Kindheit 2001 Das LBS-Kinderbarometer Buchreihe der LBS-Initiative Junge Farnilie LBS-Initiative Junge Familie (Hrsg.) Kindheit 2001 Das LBS Kinderbarometer Was Kinder wtinschen, hoffe n und beftirchten Leske + Budrich, Opladen 2002 Gedruckt auf alterungsbestandigem und saurefreiem Papier Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Tire1darensatz flir diese Publikarion ist bei Der Deurschen Bibliothek erhaldich. ISBN 978-3-322-92259-5 ISBN 978-3-322-92258-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-92258-8 © 2002 Leske + Budrich, Opladen Softcovcr reprint of the hardcover I st edition 2002 Das Werk einschlie!llich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschlitzt. Jede Verwer tung aullerhalb der engen Grenzen des Urheberrechrsgesetzes ist ohne Zustimmung des Veri ages unzulassig und srrafbar. Das gilt insbesondere fur Vervie1taItigungen, 0- bersetzungen, Mikrovertllmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in e1ekr ronischen Systemen. Sarz: Leske + Budrich, Opladen Inhalt Einleitung: Kindheit und Kinder in Gesellschaft und in den Rechtsordnungen des 20. Jahrhunderts im Uberblick Wassilios E. Fthenakis .................................................................................. 7 Das LBS-Kinderbarometer Christian A. KlO"ckner, Ar!fa Beisenkamp, Richard Schroder ......................... 21 Wohlbefmden im spiiten I<indes- und fruhen Jugendalter Wie erleben Kinder/Jugendliche Familie, Freunde und Schule? Toni Mqyr, Michaela Ulrich ........................................................................... 45 Kinder und Politik Reinald EichholiJ Richard Sthriider ................................................................ 71 Kinder und ihre Zukunft Sabine WatPer, Richard Schriidcr .................................................................... 99 Kinder und Gewalt Wilfried Gn'ebel, Ar!fa Beisenhaupt ................................................................ 127 K.inder und ihre Gesundheit Marita Benoiken ........... .... ........... .................. .......................... .................. ..... 151 Kinder und ihre Freizeit Stefan Fries ..................................................................................................... 169 6 Inhalt I<inder und Medien: Aufgaben fur eine zeitgemaBe Erziehung Hans Eirich ........................................................................................... ......... 193 I<inder in ihrer Familie K.urt Kreppner, Christian Klockner ................................................................. 211 Lebensraum Schule - Analysen zum Wohlbefinden von Schulern und ihren Einstellungen zu Schule und Lernen Elke Wild .. ........................... ..................... ...................... ..... ..... .................... 237 I<inder und ihre Freunde Lothar Krappmann ......................................................................................... 257 I<inder und ihre Wohnumgebung Christian KliJckner, Ludwig Stecher und Jur:gen Zinnecker .............................. 275 I<inder als Madchen und Jungen Bettina Hannover ............................................................................................ 299 Sachregister ................................................................................................... 327 Einleitung Kindheit und Kinder in Gesellschaft und in den Rechtsordnungen des 20. Jahrhundert im Oberblick Wassilios E. Fthenakis Kinder wurden bekanntlich bis Ende des :Mittelalters nicht als eigenstandi ge Gruppe wahrgenonunen. Vielmehr wurden sie als Eigentum des Vaters angesehen, im Rahmen des Eigentumsrechts behandelt und in der jeweils geltenden Rechtsordnung nicht als eigenstandiges Rechtssubjekt betrach tet. In der Zeit der Aufklarung, im 18. Jahrhundert, entdeckte man Kinder als soziale Gruppe mit eigenen Interessen. Seit dieser Zeit werden sie ange sehen als die "Gestalter der Zukunft" der aufgeklarten Gesellschaft und als "Reich tum und Wohlstand" von Morgen. Diese Betonung von "Zukunft" und "Fortschritt" reduzierte Kinder jedoch zu einer "Noch-Nicht Kategorie", zu einem "Noch-Nicht-Wesen" (Verhellen, 1993). Erst gegen Endes des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann man, aus der veranderten Betrachtung von I<indern und I<indheit Kon sequenzen im rechtlichen und sozialpolitischen Rahmen zu ziehen. 