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Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1971 PDF

174 Pages·1971·0.693 MB·German
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Claus Roxin: Das zweite Jahrbuch //7// CLAUS ROXIN Das zweite Jahrbuch Das zweite Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, das hiermit vorgelegt wird, zeigt die Pläne, die wir uns vorgesetzt haben, im Stadium rascher Verwirklichung. Das gilt zunächst für die biographische Forschung. Wir haben uns diesmal vor allem den Zeiträumen im Leben Mays zugewandt, die - bis in die Tagespresse hinein - seit Jahrzehnten im Mittelpunkt der Erörterung stehen: der Periode seiner Straftaten und den Reisen Karl Mays. Zu den frühen Delikten, die Mays Leben bis ins Alter überschattet und in seinem Werk tiefe Spuren hinterlassen haben, liefert Klaus Hoffmann erstmals eine aus der zeitgenössischen Presse erarbeitete Dokumentation, die der weiteren Beschäftigung mit diesem Lebensabschnitt eine reale Grundlage geben kann. In meinen »Vorläufigen Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays« habe ich versucht, die nüchternen Fakten im Zusammenhang mit dem späteren Leben Mays und seiner schriftstellerischen Arbeit so ausführlich zu interpretieren, wie es der augenblickliche Forschungsstand zuläßt. Wenn die zuständigen Einzelwissenschaften in diesen »Grundriß« ihre Forschungsergebnisse eingetragen haben, wird sichtbar werden, daß wir in Karl May einen jener seltenen und großen »Modellfälle« vor uns haben, die Psychologie, Psychiatrie, Soziologie, Pädagogik und Literaturwissenschaft gleichermaßen nahe angehen. Es können, wie May selbst über sein Werk schrieb, als er im Alter Einsicht in die Bedingungen seines Schaffens gewonnen hatte, Jahrhunderte vergehen, ehe eine Wiederholung möglich ist. Ja, vielleicht treffen sich die äußeren und inneren Umstände nie so wieder! (an Rudolf Bernstein, 23. 7. 1907). Aus der Feder Mays legen wir ergänzend Aufzeichnungen aus der Haftzeit vor. Abgesehen von den beiden Gedichten (»Kennst du die //8// Nacht« und »Weihnachtsabend«), die für Mays späteres Werk eine fast leitmotivische Bedeutung gewonnen haben, handelt es sich um ungestaltetes, fragmentarisches Material, das aber für die geistige, seelische und literarische Entwicklung des jungen May zahlreiche charakteristische Einzelheiten bietet, die der Forschung zugänglich gemacht werden müssen. Namentlich die unter der Überschrift »Ange et Diable« abgedruckten Notizen Mays, die schon dem Gericht in Mittweida (1870) vorlagen, stützen die These, daß rebellischer Trotz gegen jede Autorität die Straftaten des jungen Mannes wesentlich mitbestimmt hat. Wenn May hier die Dogmen unsrer Bibellehre umstoßen will, Kirchen, Pagoden, Synagogen verschwinden sieht und als der aufgeklärte Mensch seinen Gott in sich selbst fühlt, so zeigen diese frühen, an Feuerbach gemahnenden Denkbemühungen, wie viel nach den Maßstäben jener Zeit latentes revolutionäres Potential in May bereit lag. file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1971/007.htm[06.10.2020 07:35:53] Claus Roxin: Das zweite Jahrbuch Zum Thema der sagenumwobenen Reisen Karl Mays bringt Hainer Plaul einen auf authentische Dokumente gestützten Bericht über Mays Aufenthalt zwischen Ende 1862 und Ende 1864. Es ist ihm als 27 erstem gelungen, in diesen bis heute umrätselten »dunklen Zeitraum« (vgl. Bd. 34, »Ich«, 1968, 333) so viel Licht zu bringen, daß sich die so verlockende Frühreisen-These schwerlich länger wird aufrechterhalten lassen. Hans Wollschläger und Ekkehard Bartsch haben Karl Mays für sein späteres Werk so folgenreiche Orientreise mit größter Akribie rekonstruiert und zahlreiche Fehler der älteren Überlieferung richtigstellen können. Beide Arbeiten, die auf jahrelangen