Grundrig elner Meteorobiologie des Menschen Wetter- und lahreszeiteneinfliisse von Professor Dr. B. de Rudder Direktor der Univ.-Kinderklinik Frankfurt a. M. Zweite, vollig neubearbeitete Auflage Mit 59 Abbildungen Berlin Verlag von Julius Springer 1938 ISBN-13: 978-3-642-94091-0 e-ISBN-13: 978-3-642-94491-8 DOl: 10.1007/978-3-642-94491-8 AIle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen vorbehalten. Copyright 1931 and 1938 by Julius Springer in Berlin. Softcover reprint of the hardcover 2nd edition 1938 Vo rwort zur ersten Auflage. Die vorliegende Darstellung ist als erweiterte Bearbeitung mehrerer VerOffentlichungen des Verfassers entstanden, da sich ein zunehmend gri:.iBeres Interesse fUr die hier behandelten Fragen zeigte. Die Be schrankung auf atmospharische "Vorgange" erfolgte absichtlich, da eine zusammenfassende Darstellung solcher Einflusse auf Krankheits geschehen bisher nicht vorlag. Dagegen existieren uber den EinfluB atmospharischer "Zustande", namlich uber Klimawirkungen bereits umfangreiche Bearbeitungen, denen Verfasser nichts hinzuzufUgen gehabt hatte. Des weiteren wurde von einer breiteren Darstellung psychischer Wirkungen von Wetter und Jahreszeit abgesehen, da gerade uber diesen Gegenstand monographische Bearbeitungen (z. B. von HELLPACH) vorliegen. In der Darstellung kam es Verfasser vor allem darauf an zu zeigen, was wir heute uber das Problem wissen, was gesichert ist und wo For schungswege sich eri:.iffnen; wenn der Leser an vielen Stellen Lucken in unserem Wissen aufgezeigt findet, so liegt das an der Unvollstandigkeit unserer Kenntnisse; jedenfalls wurde nirgends der Versuch gemacht, solche Lucken durch Theorienbildung einfach zu uberbrucken: Weiter hin sollte die Darstellung zwischen dem Mediziner und dem Meteorologen in gewisser Hinsicht vermitteln, nachdem in diesen Fragen beide For schungswege zusammenarbeiten miissen. Aus naheliegenden Grunden muBte Verfasser sich im wesentlichen auf die Verhaltnisse in der ni:.irdlich gemaBigten Zone beschranken. Fur Krankheiten tropischer und subtropischer Gebiete, die an sich viel Inter essantes zu dem Thema beizutragen hatten, fUhlte sich Verfasser nicht kompetent genug"; vielleicht regt aber vorliegende Schrift, die letzten Endes ja auch einen bescheidenen Beitrag zur Geomedizin darstellt, zu einer solchen Bearbeitung an. Wurzburg-Munchen, im August 1931. B. DE RUDDER. Vorwort znr zweiten Anflage. Die erste Auflage ist unter dem Titel "Wetter und J ahre8zeit al8 Krankheit8faktoren" mit dem Untertitel "Grundrif3 einer Meteoropatho logie de8 MenBchen" erschienen. Seitdem hat das Interesse an den hier behandelten Fragen ganz erheblich zugenommen. Es ist inzwischen eine Fiille neuer Arbeiten zu dem Thema veroffentlicht worden. Zwar war es weder Absicht des Verfassers noch Aufgabe des Buches, das Thema bibliographisch zu behandeln, aber alles wirklich Neue dieser Literatur war naturgemaB zu beriicksichtigen. AuBerdem war mancherlei Vertie fung und klarere Einsicht in Fragestellungen notwendig und moglich. Auch methodische Fragen wurden noch starker herausgearbeitet, da fiir den Fortgang der Forschung alles an richtig abgepaBter Methodik liegt. Physiologische Fragen konnten eine etwas eingehendere Beriicksichtigung finden. Dagegen wurde auf Erfahrungen aus Tierversuchen nur ganz ver einzelt zuriickgegriffen, weil ihrer Ubertragung auf den Menschen vor erst auf diesem Gebiete noch groBte Schwierigkeiten entgegenstehen. Mit Riicksicht auf diese Veranderungen konnte der Titel des Buches etwas allgemeiner gefaBt werden. Die schon in der 1. Auflage durchgefiihrte Beschrankung auf im wesentlichen somatische Beziehungen wurde dagegen beibehalten. Dies war um so leichter moglich, als von dem jetzt unter dem Titel "Geo psyche" erschienenen HELLPAcHschen Buche eine vollig neubearbeitete Auflage vorliegt, die iiber den Anteil psychischer Probleme in ausgezeich neter Weise Auskunft gibt und die hier gegebene Darstellung nach vieler Hinsicht hin erganzt. 