HERMES ZEITSCHRIFT FCR KLASSISCHE PHILOLOGIE EINZELSCHRIFTEN HERAUSGEGEBEN VON HELMUT BERVE • FRIEDRICH KLINGNER ALFRED I<ÖRTE . \VOLFGANG SCHADE\VALDT HEFT 8 LIVIUS UND DER Z\VEITE PUNISCHE KRIEG \'ON \VI LHELM HOFFMANN W E I D ~IA i\ :--;S C H E \~ E R LAG S B U C H H AN D LU N G BERLIN 1942 LIVIUS lr~D DER ZWEITE PUNISCHE l{RIEG \V ILHEL 1\1 H OFF~I AN~ WEIDMANNSCHEVERLAGSBUCHHANDLUNG BERLIN 1942 Die Htrmes-T:in:elschriften ( .. Hermes-ES.") erscheinen je nach Bedarf in Ergiin:m1g des Hermes. Sie diene,i wie dieser der Forschung im Bereich des klassischen Alterttom Einsendungen si11d zu richfrn an einen der Herausgeber der Einulschriften: Professor H. Ber.·e, Le1p::i1: 0 27, L11dolf-Colditzslra{Je r4; Professor Fr. Klingner, Leipzig X 21. Griifeslrat]e 36: Professor A Körte, Leipzig O 27, Gletschersteinstraße 53: Projessat W. Sc/1adn;-a/dt, ]\farkk/eeberg-Mitte bei Leip:ig, Kaslanientng r. Drud, ro11 A. Httnt GmbH •. &räfenha1nicl101 VORWORT Bei der Beschäftigung mit der frühen römischen Geschichte zeigte sich mir, daß eine nur von Fall zu Fall getroffene Entscheidung über den Wahrheitsgehalt der uns vorliegenden literarischen Quellen für die Forschung auf die Dauer eine tragbare Grundlage nicht zu geben vermag. Ich zog deshalb einen größeren Abschnitt der Überlieferung in den Kreis meiner Betrachtung und suchte mir dabei ganz allgemein über die Grundsätze und Gesichtspunkte klar zu werden, nach denen sich die Tradition entwickelt hat. Aus solchen Überlegungen erwuchs die hier gegebene Untersuchung. Sie entstand vor J ~·iegend in den ahrcn 19 36 / 38 und lag im Sommer 193 9 der Philosophi schenF akultät der Universität Leipzig als Habilitationsschrift vor. Die ersten Vorarbeiten zur Drucklegung unterbrach der Krieg. Als ich im Herbst 1940 nach meiner Rückkehr aus dem Feld die Arbeit von neuem vornahm, hatte sichd er eigene Blick in mancher Hinsicht gewandelt. So ergab sich die Not wendigkeit einer Überarbeitung des einst unter ganz anderen Verhältnissen Geschriebenen. Ich habe mich bei dieser Gelegenheit bemüht, auch die seit Endet 938 erschienenen Bücher, in erster Linie die von F. Heilmann und A. Klotz, mit zu verwerten. Viel verdankt die Arbeit Herrn Professor Klingner; ganz besonders aber fühle ich mich auch diesmal meinem verehrten Lehrer Herrn ProfessorB crve verpflichtet, der ständig den Fortgang dieser Studien mit warmem Interesse begleitet hat. Leipzig im Oktober 1941. WILHELM HOFFMANN INHALT Die Aufgabe ........ . I Die Einheit der dritten Dekade. Livius und Coelius 6 Der Ursprung des Krieges. 12 Quintus Fabius Mu:imus . z 7 Die Zeit nach Ca.nnae. Buch 2.3 und 2.4 46 Die Jahre der militärischen Entscheidung und das Auftreten Scipios ~ 8 Die Darstellung Scipios . . . . . . . . . 71 1. Die Überlicferang • . . . • . 71 2. Die Einnahme Neukarthagos So 3. Die Meuterei in Spanien . 8J 4. Fabiua und Scipio • . . . . 88 ,:. Die Begegnung von Zama . . . . . , 9 ~ Llvius und der zweite Punische Krieg 103 1. Livius und seine Vorgänger . . . . IOJ .z. Erste und dritte Dekade . . . . . . 