Claudia RademacherIPeter Wiechens (Hrsg.) Geschlecht - Ethnizität - Klasse Claudia RademacherlPeter Wiechens (Hrsg.) Geschlecht - Ethnizität - Klasse Zur sozialen Konstruktion von Hierarchie und Differenz Leske + Budrich, Opladen 2001 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für die Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 978-3-8100-2888-4 ISBN 978-3-322-99901-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-99901-6 © 2001 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Leske + Budrich, Opladen Inhalt Vorwort .................................................................................................... 7 Geschlecht Pierre Bourdieu Teilen und herrschen: Zur symbolischen Ökonomie des Geschlechterverhältnisses .................................................................. 11 Claudia Rademacher Geschlechterrevolution - rein symbolisch? Judith Butlers Bourdieu- Lektüre und ihr Konzept einer ,subversiven Identitätspolitik' ................. 31 Rolf Eickelpasch Hierarchie und Differenz. Anmerkungen und Anfragen zur "konstruktivistischen Wende" in der Analyse sozialer Ungleichheit ...... 53 Regine Gildemeister Soziale Konstruktion von Geschlecht: Fallen, Mißverständnisse und Erträge einer Debatte ............................................................................... 65 Ethnizität Gabriele Mordt Staat, Nation und Geschlecht. Überlegungen zum Zusammenhang von Sicherheitspolitik und Geschlechterpolitik in der Neuen Weltordnung ... 91 Lars Heinemann Ethnizität und Geltung. Möglichkeiten und Grenzen konstruktivistischer Theorien bei der Erklärung ethnischer Vergemeinschaftung ................... 111 Ulrich Biele/eld Ethnizität und Existenz ............................................................................ 129 6 Inhalt Veit-Michael Bader Kultur und Identität: Essentialismus, Konstruktivismus oder Kritischer Realismus? .............................................................................. 145 Klasse Ola! Groh, Carsten Keller Armut und symbolische Gewalt .............................................................. 177 Frank Hillebrandt Klasse der Entbehrlichen. Grenzen funktionalistischer Gesellschaftstheorie ..... ......... ....................... 201 Michael Vester, Daniel Gardemin Milieu und Klassenstruktur. Auflösung, Kontinuität oder Wandel der Klassengesellschaft? ................................................................................ 219 Uwe H. Bittlingmayer, Klaus Kraemer Klassenlosigkeit als Konstrukt. Anmerkungen zum Wandel kollektiver symbolischer Sinnwelten ......................................................................... 275 Autorinnen und Autoren .......................................................................... 297 Vorwort Der Begriff ,soziale Konstruktion' ist in den letzten Jahren in den sozialwis senschaftlichen Debatten zu einer gängigen Münze geworden, wie schon ein flüchtiger Blick auf die Titel soziologischer Neuerscheinungen in den Ver lagskatalogen zeigt. Nun sind die Sozialwissenschaften nicht gerade arm an kurzlebigen Modeströmungen, die sich gern als dauerhafte ,Wende' oder pa radigmatischen ,turn' präsentieren und dann wieder spurlos verschwinden. Der ,constructivistic turn' scheint jedoch mehr als eine rasch verwelkende Zeitgeistblüte zu sein: In vielen klassischen soziologischen Forschungsfel dem hat er tiefgreifende Spuren hinterlassen. ,Klasse', ,Schicht', ,Familie', ,Ethnie', ,Geschlecht': Was ist mit diesen Kategorien heute gemeint? Gerade ,konstruktivistisch' belehrte SoziologInnen haben größte Schwierigkeiten damit, diese Frage noch zu beantworten. In der deutschen Soziologie hat sich die konstruktivistische Perspektive vor allem im Umkreis der Systemtheorie von Niklas Lubmann entwickelt, ist dann aber entscheidend durch die anglo-amerikanischen ,cultural studies' und die Rezeption von Theorien aus