Quellenstudien beruhen, sind Musterbeispiele exakter biographischer Forschung. Zur Wirkungsgeschichte Karl Mays veröffentlichen wir im Anschluß an die umfassende Wien- Dokumentation des Jahrbuches 1970 weitere Beiträge der österreichischen Frühexpressionisten über Karl May sowie zwei erläuternde Arbeiten Franz Cornaros. Es sollte unserer Literaturgeschichtsschreibung und unseren Lehrern doch zu denken geben, daß, während ein Ferdinand Avenarius zur Ächtung Karl Mays aufrief und dessen Erfolg »zum Halbtotschämen für unser Volk« fand (Kunstwart, 1910, 183), die Avantgarde jener Zeit May liebte, daß Männer wie der große Ehrenstein, wie Berthold Viertel und eine Zeitschrift vom überragenden Range des »Brenner« sich für May einsetzten. Sollte es nicht heute - aus dem Abstand von 60 Jahren - an der Zeit sein zu //9// überlegen, ob die »Bedenker des Wortes« in diesem Falle vielleicht ein besseres Urteil besaßen als der Gründer des Dürerbundes? Die Bemühungen um die Werkinterpretation sind in diesem Jahrbuch sämtlichen Schaffensperioden Mays gewidmet. Ernst Bloch, der schon vor mehr als 40 Jahren Karl May einen »der besten deutschen Erzähler« nannte, hat uns eine noch ältere, seither nicht wieder gedruckte Arbeit über die »Urfarbe des Traums« in den Abenteuererzählungen Mays zur Verfügung gestellt. Blochs Neigung zu Karl May, die sich bis heute erhalten hat, ist mehr als eine Jugenderinnerung; sie wird durch den utopisch- revolutionären Impuls seines philosophischen Werkes legitimiert: »Träumt also Kolportage immer, so träumt sie doch immerhin Revolution, Glanz dahinter.« Wie richtig das gesehen war, zeigt Heinz Stoltes Untersuchung über »Waldröschen«, das »galaktische Ungeheuer« eines Romans. Mays Kolportageromane, die von ihm später verstoßenen Werke seines Anfangs, spiegeln wirklich mit der ganz kunstlosen, barbarischen Kraft »reißender Märchen« Anpassung und Widerstand, Ergebung, Aufruhr und erträumten Triumph der Unterschicht des beginnenden Industriezeitalters wie kaum ein anderes aus der literarischen Subkultur jener Zeit erhaltenes Zeugnis. Mays populärste Werke freilich werden wohl immer die »Reiseerzählungen« bleiben. Ihnen vor allem gilt der große Essay Wolf-Dieter Bachs über die »Fluchtlandschaften«. Bach versucht hier eine neue Methode literarisch-tiefenpsychologischer Interpretation, die dem Verständniswillen unserer Leser mit Nachdruck anempfohlen sei. Man mag über Einzelheiten streiten können; im ganzen scheint mir die Arbeit Bachs in ihrem Bereiche bahnbrechend. Denn die von ihm verwendete Betrachtungsweise gestattet es, die Schichten des individuellen Unterbewußten und vor allem die archetypisch-mythischen Inhalte der Mayschen Phantasie in geradezu frappierender Weise sichtbar zu machen. Ich bin überzeugt, daß hier ein Zugang in den faszinierendsten Bezirk der dichterischen Kraft Mays geöffnet und ein Tor aufgestoßen wird, das auf ein unabsehbares Feld weiterer Forschungen führen kann. Denn in der Fähigkeit zur Gestaltung individueller und kollektiver seelischer Symbolgehalte lag wohl überhaupt die spezifische file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1971/007.htm[06.10.2020 07:35:53] Claus Roxin: Das zweite Jahrbuch Genialität der im übrigen lange Zeit künstlerisch wenig entwickelten literarischen Begabung Mays. May selbst hat erstaunlicherweise im Alter erkannt, //10// welche Bewandtnis es mit ihm hatte. Wenn er schrieb: In meinen Büchern lebt eine ganz, ganz eigene Seelenwelt, und wem diese entgangen ist, der hat sie umsonst gelesen (Brief an Heinrich Kirsch vom 4. 4. 