sich in Widerspriiche, Zirkel oder Indifferenzen zu verwickeInJ6• Eine eindeutige FestIegung solcher OptimaIitlitsbedingungen gelingt vor alIem dort, wo das Handeln eines Akteurs aIs ein "Spiel gegen die Natur" modelliert werden kann, was ibm erlaubt, aIle externen Erfolgsbedingungen seines HandeIns aIs ,,Daten" oder ,,Parameter" zu betrachten, die Dicht darauf reagieren, dass er ein Entscheidungsproblem zu 16sen versucht. Diese Menge von Parametern um fasst auch alIe internen Voraussetzungen des Entscheidens, die die Entschei dungstheorie Dicht eigens thematisiertJ7• So muss sie sich Dicht unter alIen Um stlinden dafiir interessieren, ob die Ziele, die ein Akteur verfolgt, angeboren sind oder erlernt, unter welchen Bedingungen die Informationsbeschaffimg und Infor mationsverwertung und damit die Erwartungsbildung und -umbildung erfolgt 0- der von welchen Umstlinden die Begrenztbeit seiner Handlungskompetenzen und -fiihigkeiten abMngt. Solche Untersuchungen sind besonders dann entbehrIich, wenn entsprechende Hintergrundprozesse entscheidungsfrei verIaufen; soziobio logische Theorien fiber angeborenen V~rhaltensprogramme, Wahrnebmungstheo rien, Emotionstheorien, Theorien des Denkens und der Symbolisierung oder die psychoanalytische Lehre des Unbewussten k6nnen demnach aIs Hintergrunds bzw. Anschlusstheorien gedeutet werden, sind aber kein Bestandteil der Entschei dungstheorie selbst. 2.2. Das Problem der Ordnung des Handelns In letzter Instanz aber interessiert sich die SoziaItheorie fiir die Bedingungen des individueUen HandeIns nur insoweit, aIs diese zum Problem der Handlungsinter dependenz fiihren, das sie unter der Bezeichnung ,,Problem der soziaIen Ord nung", ,,Koordinationsproblem" oder ,,Problem des soziaIen Gleichgewichts" zu bearbeiten versuchtJ8• Um dieses Problem zu 16sen, untersteUt sie (in alIer Re geIJ9), dass die individueUen Entscheidungsvoraussetzungen der Akteure unver ilnderlich und gleich (verteiIt) sind20• Eine solche Konstanz- und HomogeDitlits- 16 Die Rationa1itllt eines Handelns bAngt damit sowobl von "prozeduralen" aIs von ,,instrumentaIisti- schen" Gesiehtspuokten ab, denen erne Entscheidung folgt. 17 Vgl.Schimank2000,S.14 18 VgI. Oberblicksweise Klapp 1973 19 Entsprechend Ilisst sicb die Auseinandersetzung um die "Grenzen" dec Rationaltheorie versteben aIs Versucb, je nacb Interessenlage, erldirungsrelevanfe Zusatzfaktoren entweder zu endogenisieren odec fiIr erne eigenstlindige und db. niebt-rationalistiscbe Theorietradition zu reserviereo, die den Wahlas pekt des Handelns niebt betont: Konstant gesetzte Gewobnbeiten, Habitus, unbefragte kulturelle Prak tiken US£ Obemebmen dann die Erklwngsaufgabe. 20 Das gegenliufige ErkIArungsprogramm untersucbt die Frage, wie man die Entsebeidungstheorie ver llndern muss, um den Handlungsvarianzen gerecbt zu werden, die bei konstanter Situation und fest-

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