der ethnomethodologischen und diskurs theoretischen Tradition erweitert worden. Gemeinsam ist diesen ansonsten sehr unterschiedlichen Versionen des Konstruktivismus die Einsicht, daß Theorien nicht eine von ihnen unabhängige Welt der sozialen Tatsachen regi strieren. Sie finden keine Bedeutungen der Welt vor, sondern produzieren diese erst. Klasse, Schicht, Milieu, Lebensstil, Geschlecht, Kriminalität, Kul tur, Identität etc. sind keine subjekt- und beobachterunabhängigen Tatbestän de - so die Grundidee des sozialwissenschaftlichen ,Konstruktivismus' -, sondern ,soziale Konstruktionen', d.h. kontingente und historisch variable Produkte symbolisch-kultureller Deutungs-und Klassifikationsprozesse. Durch einen radikalen Paradigmenwechsel suchen die unterschiedlichen Varianten des Konstruktivismus die theoretischen Sackgassen des sozialwis senschaftlichen ,Objektivismus' und der ,strukturellen Soziologie' zu über winden. Im Zentrum stehen die symbolisch-kulturellen Sinnsysteme bzw. die alltäglichen Interaktions- und Deutungspraktiken, in denen die ,Objektivität' 8 Vorwort der Sozial welt allererst hervorgebracht wird. Damit stellt sich gerade für die soziologische Gegenwartsanalyse das Problem, wie der Zusammenhang zwi schen der sozialstrukturellen ,hardware' und der symbolisch-kulturellen ,software', zwischen dem "stummen Zwang der Verhältnisse" und der kultu rellen Dimension gesellschaftlicher Symbole theoretisch wie empirisch ge faßt werden kann. Die Beiträge dieses Bandes loten die Erklärungskraft und die Grenzen konstruktivistischer Sozialtheorien anhand des Problemfeldes ,soziale Un gleichheit' aus, das seit je zu den meist diskutierten Themen der Soziologie gehört. Sie gehen aus unterschiedlichen Perspektiven der Frage nach, ob der Sozialkonstruktivismus über die geeigneten begrifflichen Instrumente ver fügt, um die ,harten Fakten' der Ungleichheit zwischen Klassen und Lebens lagen, zwischen ethnischen Gruppen und zwischen den Geschlechtern zu er fassen und eine normative Kritik an solchen Verhältnisses zu begründen, die von den Gesellschaftsmitgliedern als ungerecht empfunden werden. Den Anstoß zur vorliegenden Sammlung von Aufsätzen gab die Tagung "Ungleichheit oder Differenz? Zur Erklärungskraft konstruktivistischer So zialtheorien", die im Mai 1999 vom Münsteraner Forschungskolloquium Ge seIlschaftstheorie und Zeitdiagnose am Institut für Soziologie der Universität Münster veranstaltet wurde. Die um einige Beiträge erweiterte Aufsatzsamm lung schließt an diese Diskussion an. Für die produktive verlegerische Betreuung danken wir dem Verlag Les ke + Budrich. Münster, im Mai 2000 Die Herausgeberin Der Herausgeber Geschlecht Pierre Bourdieu im Gesprächl Teilen und herrschen Zur symbolischen Ökonomie des Geschlechterverhältnisses Pierre Bourdieu, Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie am College de Fran ce, Forschungsdirektor an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Leiter des Centre de Sociologie europeenne, gehört seit Die feinen Unter schiede zu den unbestrittenen und streitbaren Größen seiner Zunft. Eine sei ner jüngsten Arbeiten, La domination masculine, erschienen im Herbst 1998, vereinigt Überlegungen zu einem lange umkreisten Gegenstand und verdich tet mit ihrer Erkundung der Geschlechterverhältnisse die grundlegenden Fra gen der bourdieuschen Soziologie nach der gesellschaftlichen Bestimmtheit unseres Denkens, Fühlens und Handeins. Bourdieu versucht hier, die männli che Herrschaft, jene symbolische Herrschaft par excellence, derart tief in un serem Unbewußten verankert, daß wir sie nicht mehr wahrzunehmen, derart gegenwärtig in allen Dingen unseres Lebens, daß wir sie nicht mehr in Frage zu stellen fähig sind, ausgehend von einer Ethnographie der kabylischen Ge sellschaft zu hinterfragen, einem wahren Museum des Unbewußten der me diterranen Kultur, die symbolischen Strukturen