1901), wenn er die Groß(e)Mutter, Marah Durimeh, deren Namen Bach in so tiefsinniger anagrammatischer Verschlüsselung gedeutet hat, als Herrscherin über das Reich der Menschheitsseele einsetzte, jener Seele, von der er bekannte, daß er nach ihr mit verlangender Sehnsucht suche (Erl. zu »Babel und Bibel«, KMJB 1921, 53), dann war er seinen Interpreten um Jahrzehnte voraus. Es wurde nachgerade Zeit, ihn einzuholen. Zur Deutung des Alterswerkes bringen wir den zweiten Teil der Arbeit von Ekkehard Koch über »Winnetou IV«. Der Roman hat immer im Schatten des »Silberlöwen« und des »Mir von Dschinnistan« gestanden. Kochs Studie zeigt aber, daß er größere und selbständige Beachtung verdient. Wie in »Winnetou IV« die Biographie Mays in zweifacher Spiegelung, seine »Lebensreise« als Mensch und als Schriftsteller, mit der realen Amerikareise des Autors und dem Grundmuster der naiven »Reiseerzählung« einer früheren Schaffensepoche verknüpft wird und wie diese vierfach verflochtenen Motivstränge mit der Entwicklung des indianischen Volksschicksals und der die Zukunft der ganzen Menschheit umgreifenden kulturkritisch-pazifistischen Erlösungsmetaphysik Mays zu einer mehrdimensionalen Fabel verarbeitet werden, das ist eine Leistung hohen Kunstverstandes, die größerer Ehren wert ist. In den Zusammenhang des Alterswerkes gehört auch Hansotto Hatzigs Studie über »Bertha von Suttner und Karl May«. Sie zeigt noch einmal im biographischen Kontext, wo May stand: Sein »Edelmensch«, dieser uns heute so fremd klingende Terminus, kommt nicht vom »Übermenschen« Nietzsches her, und er ist erst recht nicht, wie von Ahnungslosen immer wieder kolportiert wird, eine Ausgeburt jenes berüchtigten »Wesens«, an dem die Welt »genesen« sollte; er hat seinen Ursprung in der Weltfriedensbewegung, zu deren Pionieren auch May gehört, und dessen sollten wir mit Achtung gedenken. Ich danke allen Mitarbeitern, vor allem aber meinen Freunden Ekkehard Bartsch und Hans Wollschläger, die den größten Teil der Arbeit an diesem Buch getragen haben. Es hätte ohne ihr aufopferndes Mühen in der vorliegenden Form nicht entstehen können. Inhaltsverzeichnis Jahrbuch 1971 Übersicht Jahrbücher Titelseite file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1971/007.htm[06.10.2020 07:35:53] Ernst Bloch: Urfarbe des Traums //11// ERNST BLOCH Urfarbe des Traums Träumte ich gestern gar übel. Kroch durch einen immer engeren Gang, konnte weder zurück noch voran. Dichte Steinwand neben mir, über mir, mußte müde ersticken. Wo noch kommt dieser Zustand vor? Er ist immerhin stark genug, der Wille drin schreit. Wie immer es mit ihm steht, in großer Literatur sah ich ihn nicht geschrieben, nach außen gebracht. Nur in niederer habe ich davon gelesen, dort, wo sich nicht viele aufhalten und töricht darüber lächeln. Aber Karl May kriecht durch einen Kanal, nur unterirdisch kann er in den Palast Abrahim Mamurs gelangen, das geraubte Mädchen befreien. Alle Schrecken sind in dem finstren, immer erstickenderen Schlund, Kriechen, Schwimmen, fauliges Wasser, nun schon über den Augen, reißt den Mann mit sich in plötzlichem Gefäll. Nur noch einen Mund voll Luft, aber da wird die Höhle heller, dort ist der Ausgang, mit rasenden Stößen schießt Kara ben Nemsi darauf zu - und schlägt mit der Stirn an ein Gitter, das den Ausgang des Kanals verschließt. Wie nun der Held das Gitter zertrümmert, in einem Bassin auftaucht, mitten im Hof des Palastes, eine Kugel um seinen Kopf pfeift, gehört nicht hierher, soweit vermag niemand zu träumen. Doch in andren als so geringen Büchern, ja, auch nur anders fand ich dies starke Traumbild nirgends gestaltet. Bei Poe würde es zu hoch, zu erwachsen, ja, die ganze Welt würde mit ihm schrecklich werden, damit es sein kann, worauf doch hier, in der kräftigen Luft, nichts ankommt. Der staunende, fünfzehnjährige Mensch in uns zieht immer diese Luft ein. Kommt Äußeres dem Traum entgegen, wie etwa auf dem roten, funkelnden Jahrmarkt, ja, selbst im unmittelbaren