1m iibrigen ist auch diese Auflage ganz yom Standpunkte des Arztes geschrieben; meteorologische Fragen wurden nur beliandelt, soweit sie zum Verstandnisse notwendig waren. Eine Analyse von Wettervorgan gen ist nicht Aufgabe des Arztes; das Buch soIl vielmehr die hier so not wendige Zusammenarbeit mit dem Meteorologen nur fordern. Frankfurt a. M., im Herbst 1937. B. DE RUDDER. Inhaltsverzeichnis. Sene Einleitung. . . . . . . 1 I. Deduktive und induktive Meteorobiologie . 2 1. Deduktive Forschungswege 5 2. Induktive Forschungswege 7 H. Wettervorgiinge und Mensch (Meteorotrope Krankheiten) 8 1. Die "Gruppenbildung" . . . . . . . . . . . . . . 8 2. Die primare Fragestellung und Irrwege bei ihrer Beantwortung 14 3. Die "Luftkorper" und die zyklonalen Vorgange in der Atmosphare 17 a) Die grundlegenden Vorgange. . . . . . . . . . . . 17 b) Die Okklusionserscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . 21 c) Komplexitat zyklonaler Vorgange in der Wirklichkeit. . . . . 22 4. Nachweismethoden fiir den Meteorotropismus und Erweiterung der primaren Fragestellung . . . . . . . . . . . . 25 5. Meteorotropismus bei einzelnen Krankheiten. . . . 34 a) Die ausgesprochen meteorotropen Krankheiten . 35 "Wetterschmerzen" 35. - Gestationseklampsie 39. - Kehlkopf croup 42. - Pneumonie 44. - Sauglingsspasmophilie 47. - Akutes Glaukom 48. - Apoplexie 49. - Haemoptoe 50. b) Beispiele fiir Gruppenbildung und Fronten 51 c) Meteorotropismen bei weiteren Krankheiten . 59 d) Der Fohn. . . . . . . . . . . . . . . . 76 e) Die "Aquatorialfront" . . . . . . . . . . 80 6. Allgemeines zur Meteorobiologie der Wetterfronten 83 III. Jahreszeit und Mensch (Saisonkrankheiten) . 98 A. Formale Feststellung und formale Analyse von Saison- schwankungen. . . . . . . . . . . . ...... 100 B. Allgemeines zur kausalen Analyse von Saisonschwankun- gen ........... . 107 1. "Pseudosaisonkrankheiten". TauEchungen durch das "Summen- jahr". . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Indirekte (mittelbare) Saisonkrankheiten ............ 114 3. Die Irreleitung durch "automatische Korrelationen" . . . . . . 119 4. Kausale Analyse bei Infektionskrankheiten (Lokalismus - Kon- tagionismus - Neolokalismus). . 125 C. Die einzelnen Saisonrhythmen. . . . . . . . . . 133 1. Die Sommergipfel von Krankheiten ......... 135 2. Die Winter-Friihjahrsrelation im biologischen Geschehen 151 VI Inha.ltsverzeichnis. Seite a) Bioklimatik der Dornostrahlung. . . . . . . . . . . 152 /X) Das Rachitisproblem . . . . . . . . . . . . . . 152 Pl Die physiologische "Winterruhe" im Knochensystem 158 y) Die "Winterruhe" im StoffwechEel . . . . . . . . 161 t5) Heilung der Winterschaden im Friihjahr und deren Folgen. (Das Tetanieproblem) . . . . . . . . . . . . . . .. 169 8) Die wiederkehrende Dornostrahlung als Reiz . . . . . .. 175 ~) Der TuberkuloEe-Friihjahrsgipfel und verwandte Probleme. 181 b) Der Winter-Friihjahrs-gipfel bei akuten Infektionskrankheiten 190 c) Anhang zum Winterfriihjahrsgipfel . . . 203 3. Jahreszeitliche "Pradestinations-tendenzen ~. . . . . . . . 203 Meteorobiologie im iirztlichen Handem ("me te or 0 b io 10 g is che Pro- p hy 10. xe") . 206 Li tera turverzeichnis 211 So. ch verzeichnis . . . 