Marcel Schweiker · Joachim Hass Anna Novokhatko Roxana Halbleib Hrsg. Messen und Verstehen in der Wissenschaft Interdisziplinäre Ansätze Messen und Verstehen in der Wissenschaft Marcel Schweiker · Joachim Hass Anna Novokhatko · Roxana Halbleib (Hrsg.) Messen und Verstehen in der Wissenschaft Interdisziplinäre Ansätze Mit einem Begleitwort von Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof Herausgeber Marcel Schweiker Anna Novokhatko Karlsruhe, Deutschland Freiburg, Deutschland Joachim Hass Roxana Halbleib Heidelberg, Deutschland Konstanz, Deutschland Dieser Band wurde mit Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg gefördert. ISBN 978-3-658-18353-0 ISBN 978-3-658-18354-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-18354-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa- tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. 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Der Mensch er- kennt das Allgemeine, das Regelhafte, die Gesetzmäßigkeit. Der Übergang von der Neugierde zur Wissenschaft beginnt. Der Wissenschaftler verharrt nicht bei dem Gegenstand, den er beobachtet, den er experimentell erforschen, den er de- finieren kann, sondern er fragt nach dem Warum. Im antiken Griechenland beobachteten die Weisen, dass das Feuer brennt, spürten, dass es Wärme spendet, suchten darüber hinaus zu verstehen, weshalb das Feuer brennt. Sie entdeckten naturwissenschaftliche Kausalitäten, lernten aber auch das Staunen vor dem Unerklärlichen. Doch der Wissenschaftler bleibt nicht bei diesem Staunen stehen, sondern wird – auch wenn er alles Lebensnot- wendige erkannt und sich alle Erleichterungen für ein gehobenes Leben geschaf- fen hat – weiter nachdenken, um der Unwissenheit zu entkommen. In dieser Ent- fernung des Menschen von der Gebundenheit in der Natur, von der Gefangenheit in Nützlichkeiten wird er frei, auch wenn er weiß, dass dieser Befreiungsakt von Natur aus über die menschliche Kraft hinausgeht, wohl den Göttern vorbehalten ist. Dennoch wäre es des Menschen unwürdig, nicht nach dem ihm zukommen- den Wissen, nach dieser Freiheit zu suchen. Die praktische Nützlichkeit der Wis- senschaften – in der Medizin, in der Technik, in der Ökonomie – dient dem Menschen unmittelbar. Das von Naturgesetzmäßigkeiten und Nützlichkeiten be- freiende Denken führt die menschliche Erkenntnis an die Grenzen der Erkenn- barkeit. Im Zusammenwirken dieser Wissenschaften entsteht die Hochkultur, in der wir gegenwärtig leben. Wenn ein Genforscher die Gesetzmäßigkeiten des Menschen und des Lebens immer deutlicher erkennt, wird ihm bei seinen Wissenschaftsanliegen und Me- thoden die wohl wichtigste Gesetzmäßigkeit menschlichen Lebens entgehen: VI Paul Kirchhof „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Wenn der Geisteswissenschaftler diese Gesetzmäßigkeit als Grundlage für die Gleichheit der Menschen in Indivi- dualität, Freiheit und Friedlichkeit entfaltet und zur Verbindlichkeit zu bringen sucht, wird er niemals auf die Gesetzmäßigkeiten menschlicher Gene stoßen. Deswegen ist es für die Gegenwart einer hochspezialisierten Wissenschaft ent- scheidend, dass sie sich im Dialog miteinander austauscht, sich wechselseitig an- regt, aber auch die Nutzung ihrer Erkenntnisse mäßigt. Große Gelehrte der Wis- senschaftsgeschichte – Aristoteles, Thomas von Aquin, Nicolaus Cusanus, Martin Luther – haben immer wieder gemahnt, der Wissenschaftler möge nicht oberflächlich an dem beobachteten Gegenstand verweilen, sondern nach Ursa- chen und Wirkungen fragen. Er möge in der Erkenntnis der menschlichen Natur und der Welt das Gute im Menschen finden, vor der vermeintlichen Allmacht der Wissenschaft warnen, eine Kultur der Bescheidenheit des Wissenden pflegen. Heute gehört das unbegrenzte Streben nach Wissen zum Selbstverständnis und Selbstbewusstsein des Menschen. Wissbegierde ist Tugend. Doch je mehr der Mensch den Mut hat, „seinen eigenen Verstand zu nutzen“, er sich zur selbstbewussten Freiheit emanzipiert, verliert er in bewusster Subjek- tivität allgemeine Verantwortlichkeit und Maßstabsgebundenheit, neigt zu Zwang, ungerechter Gewalt, Krieg. Schon Eike von Repgow hat im Sachsen- spiegel (1235) vor der zerstörenden Macht eines allein auf sich selbst