Blutschein des Schrecks, der Erinnerung, so ist die Kolportage mindestens sein erster und treuester Ort. Sitzt ein altes Weib in der Jahrmarktsbude, der mit //12// Teppichen ausgeschlagenen Kasse, und auf dem Tisch im Freien brennt die Petroleumlampe: nur in den Geschichten vom geraubten Grafensohn, ja, nur in »Nena Sahib« kann sich das lösen oder, wie man als Junge diesen Buchtitel las, auf der gleichen Zeitungsseite mit Dr. Retaus Selbstbewahrung angepriesen. Nena Sahib: es glühte ein üppiges, indisches Weib mit druckschwarzen Augen; Vignette für den indischen Onanieroman, wie er scheinen mußte, und Symbol für alles, das sich hinter den Teppichen und dem Tisch mit der Petroleumlampe fand: Schreie der Opfer im Tempel der Todesgöttin, Dolch, Gift, Schändung, Brandluft Indiens und als Stern darin die einzige gerettete weiße Frau, der Engel von Delhi. Nur Musik spiegelt so noch, außer Kolportage, diese zweite, höhere Traumschicht, das gärende Farbenwetter der Kreatur; die Kolportage ist nicht mehr kindlich wie das Märchen, aber auch nicht nur einfaches Wühlen von Urtrieben, sondern das erfüllte, das anders »unschuldige« Bild dieser starken, brennenden Welt. Ja, noch höher hinauf: »wo habe ich das schon gehört?« - eine furchtbare Frage, den ganzen Absturz des déjà vu enthaltend: nirgends ist auch dieses Grunderlebnis des jungen Menschen file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1971/011.htm[06.10.2020 07:35:54] Ernst Bloch: Urfarbe des Traums gestaltet als in der kulturlosen, der ewig primitiven Literatur. Gerstäckers »Regulatoren des Arkansas« sind auf dieser Qual und ihrer Lösung gebaut: wie hier der junge Squatter Pferdediebe verfolgt, von einem Urwaldgewitter wird er überrascht, rettet sich in eine Hütte und schläft und träumt, wirre Dinge, Stimmen drin, Fragen, drei Fragen: »ist hier der Fourche la fave? « muß man fragen: »könnt ihr uns einen Trunk Wasser geben? Habt ihr gute Weide hier?« Wie nun der Squatter erwacht, hat er alles vergessen, ja, lange Monate vergehen, und viele Buchseiten hat man umgeschlagen, voll vergeblicher Jagd auf die Pferdediebe, falscher Spuren, Heuchelei und Liebe: da sitzt der junge Squatter eines Herbstabends bei Mr. Atkins, einem angesehenen Farmer, am Kamin, sie sprechen über den kommenden Tag, die große Assemblée der Regulatoren im Wald. Pferdegetrappel kommt hier die Straße herauf, und Reiter halten unten, rufen ins Haus: »Ist hier der Fourche la fave?«, Atkins bejaht: »könnt ihr uns wohl einen Trunk Wasser geben?« ruft's zurück, und die Burschen kommen in die Stube. »Wo habe ich nur das schon gehört?« und der junge Squatter wendet sich ab, stochert im Kamin, damit man sein Gesicht nicht erkenne. »Da habt ihr wohl gute Weide hier?« hört er den //13// einen Burschen jetzt sagen, und wieder bejaht Mr. Atkins - da wußte der Squatter, wo er war, lange schon her, in der Nacht, und daß er nicht geträumt hatte, sondern er begriff dies Zeichen und Einverständnis, die Diebe waren im Haus und Mr. Atkins ihr Patron. Also ist hier gar eine ganze Handlung auf das Motiv des déjà vu gesetzt, eines Urgefühls, das große Literatur nur als Psychologie nebenbei kennt, eines fruchtbaren déja vu freilich, wie es weiterhilft, Moment der Lösung wird, mitten in der gesündesten Welt. Wie es sonst nur noch, verwandt, bei Karl May auftaucht, in den »Schluchten des Balkan«, als er den Bettler Busra erblickt, am Rand des Dorfs, jammervoll, ausgetrocknet vor Hunger und Krankheit. »Wohltat, Wohltat« ruft der Bettler und streckt die Arme aus; aber wie ihm Kara ben Nemsi einige Münzen herunterwirft, da blitzt es auf in den verblödeten Augen, scharf und voll ungeheuren Hasses, ein furchtbarer Blick. »Wo habe ich nur diese Augen schon gesehen?