109 ~- Der zweite Punische Krieg im Werk des Livius 117 ABKÜRZUNGEN UND HÄUf1GER ZITIERTE WERKE = Burck E. Burck, Die Erzählungskunst des T. Livius (Berlin 19J4). Geher= M. Gelzcr, Römische Politik bei Fabius Pictor (Hermes 68, 129ff.). Heilmann= F. Hellmann, Liviusinterpretationen (Berlin 1939). = Klotz, Livius A. Klotz, Livius und seine Vorgänger (Neue Wege :zur Antike, Reihe II, Heft 9/u, Leipzig 1940/1941). = Kahrstedt Meltzcr-Kabrstcdt, Geschichte der Karthager, Bel. 111 (1913). Ed. Meyer, Kleine Schriften Bd. II (Halle 1924). Peter= H. Peter, Histor. Romanorum Rcliquiac 11 (Leipzig 1914), II (1906). Vahlen1 = Vahlen, Ennianac poesis reliquiac 2 (1903). Zitate und Stellenangaben des Livius nach der Ausgabe von Weißenhorn-Müller, des Polybios nach der von Büttner-Wobst. DIE AUFGABE In der vorliegenden Arbeit wird, ausgehend von einer Analyse der dritten Dekade, nach der Auffassung gefragt, die Livius und die römischen Annalisten von der Geschichte ihres eigenen Volkes hatten. Lange Jahre haben die Unter suchungen von Soltau das Urteil über die historische Leistung des Livius be stimmt; ihr Ergebnis, das einen vorläufigen Abschluß der im 19. Jahrhundert an Livius geleisteten queUenkritischen Arbeit darstellte, war in jeder Hinsicht ncgativ1). Man kam zu der Feststellung, daß Llvius und die ihm vorangegangenen römischen Annalisten im Grunde gar nicht als Historiker zu werten seien. Der große römische Historiker, mit dessen Augen die abendlindische Menschheit 18co Jahre lang die römische Geschichte der republikanischen Zeit geschaut hatte, schien entlarvt als ein Nichtskönner, der lediglich durch die Form seiner Darstellung zu blenden vermochte. Jedes Fragment eines frühen Annalisten, geschweige denn die Berichte der Griechen über Roms Vergangenheit, galten mehr als die große zusammenhängende Darstellung des Livius, der in der Zeit des Übergangs von der Republik zur Monarchie sein Werk verfaßte. Gewiß ist nicht bestreiten, daß die römischen Historiker ga112a nders dem 2U Problem der Objektivität und der historischen Wahrheit gegenübergestanden haben, als wir heute'), doch über2eugt von der Allg~meinverbindlichkeit der eigenen historischen Grundsätze hat man lediglich dabei das Negative gesehen, stellte aber fast bis in die jüngste Zeit hinein nie ernsthaft die Frage, ob nicht in dem Werk des Livius und der Annalisten eine in ihrem Bereich wertvolle Form der Geschichtsschreibung zu fassen sei. Macchiavelli hat seinem Werk über den Staat mm wesentlichen Teil die erste Dekade des Livius zugrunde gelegt und gerade aus diesen Büchern, denen man heute zumeist einen historischen Wert abspricht, allgemein gültige Erkenntnisse über das staatliche Leben gewonnen. Et staod den livianischen Berichten noch unbefangen gegenüber und vermochte so in diesen einzelnen Erzählungen, die wir als ungeschichtlich verwerfen, die wesentlichen Kräfte und Leistungen des römischen Staates aufzuzeigen. Liegt nicht schon darin ein Beweis dafür, daß die römischen Historiker trotz ihrer andenartigen Einstellung zu den Grundsätzen moderner historischer Fonchung auch geschichtlich etwas W csentliches auszusagen hatten ? Freilich die einstige Kritik an Livius mit ihrem mühsamen und teilweise unfruchtbaren Suchen nach den Quellen, mit ihren Klagen über seine Arbeits- 1) W. Soltau, Livius' Quellen in der III. Dekade (1894); Livius• Geschichtswerk (1897). 