Feministisches Geo-RundMail Informationen rund um feministische Geographie Nr. 75 | April 2018 © Janika Kuge Themenheft: Feministische Politische Geographie Feministisches Geo-RundMail Nr. 75 | April 2018 Liebe Leser_innen, Dass dies – vor allem in Straßenkämpfen wie denjenigen in Toronto – in den meisten Fällen nie frei von persönlichem Un- das Titelbild der vorliegenden Ausgabe zeigt einen der Neben- behagen, überraschenden Momenten und Irritationen erfolgt, schauplätze des diesjährigen Frauen*kampftags im kanadischen verdeutlicht der erste Beitrag von Janika Kuge, indem sie auf- Toronto. Aufgenommen hat das Foto unsere Autorin Janika zeigt, dass es gerade diese Situationen sind, die einem die eigene Kuge, die nicht unweit von dieser Szenerie zusammen mit tau- Positioniertheit und das „Gelesen-Werden“ im Raum – auch senden anderen Menschen am 04. März 2018 auf den Straßen bzw. gerade in aktivistischen Kontexten einer gelebten feminis- Torontos dafür einstand, dass die Diskriminierung von und Ge- tischen p/Politischen Geographie – gewahr werden lassen. Wäh- walt an indigenen Frauen* und Kindern in Kanada enden muss. rend feministische Politische Geographien also marginalisierte Von diesen protestierenden Menschen, ihren Körpern, ihren Körper in den Fokus ihrer Analysen rücken, schulen sie gleich- lauten Stimmen und drängenden Anliegen ist auf dem Bild we- zeitig auch unseren Blick dafür wer in geopolitischen Repräsen- nig zu spüren. Im Vordergrund sehen wir vielmehr verschiedene tationen und Erzählungen von Staatsbürgerschaft, Territorium Banner, aufgestellte Kreuze und Transparente. Die entschei- oder Militär unsichtbar bleibt, wie der Beitrag von Christoph dende Rolle für das Zustandekommen dieses „No more stolen Creutziger zu Geopolitik, Emotionen und männlichen Deu- sisters“- Protestcamps und dafür, dass die Kreuze und Plakate tungsmustern zeigt. Ähnlich wie Geopolitiken finden auch Na- an diesem sonnigen Tag im März 2018 in Torontos Innenstadt tionalpolitiken durch, über und mit Körpern statt, wenn Regie- stehen und an Häuserwänden hängen, spielen Körper. Und zwar rungen z.B. finanzielle Mittel für geschützte Arbeitsverhältnisse nicht nur diejenigen, die auf dem Foto in der zweiten Reihe zu von Menschen mit Behinderungen kürzen (Timár and Fabula sehen sind, hinter den Bannern und unter der Zeltplane, sondern 2013) oder aber Körper im Bereich des Militärs in „erwünschte“ es sind vor allem auch die Körper der indigenen Frauen* und und „unerwünschte“ eingeteilt, inszeniert und beworben wer- Kinder, deren Erzählungen und Erfahrungen von Gewalt, die den, wie der Beitrag von Linda Ruppert zu soldatischen Män- neben den vielen (Mit-)Protestierenden Anlass und Gegenstand nern* und neuen Technikinnovationen in der Bundeswehr ver- des Protests sind. anschaulicht. Eine feministische Politische Geographie nimmt diese Körper, Der zweite größere Teilbereich der vorliegenden Ausgabe ist ihre unterschiedlichen Erfahrungen, Geschichten und Beziehun- der Dekonstruktion von Biologismen gewidmet, die – als Natu- gen zueinander in den Blick und begreift die vielfältigen, asym- ralisierung vergeschlechtlichter, sexualisierter und rassifizierter metrischen Machtverhältnisse, in denen sie verwoben, positio- Körper, Formen politischer und staatlicher Gewalt verstanden – niert und angerufen sind, als produktive Momente der Wissens- die anhaltende Unterdrückung und Ausbeutung marginalisierter generierung. Die vielen verschiedenen sichtbaren und unsicht- Körper, Praktiken und Erfahrungen legitimieren. Inspiriert baren Menschen und ihre Geschichten auf dem Foto motivieren durch die Arbeiten von Judith Butler adressieren die Beiträge uns, Konflikte um politische Mitsprache und Teilhabe, Exklu- von Matthias Hoenig und Lilith Kuhn feministische Politische sion und Inklusion zu thematisieren. Dabei spielen auch Fragen Geographien, die am Beispiel von Werbekampagnen internati- um nationale Zugehörigkeiten und Identitäten (Militz 2017), onal operierender Hilfsorganisationen, populärwissenschaftli- Territorien, Grenzen und Geopolitik (Dixon 