«, und Kara ben Nemsi dreht sich nochmals um, da hockt der Bettler wieder in vollkommener Verblödung, aber es läßt ihn nicht los zu denken, schon einreitend ins Dorf, Gefahr zu denken, Lärm, Schüsse, Hände, viele Hände, nach ihm greifend, Gesichter - »sollte es in Mekka gewesen sein?« Und jetzt rast die große, die befreite, die erinnerte Phantasmagorie vorüber, in Mekka, damals, als Kara ben Nemsi in die verbotene Stadt gezogen war, als Giaur entdeckt wurde, mitten auf dem hellen Platz am Brunnen Zem-Zem; damals im Blitz der Gesichte war auch der Bettler Busra, der gar kein Bettler ist, sondern der falsche Heilige Mübarek, einer der Höchsten im verbrecherischen Geheimbund des Schut. Wozu hier noch die Beispiele mehren, wozu noch auf das seltsame Ineinander von Gefühlen deuten in so vielen andren »verfänglichen« Situationen, Harmloses des Augenblicks plötzlich in ungeheure Gefahr verfangend? In allen Meisterwerken der Kolportage ist so vieles davon enthalten; und mitten aus dem Behagen des gespiegelten Traumes klingen diese Szenen, klingt die Szene bei Cooper nach, aus dem »Roten Freibeuter«, einem andren Monströsgebilde dieser Gattung, wenn die beiden Männer miteinander spielen, der Leutnant der königlichen Marine, verkleidet als erster Offizier auf dem Piratenschiff, und der höfliche, der lauernde Korsar; wenn unter so vielen endlich die schwarze Flagge erscheint und ihre Farbe bekennt und jeder dem andren in den nahen, wechselnden Galgen läuft. Hier //14// überall ist keine Psychologie, sondern Handlung, Schlag auf Schlag, das Innere nur als Spannung nach file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1971/011.htm[06.10.2020 07:35:54] Ernst Bloch: Urfarbe des Traums außen reißend, als einfachen, unverwischten Keimpunkt äußerer Spannung und Entladung. So wesenhaft »gesund« ist also dieses Jugendfeuer, bringt selbst seine Angstträume und Verschlagenheiten nicht in einen isolierten Raum, wie bei Poe oder Hoffmann und den andren, den großen Gefahrdichtern; sondern diese Welt ist eine Totalität voll gröbster Feinheiten in jedem Betracht, ein barbarisches Fresko vom genauesten Chok bis zum verlassenen Mädchen, Schiffsuntergang und Fürstenschloß. Nur die Musik, sagten wir, kennt noch diesen wetternden Bildnebel, Dominante des Ladens, Tonika der Lösung, und hoch auf atmet der gebannte Leser; nur noch in der Kolportage ist sich unser farbiger und Traumzustand derart nahe. Auch weiter liebt es diese Art Schrift, geträumt zu sein. Denn auch sie ist nach längerem Erwachen nicht leicht erinnerlich, genau wie der Traum, immer wieder läßt sich daher, nach einigem Zeitraum, das gleiche gute Kolportagebuch lesen. Das liegt nicht an seinen matten, schematischen Menschen (auf die es ja gar nicht ankommt) und ist verwunderlich bei dem spannenden Glanz, der während der Lektüre auf Schicksalen und Landschaften lag. Einzelne Elemente werden gewiß behalten, treten rund hervor, rein technisch schon, so bei Karl May das fabelhaft richtig beschriebene Haus des Schmieds, im Beginn der »Schluchten des Balkan«, so noch mehr die vortreffliche Exposition des »Rio de la Plata«, mit der Straße von Montevideo, dem Verfolger, dem alten Orgelspieler, den Yerbateros, dem Pakt, ins Innere des Urwalds zu ziehen. Aber hier ist gleichsam die Schicht der Kolportage verlassen und scharfe, entwickelte, wirkliche Erzählung da, nicht mehr endlos in Abenteuern fließend, mit beliebig einschaltbaren Hemmungen und dem ganzen Reiz des Wetters statt des Landes. Selbst die großen Situationen sogar, von der Urfarbe des Traums, das Schwimmen im Kanal, die freilich unvergeßliche Szene des Mübarek, - möchten offenbar vergehen, wenn sie nicht gerade die Traumschicht, also ein Leben außerhalb ihrer, immer wieder nährte. Dabei kann hier dem Leser, während er liest, durchaus das Bewußtsein fehlen, daß er