bezogenen Willens gewarnt. Wir beobachten heute, dass die Entdeckung des Atoms zur Atomwaffe geführt hat, dass die Entwicklung der Technik die Umwelt belastet, dass Seuchen auch als Instrumente der Kriegsführung erforscht werden, die Pharmazie den Menschen auch Macht über die menschliche Psyche verleiht, dass die Ausforschungsmöglichkeiten der IT-Technik Vertraulichkeit und Vertrauen als ein Fundament mitmenschlichen Zusammenlebens in Frage stellen, dass manch Kundiger bei der Entwicklung der Genforschung die Identität des Men- schen gefährdet sieht. Deswegen ist es notwendig, dass die verschiedenen wissenschaftlichen Dis- ziplinen zusammenarbeiten. Die Wissenschaft darf nicht nur fragen, was der Mensch kann, sondern muss ebenso fragen, was der Mensch darf. Sieht sich der Mensch als Herrscher über die Natur und als willensstarkes Individuum mit Selbstgestaltungsabsicht, wird seine Gemeinschaftsverantwortlichkeit schwä- cher, die Weite seines Sehens und Verstehens enger, seine Neugierde vorder- gründiger. Carl Friedrich von Weizsäcker hat seinen Blick auf die Auseinander- Begleitwort VII setzung zwischen Galilei und seiner Kirche gerichtet und sich die Sichtweise von Kardinal Bellarmin, dem Gegenspieler Galileis, zu eigen gemacht. Hätte Bellar- min die Folgen des herannahenden Zeitalters ungezügelter Forschung vorausse- hen können, hätte es ihn geschaudert. Die Wissenschaft habe den geraden Weg von der klassischen Mechanik zur Mechanik der Atome, von der Atommechanik zur Atombombe vor sich gehabt. Ob diese Bombe die westliche Zivilisation zer- stören werde, wüssten wir – so von Weizsäcker 1999 – noch nicht. Diese Gefahren durch Wissenschaft sind vor allem durch mehr wissenschaft- lichen Austausch unter den Fachdisziplinen und den Dialog der Wissenschaft des Könnens und der des Dürfens zu beantworten. Wir brauchen eine allseits offene Wissenschaft, die nach den grundsätzlichen Zusammenhängen fragt, das Allge- meine und Ursprüngliche um ihrer selbst willen erforscht, ihre Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen immer wieder in Frage stellt, auf ihre Verallgemeine- rungsfähigkeit und Gemeinverträglichkeit, ihre Freiheitsdienlichkeit überprüft, die Maßstäbe des Könnens und des Dürfens in Einklang hält. Wir müssen uns wieder auf die universitas zurückbesinnen, die naturwissenschaftliches Erfahren und geisteswissenschaftliches Ergründen im Gespräch hält, in der Idee der Inter- disziplinarität und Weltoffenheit ihre Grundsatzbedeutung gewinnt, ständig das Erkennen mehrt und dessen Anwendung mäßigt. Dieses ist ein Konzept des Freiheitsvertrauens und des aufgeklärten Wissenschaftlers, der immer wieder an die Grenzen seines Denkens stößt und dem Unbegreiflichen begegnet. Allein diese Offenheit sichert die Menschlichkeit der Wissenschaft. Der Mensch will die Wirklichkeit in Tabellen und Bilanzen prägnant zählen, sie aber auch erfahrungsreich und interpretationsfreudig erzählen. Er will Dinge messen, sich aber für die daraus folgende Entscheidung ein willentliches Ermessen vor- behalten. Die Erfahrung seiner Unzulänglichkeit behütet ihn beim Vermessen der Welt vor Vermessenheit. Er sucht ein Maß, das ihn vor Maßstabslosigkeit und damit vor Maßlosigkeit bewahrt. Er will die Welt begreifen, sie sich zu eigen machen, kann dabei aber nicht alles im Experiment erfahren und im Vergleich zählen, sondern ist auf das Schätzen und Einschätzen, auf das Wägen und Ge- wichten von Erkenntnissen und Erfahrungen angewiesen. Die Zahl präzisiert, be- legt, gibt in der Bestimmtheit der Zahlenlogik Sicherheit. Sie vereinfacht das äu- ßere Leben in Postleitzahlen, Kontonummern und Telefonnummern, verheißt in Zielprognosen – des Wirtschaftswachstums oder des Wetters – mehr Gewissheit, als den Menschen möglich ist, spornt in Zielmarkierungen – von den Prüfungs- VIII Paul Kirchhof noten bis zu den Renditeerwartungen – den Leistungswillen an oder überfordert. Die Zahl präsentiert – wie bei der Unternehmens- und Steuerbilanz – prägnante Übersichten, simuliert oder verschleiert dabei aber auch Erfolge; sie informiert und schwindelt. Sie bindet den Blick und das Denken im Detail und lenkt von Zusammenhängen, dem Allgemeinen, ab. Die Zahl ist stets ein Zeichen für die Wirklichkeit, für