eines androzentrischen Welt bildes zu erforschen, das bei Männern und Frauen bis auf den heutigen Tag wirksam ist. Dieses "vergrößerte Bild", das die soziale Konstruktion des Körpers und die Inkorporierung der männlichen Herrschaft, ihre symbolische Gewalt erkennbar macht, stellt Bourdieu in eine Ökonomie symbolischer Güter, deren ungebrochene Reproduktion die Macht der Strukturen erweist, in die sie sich tief und unausweichlich eingeschrieben hat. Denn die tatsächli chen Fortschritte, die es hier seit dem Ende des Krieges im Kampf um politi sche Gleichberechtigung, bei der Teilung der häuslichen Pflichten gegeben hat, konnten die Herrschaft jener männlichen Sicht der Welt nicht brechen, die bis heute das Geschlechterverhältnis begründet. Diese Herrschaft, der man immer wieder einen natürlichen Grund anzudichten versucht, bleibt eine Das Gespräch mit Catherine Portevin wurde im Juli und August 1998 in der französi schen Zeitschrift Tilerama veröffentlicht. Einleitung und Übersetzung von Stephan Egger. ' 12 Pierre Bourdieu willkürliche, eine soziale, eine kulturelle Konstruktion, die nicht nur durch die Familie, sondern auch von Staat und Kirche, in der Schule und bei der Arbeit am Leben erhalten wird. Großaufnahme - eine Ethnologie der Geschlechterverhältnisse Portevin: Weshalb haben Sie den kabylischen Bauern als Archetyp gewählt, um die Herrschaft der Männer zu beschreiben? Inwiefern betrifft das unsere heutigen Gesellschaften? Bourdieu: Zunächst, weil ich die kabylische Gesellschaft sehr eingehend unter sucht habe, und dann, weil wir derart tief in die Geschlechterbeziehungen ver strickt sind, daß hier bloßes Nachdenken allein, eine Art Selbstbefragung nicht weiterhilft. Ich bin aus methodischen Gründen sehr skeptisch gegenüber sol chen Versuchen, die eigene Erfahrung zu bemühen, und in diesem Fall gilt das ganz besonders. Ohne einen ganz außergewöhnlichen Blick für die Dinge (wie den einer Virginia Woolt) fallt es Frauen und Männern schwer, sich der Logik ihrer "Weiblichkeit" oder "Männlichkeit" bewußt zu werden: sie ist derart "konsubstantiell" mit dem, was sie "sind", für sich und andere ... Mir schien es deshalb geradezu zwingend, einen Umweg zu gehen, über eben diese gleich zeitig sehr ferne und doch so nahe Gesellschaft, die ich früher untersuchen konnte, deren Ordnungen des Denkens ich zu rekonstruieren versucht hatte, ei nes Denkens, das immer noch in uns weiterlebt. Nehmen wir die Fruchtbar keitsriten in der Kabylei, anläßlich einer Hochzeit, einer Beschneidung oder bei der Aussaat: hier hat man es immer wieder mit Speisen zu tun, die anschwel len, aufgehen, aufbrechen und ich habe mich dann daran erinnert, daß man in meiner Kindheit an Fastnacht Krapfen gebraten hat, also etwas, das aufgeht. Seltsamerweise konnte ich diese Erfahrung erst vor dem Hintergrund dessen einordnen, was ich von der kabylischen Gesellschaft her kannte, mit einem Wissen, das es mir ermöglichte, die Erfahrungen meiner eigenen, europäischen Tradition "wiederzugewinnen", wie sie zu Beginn dieses Jahrhunderts der fran zösische Ethnologe Arnold Van Gennep gesammelt hat, in seiner großen Un tersuchung über das volkstümliche Brauchtum in unserer westlichen Kultur. Die weibliche Seite dieser praktischen Analogie ließ sich leichter verstehen, der schwellende Unterleib einer schwangeren Frau, aber anfangs schien mir die männliche Seite nicht einleuchtend, und weniger noch die Verbindung zwi schen den unterschiedlichen Arten dieses Anschwellens und auch nicht ganz die genaue Aufgabe, die das jeweilige Ritual diesen besonderen Speisen über trug. Es war dann einige Arbeit nötig, die Dinge zusammenzubringen, weniger das, was man für gewöhnlich unter "Reflexion" versteht, als vielmehr eine methodische Objektivation der Subjektivität. Das hat schließlich auch dazu ge führt, Fragen nach der Beziehung zwischen dieser Art Sozioanalyse und der