liest, genau so wie dem Träumenden, daß er träumt; er kann, wie geschehen, zwanzig, dreißig Seiten vorblättern, in unerträglicher Spannung, um zu sehen, ob Old Shatterhand aus dieser Lage überhaupt noch lebendig hervorkommt, //15// obwohl doch Old Shatterhand in Ichform diese Lage selbst beschrieben hat, also lange nachher noch lebendig geblieben sein muß. Doch selbst daraus geht wieder nur Verwandtschaft mit dem Traum hervor, nicht etwa der geschehene Sprung in feste, erinnerbare »Wirklichkeit«, wie sie in jedem guten Roman so ungeheuer dicht erscheint, trotz allem Bewußtsein der hier vorgelagerten Literatur. Die Silberbüchse Winnetous blüht als Blume eigener Art, der Henrystutzen schießt fünfundzwanzigmal in vollkommener Wunschphantasie, der Bärentöter hat bloße Traumschwere, ja selbst autobiographisch stammt Karl Mays Schrifttum aus Dämmerzuständen der Jugend, aus dem farbigsten Widerschein von Urtrieben im Spiegel der Ferne. Nur wo uns eine Wirklichkeit selbst traumhaft nahekommt, scheint sie sich mit Bildern aus der Kolportage auch real zu decken; mir erging es so, auf dem weiten Platz vor dem Nordtor in Kairuan, wo höchst wohlbekannte Sklavenhändler, verdeckte, spähende Feinde einzureiten schienen - leibhaftig aus Karl May und doch nur wahrhaftig aus der hier alles überströmenden Traumwelt. Offen fließt deshalb auch alles Schlechte der Zeit in diese wehrlose Schicht: verluderte Sprache (die ihr nicht wesentlich ist, wie Karl May oft zeigt), Spießbürgerlichkeit des Gesprächs, der Inhalte von Gut und Böse (die die hier wesentliche, gleichsam »naturrechtliche« Entscheidung zwischen Sieg und Finsternis verdeckt). Indes grundsätzlich reinigt sich auch immer wieder Kolportage, gerade aus ihrer Nähe zur Traumkraft; es gibt, wenn kein ganz gutes, so doch gewiß kein ganz schlechtes Buch Karl Mays, ja, die reinigende Fülle dieser Art reicht noch genau so hoch in die »erwachsene« Literatur niederen Genres herein (vor allem file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1971/011.htm[06.10.2020 07:35:54] Ernst Bloch: Urfarbe des Traums auch, bezeichnenderweise, in Operntexte), als diese die Unbekümmertheit der Kolportage enthält. Echter Kitsch findet sich, wenn schon überwiegend, so doch nur nebensächlich in der Kolportage; er ist substanziell nur in der kleinbürgerlichen Wachliteratur zu Hause, also nicht bei Karl May, nicht einmal bei Ruppius, Hackländer, von Maurus Jokai zu schweigen, die allesamt am Farbenwetter der Kolportage glänzend teilnehmen, wohl aber in Rudolf Herzogs Klischees und Abhüben, ohne Zugang zum Jahrmarkt, zur Wild- und Traumkraft des Volks. In dieser Traumkraft dringt zugleich die Kolportage seit hundert Jahren steigend vor, hat die seßhaften Kalender, die Schnurren des bedürfnislosen Volks überrannt, greift neu die Urelemente von Glanz und Weitensehnsucht auf. In der //16// Freizügigkeit entstanden, ja sinngemäß aus ihr erst möglich, teilt so die Kolportage ihre Motive mit den alten Abenteuer-, Verfolgungs- und Rettungsepen, mit den Urstoffen des alten Rittersangs; und sie hält, in einem immerhin aktuellen, einem freizügigen Wunschtraum, diese Grundkämpfe zwischen Gut und Böse frisch, mit endgültigem Sieg des Guten. Auch hier also reinigt sich Kolportage gerade noch aus den Motiven der Traumkraft, als eines nicht nur schwebenden, sondern ferntreffenden, als eines kreuz und quer gemischten, halb schiefen, halb übergraden Vehikels von Vorwirklichkeit. Und der Inhalt der Freizügigkeit schlechthin erscheint: Schurken, die sie hindern, weite Prärie, gefährliche Stadt, Räuberbraut, Detektive des Schlechten, Held und edle Rächer, alle Gestalten der Dämonie und des Lichts. Trennte »Gesundheit« die Kolportage vom großen Poe, so trennt sie dies »Weltgericht« von den übergebliebenen Abenteuerromanen ziviler Literatur, vom großen Sealsfield oder Stevenson; sichert ihr zugleich ein ersetztes, vorgespiegeltes Leben, genauen Raub an der kommenden Welt. Träumt also Kolportage immer, so träumt sie doch immerhin Revolution, Glanz dahinter; und das ist, wenn nicht das Reale, so das Allerrealste von der Welt. ('Die Literarische Welt', Berlin, 3. 