eine Entwicklung, eine Idee, ist nicht das Gezählte selbst. Des- halb ist die gezählte Wirklichkeit stets eine Vorstufe des Begreifens, Ergründens und Verstehens. Alle Wissenschaften wollen die Welt und den Menschen verstehen. Um die- ses Ziel zu erreichen, wählen einige Wissenschaften die Quantifizierung und empirische Beweisführung, suchen im Modell, im Muster, im Typus die Norma- lität zu erfassen und deren Bedingtheiten experimentell-empirisch zu ermitteln. Andere Wissenschaften suchen die Welt und den Menschen in der gedanklichen Verallgemeinerung von Beobachtungen und Erfahrungen zu verstehen, suchen ihren Sinn zu entdecken und Sinn zu stiften. Wieder andere bemühen sich, in der Abstraktion zu einer Idee vorzudringen, die den Menschen von Kausalitäten und dem Lebensnützlichen befreit, in dieser Freiheit Natur und Kultur vereint. Die Faszination all diesen Denkens macht frei, zu erkennen und vor dem Unerkenn- baren zu staunen. Aus diesem Willen des Menschen zu erkennen, zu ergründen und zu verstehen, erwächst der Wille und die Fähigkeit, wissenschaftlich zu leh- ren, die Welt künstlerisch in Formensprache auszudrücken, religiös die Frage nach dem Unauffindbaren zu stellen. Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften hat Nachwuchswissenschaft- ler, die sich bereits durch herausragende wissenschaftliche Leistungen ausge- zeichnet haben, zu einem Forum gemeinsamen Fragens, Erfahrens und Verste- hens zusammengeführt. Unter dem Thema „Messen und Verstehen der Welt durch die Wissenschaft“ bietet sie den Forschern an, im Gespräch über ihre Fra- gen, Methoden und Ziele nachzudenken, sich im Austausch wechselseitig anzu- regen, zu beunruhigen und zu inspirieren. Dabei werden die Grenzen einer zah- lenbasierten Wissenschaft und die einer theoriebestimmten Wissenschaft sichtbar. Wir haben den vertieften Dialog unter Wissenschaftlern gepflegt, das Denken in Mustern und Modellen, in Experiment und Theoriebildung, in Kon- kretisierung und Abstraktion, im Beobachten und Vergleichen bewusst gemacht, in regelmäßigen gemeinsamen Sitzungen die Erkenntnisfortschritte in den jewei- Begleitwort IX ligen Projekten ausgetauscht. Wir sind dabei Einsichten und Menschen begegnet, die für die zukünftige Wissenschaft erheblich sein werden. Die jungen Wissenschaftler legen in diesem Band Ergebnisse ihres Forschens vor, in denen Interdisziplinarität, Weltoffenheit, Nachhaltigkeit und Hoffnung auf gemeinsamer Grundlage erkennbar werden. Heidelberg, im November 2016 Paul Kirchhof Inhaltsverzeichnis Paul Kirchhof Begleitwort .......................................................................................................... V Inhaltsverzeichnis ............................................................................................... XI I. Einführung Joachim Hass & Anna Novokhatko Einleitung .............................................................................................................. 3 Joachim Hass & Roxana Halbleib Kurzvorstellung der Beiträge .............................................................................. 11 II. Hauptteil Claudia Lauer & Jana Pacyna Zählen und Erzählen – Mittelalterliche Literatur- und Geschichts- wissenschaft im methodischen Dialog ................................................................ 23 Andreas Büttner & Christoph Mauntel Zählt auch Klio? – Messen und Verstehen in der Geschichtswissenschaft ........ 43 Stylianos Chronopoulos, Felix K. Maier & Anna Novokhatko Quantitative Daten und hermeneutische Verfahren in den „digital classics“...... 57 Chris Thomale Metaphern und Modelle – Zur Übersetzung von Wissen in Verstehen .............. 69 Hanjo Hamann & Friedemann Vogel Die kritische Masse – Aspekte einer quantitativ orientierten Hermeneutik am Beispiel der computergestützten Rechtslinguistik ........................................ 81 Matthias Valta Quantifizierung und Operationalisierung der Verhältnismäßigkeit von internationalen Wirtschaftssanktionen ................................................................ 97 Markus J. Prutsch Wissenschaft, Zahl und Macht – Zeitgenössische Politik zwischen Rationalisierungsimperativ und Zahlenhörigkeit .............................................. 117