1m bildungs- und sozialpolitischen Bereich wurden in vielen Landern Euro pas "I<inderschutzgesetze" verabschiedet und die Schulpflicht einge fuhrt. Diese und vergleichbare MaBnahmen fuhrten zu einer weitreichen den makrosozialen N eudeflnition von Kindheit, die wiederum mit zahlrei chen Konsequenzen fur I<inder verbunden war: Die Gesetze und in der Folge etablierte Institutionen schlossen I<inder gleichzeitig von der Welt aus und hielten sie in ihrer eigenen Welt gefangen, urn sie auf das "richti ge" Leben vorzubereiten. Somit wurden I<inder zwar in inuner geringerem MaG Privateigentum ihres Vaters bzw. ihrer Eltern dafur aber zunehmend Eigentum des Staates. Ein makrosozialer Prozess, der die ideale Gesell schaft der Zukunft als Teil hatte, machte sie zu Objekten. Mit diesen Pramissen traten wir in das 20. Jahrhundert ein, das nach Ellen Kay das J ahrhundert des I<indes werden sollte. N achdem das J ahrhundert nunmehr zUrUckliegt ist es hoch an der Zeit, das Ver- 8 Wassilios E. Fthenakis standnis von I<:indheit zu analysieren sowie zu reflektieren, welche Antworten wir auf veranderte Bedurfnisse, Interessen und auf eine rechtlich neudefinierte Stellung des I<:indes in Familie und Gesellschaft im zu Ende gegangenen Jahrhundert bereitgestellt haben bzw. mogli cherweise bereitstellen wollten. Bezogen auf die Thematik dieses Bu ches ist also einleitend der Frage nachzugehen, welches Verstandnis von I<:indheit wir heute in der Gesellschaft und vor allem in der Bil dungs- und Sozialpolitik fur I<:inder in Europa vorfinden, inwieweit politische und generell padagogische Konzeptionen auf das aktuelle Verstandnis von I<:indheit angemessen reagieren bzw. welche Refor men noch erforderlich sind. Der 10. I<:inder- und Jugendbericht der Bundesregierung beschreibt ausfuhrlich die derzeitige Situation unserer I<:inder, die Bedingungen, unter denen sie aufwachsen und die Chancen und Risiken, die gegen wartig das Leben von I<:indern in Deutschland begleiten. Zusammenge fasst wird auf die strukturelle Vielfalt der familiaren Formen, in denen I<:inder aufwachsen, auf den gewandelten Wert, den I<:inder heute fur ih re Eltern reprasentieren und auf die sich daraus ergebenden Verande rungen in der Qualitat der Eltern-I<:ind-Beziehung hingewiesen. Was letzteres betrifft, berichten Studien bereits seit den achtziger Jahren uber Veranderungen in den elterlichen Erziehungskonzepten, die auf eine Abnahme von Erziehungszielen hinweisen, die Konventionalitat und Konformitat implizieren, zugunsten einer Ausrichtung auf konkurrie renden Individualismus und kritische Autonomie. Neben diesem epochalen Wandel von Erziehungszielen lassen sich Veranderungen in der Eltern-I<:ind-Beziehung beobachten. In den EU Staaten haben z.B. I<:inder fur ihre Eltern die Funktion "Hilfe im Alter" und "finanzielle Unterstiitzung" bzw. eine sozial-normative Funktion - wie sie heute noch in okonomisch unterentwickelten Landern haben - weitestgehend verloren. Sie sind stattdessen fur ihre Eltern eine Quelle fur Freude und Sinnerfullung im Leben. In diesem Bericht wird aber auch darauf hingewiesen, dass zuneh mend mehr I<:inder ihre l(indheitsbiographie diskontinuierlich gestalten mussen und mehrere Briiche und Diskontinuitaten in ihr Leben zu inte grieren bzw. zu bewaltigen haben. Aber auch weitere Belastungen, die Familien heute auf sich nehmen mussen, werden nunmehr offentlich diskutiert. Dazu zahlen u.a. Probleme der strukturellen Gewalt gegen Frauen und I<:inder, Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Famili enmitglieder sowie Probleme von I<:indesmisshandlung, -vernachlassi gung und von sexuellem Missbrauch von I<:indern. Einleitung 9 Veranderungen werden rllcht nur im System Familie, sondem auch im Kontext konstatiert. Die noch fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht in der Regel auf Kosten von Kindem und Frauen. Vor den Folgen der Armut und deren Auswirkungen besonders auf Kinder wur de wiederholt gewamt (Huston, 1997). Armut stellt heute fur einen rllcht zu unterschatzenden Anteil von Kindem den zentralen Risikofaktor fur ihre Entwicklung dar und ist assoziiert mit einer Reihe von anderen Pro blemstellungen, wie hahere I<indersterblichkeit, gefahrliche Krankheiten, Verletzungen und Tod (I<lerman, 1991). Umfangreiche Studien haben die Folgen von Armut fur I<inder deutlich gemacht: Arme Kinder unter liegen vermehrt dem Risiko von Entwicklungsverzagerungen, weisen be