12. 1926) C h a r l e y Schöne Erinnerung aus der eigenen Jugend beim Gedenken an Karl May. Die Nazis haben sich auf ihn etwas zugute getan, als hätte er ihre eigene Mörderrasse verherrlicht. In Wahrheit wimmelt es bei ihm von weißen Schuften, Rowdys, oft auch von germanischer Hergekommenheit, wie es in »Satan und Ischariot II« bei freilich anderer Gelegenheit heißt. Aber Empörung, Trauer und Liebe wenden sich den verfolgten Indianern zu und ihrem Untergang durch etwas, das man in Vietnam heute Ledernacken heißt. Selbst im Orient ist dieser Volksschriftsteller mit Rat und Tat auf Seite der unterdrückten Kurden und ihrer Revolte gegen die brutalen Kolonialherren in Mossul. Auch diese Sympathien sollten Karl Mays Reiseerzählungen nicht vergessen bleiben; die Santers wie die Schuts erlangen keinen Führerschein, sondern ein gerechtes Ende. (1967) Inhaltsverzeichnis Jahrbuch 1971 Übersicht Jahrbücher Titelseite file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1971/011.htm[06.10.2020 07:35:54] Ernst Bloch: Urfarbe des Traums file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1971/011.htm[06.10.2020 07:35:54] Heinz Stolte: "Waldröschen" als Weltbild //17// HEINZ STOLTE »Waldröschen« als Weltbild Zur Ästhetik der Kolportage Was für ein galaktisches Ungeheuer ist diesem Kopf entsprungen! Mit dem zierlichen Namen »Waldröschen« benannt, der an Idylle und Winkelglück denken läßt, an Gartenlaube und Kindermärchen, aber zugleich auch im Untertitel als eine »Verfolgung rund um die Erde« und als »großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft« deklariert -, so liegt dieser gewaltige Kolportageroman Karl Mays jetzt vor uns, vom Olms-Verlag dankenswerterweise aufs neue ans Licht der Öffentlichkeit gebracht (1). Zwar kannten wir ihn schon in den Bänden der Leseausgabe des Karl-May-Verlags (2), in einer gleichsam gezähmten und zivilisierten Form, und mancher hatte Gelegenheit, im Radebeuler oder Bamberger Archiv, das Autorenexemplar der Erstausgabe von 1882 in die Hand zu nehmen. Nun aber, in den blauen Bänden der Olms-Ausgabe, ist auch dem weiteren Kreise der an Karl May Interessierten die Begegnung mit diesem Ungeheuer von Roman, einer der kolossalsten Kuriositäten der Weltliteratur, in seiner Ur- und Ungestalt wieder möglich geworden. Wir wissen wohl, daß diese Neuausgabe in Faksimileform, was ihre Legalität betrifft, nicht ganz ohne Problematik ist, hatte doch der Autor selber einst auf Entstellungen seiner Texte schon in der Erstausgabe hingewiesen und in schmerzvoll durchgekämpftem Prozeß die Verfügung erwirkt, daß seine einst im Frondienst der Kolportage geschriebenen Werke nicht wieder unter seinem Namen erscheinen dürften. Nicht zuletzt deshalb hat denn auch der Karl-May-Verlag eine Neuausgabe nicht erwägen wollen, eine verständliche Pietät, wenn man bedenkt, welchen Kummer dem Autor einst der Vorwurf bereitet hatte, ein Schundschriftsteller gewesen zu sein. Allein seit dem Tode des Schriftstellers sind nunmehr sechzig Jahre vergangen, und wie das //18// Autorenrecht in solcher Zeitspanne endet, hat sich auch die Einstellung der an literarischen Dingen interessierten Öffentlichkeit, vor allem der Literaturwissenschaft, dem Phänomen der Kolportage gegenüber von Grund auf geändert. Wir glauben gern, daß unter den besonderen Bedingungen des Kolportagebetriebes der eine oder andere fremde Einschub in die Texte geraten ist, vorzüglich wenn es