2015), Emotionali- cher Literatur und Kinderspielzeug dafür appellieren auch tät (Richter 2015; Schurr 2014) und Intimität (Faria 2014; Smith queere, rassismuskritische und postkoloniale Fragen, Konzepte 2016) eine wichtige Rolle. Denn: Körper sind unterschiedlich und Methodologien mit zu adressieren bzw. zu denken. eingebettet und dies sowohl in raum-zeitlicher Hinsicht, als auch bezüglich ihrer vergeschlechtlichten, rassifizierten, sozio- Bei der Suche nach Literatur, die das Label feministische Poli- ökonomischen, politischen, kulturellen, religiösen oder sexuel- tische Geographie bedient, fiel uns auf, dass die Autor*innen len Verortung (Bauriedl et al. 2000; Crang and Tolia-Kelly überwiegend auf Englisch schreibende weiße Frauen* sind. Wir 2010; Klosterkamp 2018; McKittrick 2000). Von Interesse einer fragen uns: Was braucht es, dass sich auch andere Menschen feministischen politischen Geographie ist es somit, Wissen zu von der feministischen politischen Geographie angesprochen generieren, das nicht nur an die gelebte Erfahrung weißer Kör- fühlen? Im Wiley Blackwell Companion to Political Geography per anschließt, sondern aus indigenen, schwarzen und nicht- fordert Jennifer Fluri (2015), dass wir mehr feministische For- weißen Konzepten von Körper und Raum hervorgeht, oder wie schung brauchen, um konventionelle Epistemologien über Ge- es Leslie Gross-Wyrtzen formuiert: „[to] push political geo- schlecht, Raum, Politik und Scale infrage zu stellen. Damit fe- graphy’s theoretical and disciplinary boundaries in order to ex- ministische Geographien nicht mehr nur Intervention und not- plore the mobility and meanings of blackness and indigeneity, wendiges Korrektiv, sondern elementarer Bestandteil Politi- and how these inform the production of space (and place) at in- scher Geographie werden und sind. Sie schließt damit an Jen- timate and global scales“ (Gross-Wyrtzen 2018). nifer Hyndmans Erklärung an, dass „feminist contributions gen- erate grounds for alternative modes of knowledge production in geography that are at once feminist and political” (2007, 35). 2 | Feministische Politische Geographie Für uns bedeutet die Forderung nach feministischen Beiträgen Faria, Caroline. 2014. ‘“I Want My Children to Know Sudan”: in der Wissensproduktion daher nicht zuletzt auch, in der uni- Narrating the Long-Distance Intimacies of Diasporic versitären Lehre anzusetzen und feministische p/Politische Ge- Politics’. Annals of the Association of American Geog- ographien in die geographische Standardausbildung zu integrie- raphers 104 (5): 1052–67. https://doi.org/10.1080/000 ren. Ein Angebot für eine solche Integration bzw. für die Bear- 45608.2014.914835. beitung feministisch-politischer Geographien im Seminar bietet Fluri, Jennifer L. 2015. ‘Feminist Political Geography’. In The der Beitrag von Sunčana Laketa. Wiley Blackwell Companion to Political Geography, Als Teil einer gelebten feministischen politisch-geographischen 235–47. Wiley-Blackwell. https://doi.org/10.1002/97 Praxis war das Erstellen dieser Rundmail für uns eine Möglich- 81118725771.ch18. keit mit den Autor*innen ins Gespräch zu kommen und gemein- Gross-Wyrtzen, Leslie. 2018. ‘Post 3 of #GPC@25: Feminist sam Texte zu entwickeln. Schreiben in der feministischen poli- Political Geography: Open the Borders!’ Gender, tischen Geographie bedeutet für uns möglichst konkret und prä- Place and Culture: A Journal of Feminist Geography zise hervorzuheben, wer unter welchen Bedingungen in den (blog). 26 February 2018. https://genderplaceandcul- Texten spricht, fühlt und agiert bzw. unter welchen gesellschaft- ture.wordpress.com/2018/02/26/post-3-of-gpc25-fem- lichen Rahmungen und mehrdimensionalen Machtverhältnissen inist-political-geography-open-the-borders-by-leslie- (Gedanken-)Räume, entsprechend produziert, hervorgebracht gross-wyrtzen/. bzw. eingenommen werden. Das Verfassen von Texten in der Hyndman, Jennifer. 