1) Vgl. J. Vogt, Tacitus und die Unparteilichkeit des Historikers (1936). W. Wiebci::ncyer, Proben historischer Kritik aus Livius XXI-XLV _(pi.ss• .M ünstc:1(:i938)_1fi'. BolmalllL, Lh1 u 1 2 DIE AUFGABE weise, hatte es nicht unternommen, zu einer Erkenntnis der positiven Leistung des Historikers vorzudringen. Doch nicht nur Kahrstedts Untersuchungen, die völlig in den Bahnen der alten Anschauungen blieben, sondern auch die kürz lich erschienenen Arbeiten von Klotz wollen in erster Linie aus dem Verhältnis des Livius zu seinen Vorgängern die historische Sicherheit der einzelnen Berichte erweisen. Neue Wege zu einer vertieften Auffassung von der Natur der römischen Geschichtsschreibung deuten sich in den Aufsätzen Gelzers zur An nalistik sowie in der aus seiner Schule hervorgegangenen Arbeit von K. E. Petzold über die Eröffnung des zweiten römisch-makedonischen Krieges an. Ihnen geht es nicht mehr darum, einzelne Fehler. amumerken, sondern sie suchen Arbeitsweise und Tendem der Annalistik festzustellen, und betonen mit Recht, daß nicht eine isolierte Betrachtung, sondern nur eine sich über große Zusammenhinge erstreckende Schau bei solchen Untersuchungen zu wirklichen Ergebnissen führen könne 1). Doch aufs Ganze gesehen, erwies sich für die Wiederbesinnung auf die eigene Leistung des Livius die Arbeit innerhalb der philologischen Forschung als fruchtbarer. veröffentlichte Witte seine 1910 Untersuchungen über die Form der Darstellung bei Livius, in denen er aus einem Vergleich zwischen parallelen polybianischen und livianischen Stellen wesentliche Erkenntnisse für die Arbeitsweise des Livius gewann2 Wenn ). auch Witte zunächst keine andere Absicht hatte, als die formale Leistung stärker herauszustellen, so steht er doch damit am Beginn eines Weges, der wieder zu einer tieferen Würdigung des Historikers führen sollte. Heinze in seiner um 1918/zo verfaßten Skizze über Livius sowie Klingncr in seinem Auf satz in der Antike suchten zum erstenmal seit langer Zeit Llvius wieder als Gesamterscheinung zu fassen 3 Gewiß ist in dem begrenzten Rahmen dabei ). noch alles skb!zenhaft geblieben, aber das Ziel für die kommende Forschung war damit gewiesen. Von hier aus sind zahlreiche Arbeiten, die in den dreißiger Jahren über Llvius entstanden sind, in ihrer Grundhaltung bestimmt, unter ihnen vor -allem die zusammenfassende Darstellung von Henri Bornecque sowie die Untersuchungen von E. Burck und F. Hel1mann'). Sie haben unser Bild von der schriftstellerischen Leistung des Livius wesentlich bereichert und vertieft; eine Fülle von Beobachtungen zeigen die hohe Kunst, mit der er den umfang reichen Stoff gestaltete, und erneut werden uns sein Stil und die Schönheit 1) Mdtzer-Kahrstcdt, Geschichte der Karthager Ill (1913) 141 ff. Kabrstcdt, Die Annalistik von Llvius Buch XXXI-XLV (1913); A. Klotz, Llvius und seine Vorginger (1940/41); M. Gclzcr, Römische Politik bei Fabius Pictor (Hermes 68, u9ff.). Der Anfang römischer Gc schichtschrcibung (ebd. 69, 46ff.); K. E. Pctzold, Die Eröffnung des zweiten römisch-makcdo nischen Krieges (Diss. Frankfurt 1940). 1) Wittc, Über die Form der Darstellung in Livius' Geschichtswerk (Rb. Mus. 61, 1910, 2.7off., ,s9ff.). 1) R. Hcinzc, Augusteische Kultur (1930) 91ff,; Klingncr, Livius (Antike I, 192.J, 86ff.); vgl. Die römische Geschichtschreibung bis Llvius (cbd. XIII, 19n, I ff.). ') H. Bornccque, Titc-Live (193J); E. Burck, Die Erzählungskunst des T. Livius (1934); da.zu Klingner, Gnomon 193s. 577ff.; F. Hellmann, Liviusinterprctationcn (1939). An weiteren Untersuchungen sind zu nennen: A. Reichcnbergcr, Studien zum Erzählungsstil des Llvius (Diss. Heidelberg 19,1); H. G. Plathncr, Die Schlachtschilderungen bei Livius (Diss. Breslau 1934); H. Bruckmann, Die römischen Niederlagen