galt, ihnen ein bißchen mehr Feuer unter den Mantel zu blasen, aber »Unsittlichkeit« - ? Davon kann kaum die Rede sein, und im Zeitalter der Pornographie wird gewiß jeder einschlägig interessierte Leser den etwa aufzuspürenden »Stellen« solcher Art höchstens ein müdes Lächeln abgewinnen können. Die Vorwürfe einer Schnüffelkritik, einst von Cardauns und anderen über Gebühr aufgebauscht, brauchte der Autor Karl May also heute gewiß nicht mehr zu fürchten, und wenn sich die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft nunmehr in steigendem Maße, wie der sogenannten »Trivialliteratur« überhaupt, so file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1971/017.htm[06.10.2020 07:35:54] Heinz Stolte: "Waldröschen" als Weltbild auch den einst so verachteten Kolportageromanen Karl Mays zuwendet, so hat dies ganz andere und gewichtigere Gründe. Wir sehen heute im Phänomen der Kolportage, einer ganz besonderen Erscheinungsform der Literatur, die vor allem in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sozusagen im 'Underground' des geistigen Lebens blühte und bis an die Schwelle des ersten Weltkrieges im Schwange war, ein kulturhistorisch und soziologisch außerordentlich interessantes Gebilde. Interessant und aufschlußreich deshalb, weil es uns dokumentarische Zeugnisse liefert aus der Breite und Tiefe einer geistigen und gesellschaftlichen Schicht, deren Bedürfnisse und Wünsche, deren Weltbild und Lebensverständnis von der eigentlichen, der sogenannten hohen Literatur einer geistigen Elite kaum gespiegelt wurden. Wofür ich vor Jahrzehnten in meiner Dissertation über den Volksschriftsteller Karl May um ein erstes, ernsthaftes Verständnis plädiert habe, das ist aber heute, im Zeichen einer weithin soziologisch orientierten Literaturwissenschaft einer wachsenden Zahl von Forschern und Kritikern schon zum fast selbstverständlichen Anliegen geworden. Allerdings - wenn wir hier von Asthetik der Kolportage sprechen, so sollte das nicht mißverstanden werden. Es liegt nahe, einen Roman wie »Waldröschen« mit den Augen des geschmäcklerisch differenzierten Ästheten zu lesen, Stilblüten zu pflücken und ihren unnachahmlichen //19// Duft aus Überschwang, Tränenseligkeit und Pathos zu goutieren, und gewiß: Herrlichkeiten dieser Art gibt es in unserem Roman in Fülle zu finden. Welche Quelle unerschöpflichen Vergnügens stellen nicht schon die Illustrationen dar! Oder gar die den einzelnen Kapiteln mottohaft vorangestellten Verse: O, wende Deine Strahlenaugen Von meinem bleichen Angesicht ; Ich darf ja meinen Blich nicht tauchen Zu tief in das verzehrend Licht, - Wenn unter Deiner Wimper Schatten Der Liebe mächt'ge Sonne winkt, So muß mein armes Herz ermatten Bis es in Wonne untersinkt. Solches (3) und ähnliches mag der gebildete Leser, je nach Lebensart und Humor, mit amüsiertem Lächeln oder ästhetischem Schüttelfrost quittieren und mit dem Spitznamen 'Kitsch' rasch abzutun geneigt sein. Ich beabsichtige aber hier nicht, zu vergnüglicher Erbauung eine Sammlung dieser Art auszubreiten, so sehr auch dies zur Ästhetik der Kolportage gehören mag. Und was übrigens das spezifisch Kitschige dieses Stils betrifft, so müssen wir, wenn wir die Entstehungszeit des Romans bedenken, vom hohen Maß unserer ästhetischen Urteile einige Abstriche machen. Es sind dies die achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, Jahre, in denen - zumindest in Deutschland - das Epigonentum auch in der hohen Literatur blühte, und auch die Verse des jungen Gerhart Hauptmann der vornaturalistischen Periode sind zu eben jener Zeit nicht anders gewesen: Aber du, o Sänger, Wird dir bang und bänger, file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1971/017.htm[06.10.2020 07:35:54]

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