227 Einleitnng. Umweltfaktoren wirken in entscheidender Weise auf die belebte Natur; die idiotypisch gegebenen Reaktionsmoglichkeiten eines Orga nismus werden durch Umwelt zum Phanotypus gepragt. Ais ein nicht unwesentlicher Teil dieser Umwelt fungiert die Atmosphare, all das, was wir als Klima, Jahreszeit und Wetter zu bezeichnen gewohnt sind. Ihr mannigfacher EinfluB auf Gesundheit und Krankheit des Menschen ist sicher, wenn die Wissenschaft diesen EinfluB auch zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden bewertet hat. Ein solcher EinfluB ist um so sicherer, ala sich der Mensch gerade meteorischen Umweltfaktoren viel fach nicht nennenswert entziehen und sie nicht grundlegend umwandeln kann. Die Untersuchung und Beobachtung von Vorgangen und Zustanden in der Atmosphare ist Aufgabe der Meteorologie. Fiir eine Lehre von den Einfliissen dieser Zustande und Vorgange auf Lebensvorgange iiber haupt hat sich in den letzten Jahren die Bezeichnung "Bioklimatik" ein gebiirgert. Soweit sich diese mit der Einwirkung der atmospharischen Zustande auf die Organismenwelt befaBt, wird sie zur "Klimatologie" bzw. "Klimatobiologie", denn unter Klima verstehen wir ganz allgemein das Bleibende im Wechsel atmosphiirischer Vorgiinge, das statische, das sich aus der Gesamtheit atmospharischer Einfliisse auf einen bestimmten Ort der ErdoberfIache als "Mittelwert" ergibt. Dem Klima steht eine Vielzahl von Vorgiingen in der Atmosphare gegeniiber, welche durch den ihr innewohnenden Faktor der Zeit sich als dynamisch kennzeichnen und von diesen bzw. ihrer AuBerung am Menschen soIl im Nachstehenden ausschlieBlich die Rede sein. Merkwiirdigerweise fehlt aber eine Wort pragung fiir die Gesamtheit dieser V orgiinge in der Atmosphare, also fiir alljenes, was wir nicht erschopfend als Wetter und Jahreszeit bezeichnen zusammen mit all jenen Anderungen, welche nur noch das messende in strument empfindet und welche daher in der Schriftsprache iiberhaupt keinen Niederschlag gefunden haben. Da sich mit all diesen V organgen die "Meteorologie im engeren Sinne" beschiiftigt, d. h. soweit sie eben nicht Klimatologie ist - eine Unterscheidung, die heute schon ziemlich gebrauchlich geworden ist - so mochte ich diese Vorgiinge unter der Be zeichnung "Meteorismen" zusammenfassen. Dasjenige Gebiet, das die Einwirkung aller M eteorismen auf die Lebewelt untersucht, ware dann die de Rudder, Meteoroblologie. 2. Aufl. 1 2 Deduktive und induktive Meteorobiologie. Meteorobiologie. Der Begriff hat den Vorteil, daB man ihn sinngemaB in M eteorophysiologie und M eteoropathologie aufteilen kann und daB diese Bezeichnungen ohne weiteres als Adjektiva gebraucht werden konnen, was fiir rasche und klare Verstandigung mit "Kennworten" immer angenehm ist. Die bekanntesten Vorgange dieser Art, "Wetter" und "Jahres zeiten" heben sich in bioklimatischen Fragestellungen durch einen in erkenntniskritischer Hinsicht wesentlichen Umstand heraus: Die Frage nach solchen EinflUssen wurde durch unmittelbare Beobachtungen am M enschen und seinem Erkranken aufgeworfen und driingte zur Stellung nahme, bzw. Beantwortung. Auf einer sozusagen anderen Ebene der Wahrnehmung stehen dann weitere Fragestellungen, welche auf umgekehrtem Wege zustande kommen. Nachdem namlich die Tatsache eines Einflusses von Wetter oder Jahres zeit auf den Menschen feststand, konnte man weiter fragen, ob noch andere moglicherweise iiber die Atmosphare zur Auswirkung auf den Menschen kommende Einfliisse vorhanden sind. Diese werden dann nicht durch unmittelbare Beobachtung des Arztes aufgedrangt, sie ent ziehen sich geradezu dieser unmittelbaren Beobachtung iiberhaupt und ihre Existenz kann erst als erwiesen gelten, wenn sie mittels sorgfaltigster und kritischer naturwissenschaftlicher Methode belegbar sind. Dieser grundlegende Unterschied wird uns im folgenden wiederholt begegnen. I. Deduktive und induktive Meteorobiologie. In dem ganzen Fragenkomplex der Einwirkung meteorischer Vor gange auf den Menschen scheint vor aHem eine begriffliche Klarung sehr notwendig. In