im Geschichtswerk des Livius {Diss. :Münster 1936); W. Aly, Titus Livius (1938). DIE AUFGABE 3 seiner Darstellung erschlossen. Aber man wollte nicht bei einer bloßen Analyse des Formalen bleiben, sondern suchte dahinter die geistige Haltung des Mannes und seiner Zeit, aus der heraus dieses Werk entstand 1). Hier aber zeigten sich nun die Grenzen der bisherigen Untersuchungen. Einst hatte Heinze in seinem Vergilbuch den Weg zu einem wirklichen Verständnis des Dichters durch die Aufhellung der epischen Technik gefunden; bei Livius er reichte Burck mit seiner Erforschung der „Erzählungskunst des Livius0 dieses llmfassende Ziel nicht. Seine Würdigung war mehr von der ästhetischen Seite her bestimmt. Er wußte um seine Kunst der Gestaltung; er hat sein Verhält nis zu dem rhetorisierenden Historiker Dionys von Halikarnaß aufg ezeigt so wie seine Stellung innerhalb der Lehren der peripatetischen Geschichtsschrei bung. Doch als er von dieser Grundlage zu der Persönlichkeit selbst vorstoßen wollte, fand er den Augusteischen Menschen, der eine ähnliche Grundhaltung aufwies wie ein Vergil oder Horaz. Die individuellen Züge lösten sich auf in einem typisierenden Bild. Und hiermit. begnügte man sich. Man stellte wohl die Frage, welche Kräfte sich dem Livius in dem geschichtlichen Geschehen offenbarten, aber man kam bei der Antwort darauf nicht über allgemeine An deutungen hinaus. Sein Verhältnis zu den Quellen, das, wie die Kritik des 19. Jahrhunderts bis hin zu Klotz immer wieder gezeigt hatte, wahrlich be deutsam genug war, wurde kaum gesttcift. So treten zwar die allgemeinen Züge, die Livius mit seinen Zeitgenossen verbinden, stärker als einst hervor, aber dem lediglich auf den augusteischen Künstler gerichteten Blick droht der Historiker mehr denn je zu entschwinden. Der Grund dafür, daß der Weg, der bei Vergil zum Ziel führte, Livius gegen über versagte, liegt in erster Linie in dem Gegensatz von Historiker und Dichter. Vergil war Künstler und gestaltete seinen Stoff vorwiegend aus künstlerischen Rücksichten; die Frage nach seiner epischen Technik umschrieb in der Tat einen wesentlichen Umkreis seines Schaffens. Bei dem Historiker dagegen liegt der Fall anders. Gewiß trägt der große gestaltende Historiker auch solchen Fragen Rechnung, vor allem der antike Geschichtsschreiber, der ungleich stärker als wir heute den Gesetzen der darstellerischen Form unterworfen war, aber man wird auch darin bei ihm nicht das Entscheidende seiner Leistung treffen. Er ist seinem Gegenstand in ganz anderer Weise verpflichtet als der Dichter; ihn kann er nicht nach Belieben umgestalten und verändern, sondern der Wert seiner Darstellung beruht letztlich auf dem Zutrauen, das man zu seiner Wahr haftigkeit hat. Auch Livius fühlte sich der Überlieferung gegenüber gebun den, wie nicht zum wenigsten seine zahlreichen Bemerkungen anläßlich von Unstimmigkeiten bei den ihm vorliegenden Quellen zeigen2 Wenn er den ). Stoff seiner Darstellung umgestaltete, so hatte das andere Ursachen als nur die Rücksicht auf ein darstellerisches Prinzip, vielmehr müssen sachliche Veränderungen, Gestaltung des Stoffes sowie die Verteilung von Licht und Schatten im tiefsten Grund von einer bestimmten geschichtlichen Sicht her bedingt sein. 1) E. Burck, Livius als Augusteischer Historiker (Welt aJs Geschichte I, 193S, 446 ff.). :1) W. Wiehcmeyer a. 0.; Hellmann SH., vgl. unten S. 103 ff. 1•