reits im vorschulischen Alter erhebliche Defizite in ihrer intellektuellen Entwicklung auf. Ihr schulischer Fortschritt verlauft langsamer und der Schulbesucht wird haufig durch vorzeitigen Abbruch beendet (zusam menfassend Mayr, 2000). Zunehmend mehr I<inder werden von geographischer Mobilitat und von Migration betroffen, was wiederum dazu fuhrt, dass I<inder in einem haheren AusmaB als bisher Risiken und Diskontinuitaten in ihr Leben in tegrieren sowie eine Anzahl normativ wie rllcht normativ bedingter Uber gange im individuellen und familialen Bereich bewaltigen mussen. Parallel zu dieser mikro- und makrosozialen Entwicklung lasst sich auch eine Veranderung der Stellung des Kindes in nationalen und inter nationalen Rechtsordnungen beobachten. Zu Beginn des 20. Jahrhun derts hat ein weit verbreitetes Interesse an Fragen der Rechte des I<indes zum Abschluss intemationaler valkerrechtlicher Vertrage gefuhrt, wie z.B. das Haager Ubereinkommen yom 12. Juli 1902 (zur Regelung der Vormundschaft fur Minderjahrige) oder das Internationale Uberein kommen yom 4. Mai 1910 zur Bekiimpfung des Madchenhandels. Kin derrechte im 20. Jahrhundert sind jedoch untrennbar verbunden mit Eglantyne Jebb, der Begrunderin einer Bewegung fur die Rechte der I<inder, die 1920 wegen ihrer Fotografien, mit denen sie auf das Problem verhungernder I<inder nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aufmerk sam machte, inhaftiert wurde (Cohen, 1990). Diese Bewegung fuhrte rllcht nur zur Grlindung der NGO (Non-Govemment-Organisation) mit dem Namen "Save the Children International Union" (SCIU), sondem 1923 auch zur Formulierung der ersten "Declaration of the Rights of the Child", die 1924 als "Genfer Erklarung" des Valkerbundes bekannt wurde. In der Folgezeit und vor allem unmittelbar nach dem Zweiten Welt krieg nahm die Intemationale Gemeinde eine Reihe von Konventionen auf, in denen die Rechte fur "every human being" und damit auch fur 10 Wassilios E. Fthenakis die Kinder garantiert werden sollte, wie z.B. das "Internationale Cove nant on Economic, Social and Cultural Politican Rights". Am 20. No vember 1959 verabschiedete die Versammlung der Vereinten Nationen die "Erklarung der Rechte des Kindes", die allerdings nicht uber jene des J ahres 1924 hinausging und das Kind weiterhin als Objekt, d.h. nicht als eigenstandigen Rechtstrager behandelte. Zudem war sie lediglich eine Deklaration und nicht eine Konyention, d.h. sie war fur die nationalen Rechtsordnungen nicht bindend. Die UN-Bemuhungen urn die Formulierung einer Konvention uber die Rechte des Kindes, die fur die ratifizierenden Staaten Gesetzescha rakter erhalt, gehen auf eine Initiative der polnischen Regierung zuruck. Diese unterbreitete 1978 den Vorschlag, die 1959 verabschiedete "Erkla rung der Rechte des I<indes" als "Obereinkommens uber die Rechte des I<indes" in einen yolkerrechtlichen Vertrag umzuwandeln. Die in der ,,\Varschauer Konferenz uber den gesetzlichen Schutz des I<indes" ein geleiteten Arbeiten mundeten in einen Entwurf des Obereinkommen uber die Rechte des I<indes, der am 9. Dezember 1988 konsensfahig war und einstimmig von den 11itgliedern der Arbeitsgruppe angenommen wurde. Zum 30. Jahrestag der Erklarung der Rechte des I<indes am 20. November 1989 hatte die Vollversammlung der Vereinten Nationen die sen Entwurf ohne Anderung einstimmig angenommen. 1m Gegensatz zu den bisherigen Deklarationen impliziert das UN Obereinkommen ein Bild des I<indes, nach dem es nicht als Objekt, sondern als Su!:jekt angesehen wird. Es markiert - geschichtlich gesehen - eine (zumindest) rechtliche Neuordnung des Eltern-I<ind-Verhaltnis ses dahingehend, dass Fursorge und generell elterliche Verantwortung nicht das einzige anerkannte, gesellschaftlich akzeptierte und rechtliche Regulativ der Eltern-l<ind-Beziehung sein kann. Das AusmaB, in dem im UN-Obereinkommen Rechtspositionen des I<indes anerkannt werden, yerleiht ihm in der Tat eine besondere Qualitat, die in bisherigen Rechts ordnungen keine Entsprechung findet. Entwicklungen in Europa Zum Teil parallel zu dieser Entwicklung, zum Teil als Folge dayon wird seit geraumer Zeit in der europaischen Forschung uber den gesellschaft lichen Stellenwert von I<indheit diskutiert. Der Diskurs wird durch eine Anzahl von Forschungsprojekten, Veranstaltungen und VerOffentli chungen begleitet. Das Gemeinsame an diesen Bemuhungen ist eine