diesem Sinne seien einige allgemeine ErOrterungen voraus geschickt. Fiir die zu studierenden Einfliisse ist zunachst grundsatzlich zu trennen zwischen 1. unmittelbaren Beeinflussungen, d. h. direkt auf den Menschen er folgenden Einwirkungen, 2. mittelbaren meteorischen Einwirkungen, d. h. solchen, die sich ent weder auf menschliche Lebensverhaltnisse und -gewohnheiten oder auf andere Organismen erstrecken, wobei diese letzteren dann erst Krank heitsvorgange am Menschen verursachen. Fur diese mittelbaren, hier erst in zweiter Linie interessierenden Einwirkungen, welche unter U mstanden einen meteorischen EinfluB auf den Menschen vortauschen k6nnen, und wovon spater verschiedentlich zu sprechen sein wird, lassen sich zahl reiche Beispiele anfuhren. Wenn etwa eine Krankheit durch einen tierischenZwischenwirt auf den Menschen ubertragen wird, so hangt ihr Vorkommen ab von der Existenz dieses Zwischen- Deduktive und induktive Meteorobiologie. 3 wirtes. Wenn dabei letzterer in seinem Vorkommen von klimatischen Bedingungen beeinfluBt wird, so mull sich das indirekt auf das menschliche Erkranken auswirken. Eine nahezu unerschopfliche Fiille solcher Zusammenhange bietet die Lehre von tropischen Infekticmskrankheiten. Interessenten finden viele lehrreiche Beispiele dieser Art in der ausgezeichneten Schrift MARTINIS "Wege der Seuchen", auf die ich noch wiederholt zuriickkommen werde. Der Begriff der "miasmatischen" Krankheiten, den die Medizin des vorigen Jahrhunderts als fiir damals ausgezeich nete Arbeitshypothese entwickelt hat, steht in engster Beziehung zu dieser Frage, wie wir spater noch sehen werden (vgl. S. 128). Uns interessieren vorerst die unmittelbaren Beziehungen von atmo spharischem Geschehen und Mensch. Zunachst wird fiir diese unmittelbaren Einfliisse meteorischer Vor gange auf den Menschen ganz allgemein die Frage interessieren, wie wir zu Erkenntnissen dieser b·ioklimatischen Beziehungen kommen, welche methodischen Schwierigkeiten sich der Untersuchung in den Weg stellen und welcher Wahrheitsgehalt so gewonnenen Feststellungen zukommt, bzw. von ihnen zu erwarten ist. Ganz allgemein handelt es sich darum, die Abhangigkeiten eines komplexen Systems, eines lebenden Organismus (Mensch) von einem zweiten komplexen System, dem atmospharischen Geschehen zu studieren, oder mit anderen Worten Korrelationen zwischen Vorgangen in zwei ver schiedenen Systemen zu ermitteln. Solches kann theoretisch auf induktivem Wege sowohl wie auf de duktivem geschehen, es kann eine gesetzmaBige Abhangigkeit entweder analytisch oder synthetisch ermittelt werden. Sowohl die Medizin (oder ganz allgemein die Biologie) als auch die Meteorologie ist den Weg von der Analyse zur Synthese gegangen und muBte ihn gehen. Wir sollen nie vergessen, daB die Unsumme von Teil erfahrungen, welche uns die N aturwissenschaft des vorigen und der etwa ersten zwei Dezennien dieses Jahrhunderts lieferte, notwendig war, um uns heute manche wissenschaftliche Synthese zu gestatten; ganz so, wie der Chemiker nie zur Synthese einer bestimmten Verbindung gelangen kann, ohne sie vorher zerlegt und ihre Einzeleigenschaften studiert zu haben. Die Meteorologie als eine messende Wissenschaft yom atmosphari schen Geschehen hat seit langem versucht, das Geschehen in der Atmo sphare durch eine zunehmend groBere Zahl "meteorologischer Elemente" moglichst vollstandig zu erfassen und zu beschreiben. So wurde etwa laufend gemessen Luftdruck und Temperaturgang, Feuchtigkeitsgehalt und Sattigungsdefizit der Luft, Windstarke und Windrichtung, Nieder schlagsmengen, Himmelsbedeckung und Sonnenscheindauer, Typen der Bewolkung u. v. a. In neuerer Zeit kommen mehr und mehr weitere Messungen dazu - um nur einige zu nennen: die Sonneneinstrahlungs- 1*