2007. ‘Feminist Geopolitics Revisited: feministischen p/Politischen Geographie ruft in besonderem Body Counts in Iraq*’. The Professional Geographer Maße Gefühle und Widersprüche hervor, die sich manchmal 59 (1): 35–46. https://doi.org/10.1111/j.1467-9272.20 schwer in Worte fassen lassen und die nicht immer aufgelöst 0 7.00589.x. werden können. In dieser Art spezifisch, ehrlich und verständ- Klosterkamp, Sarah. 2018. ‘“22 Different Ways of Being a Ter- lich zu schreiben stellt uns jeden Tag vor Herausforderungen rorist”: A Court-Ethnography of Criminal Proceedings und doch empfinden wir genau diese Art zu Schreiben und das against the so-called “Islamic State”’. presented at the Sichtbar-Machen und Teilen genau dieser, teils widersprüchli- Feminist Geography Collective UT Austin, Austin, cher Emotionen, als einen besonderen Mehrwert feministisch March 30. politisch-geographischen Arbeitens. Wir freuen uns, dass sich Laketa, Sunčana. 2016. ‘Geopolitics of Affect and Emotions in die Autor*innen auf unsere Feedbackrunden eingelassen haben a Post-Conflict City’. Geopolitics 21 (3): 661–85. und möchten uns ganz herzlich für die offene und vertrauens- https://doi.org/10.1080/14650045.2016.1141765. volle Zusammenarbeit bedanken. McKittrick, Katherine. 2000. ‘“Who Do You Talk To, When a Body”s in Trouble?: M. Nourbese Philip’s (Un)silenc- Sarah Klosterkamp und Elisabeth Militz ing of Black Bodies in the Diaspora’. Social & Cul- tural Geography 1 (2): 223–36. https://doi.org/10.108 1/ 14649360020010220. Quellen: Militz, Elisabeth. 2017. ‘Affective Nationalism: Bodies, Mate- Bauriedl, S., K. Fleischmann, A. Strüver, and C. Wucherpfen- rials and Encounters with the Nation in Azerbaijan’. nig. 2000. ‘Verkörperte Räume - “verräumte” Körper : PhD dissertation, Zurich: University of Zurich. Zu Einem Feministisch-Poststrukturalistischen Ver- Richter, Marina. 2015. ‘Can You Feel the Difference? Emotions ständnis Der Wechselwirkungen von Körper Und as an Analytical Lens’. Geographica Helvetica 70 (2): Raum’. Geographica Helvetica 55 (2): 130–37. 141–48. https://doi.org/10.5194/gh-70-141-2015. https://doi.org/https://doi.org/10.5194/gh-55-130- Schurr, Carolin. 2014. ‘Emotionen, Affekte und non-repräsen- 2000. tationale Geographien’. Geographische Zeitschrift 102 Crang, Mike, and Divya P. Tolia-Kelly. 2010. ‘Nation, Race, (3): 148–61. and Affect: Senses and Sensibilities at National Herit- Smith, Sara H. 2016. ‘Intimacy and Angst in the Field’. Gender, age Sites’. Environment and Planning A 42 (10): Place & Culture 23 (1): 134–46. https://doi.org/10.10 2315 – 2331. https://doi.org/10.1068/a4346. 80/0966369X.2014.958067. Dixon, Deborah P. 2015. Feminist Geopolitics: Material States. Gender Space and Society. Farnham: Ashgate. 3 Feministisches Geo-RundMail Nr. 75 | April 2018 Inhaltsverzeichnis Beiträge zum Themenschwerpunkt .................................................................................................................................. 5 Solidarität heißt: No more stolen sisters! Kommentar zum Frauen*kampftag 2018 in Toronto, Kanada ............................... 5 Janika Kuge, Freiburg Geopolitik und Emotionen im Neuen Kalten Krieg. Feministisches Forschen und männliche Perspektiven. ........................ 7 Christoph Creutziger, Münster Über die „Entkörperung des soldatischen Mannes“ im Gefüge von Diskurs und Materialität .................................................... 13 Linda Ruppert, Heidelberg Matter matters – Ein Kommentar zu Biologismen, Naturalisierungen und Geodeterminismen ............................................... 16 Matthias Hoenig, Münster Machtvolle Geschlechterstereotype der Entwicklungszusammenarbeit. Oder: Warum die Marketing-Abteilung von Brot für die Welt eine Einführung in die Feministische Politische Geographie braucht. ..................................................... 19 Lilith Kuhn, Freiburg Feminist Political Geographies in the Classroom. Sunčana Laketa in conversation with Julia Messerschmidt .................. 24 Sunčana Laketa, St. Gallen Literatur zum Themenschwerpunkt ............................................................................................................... 27 Lehrveranstaltungen zum Themenschwerpunkt ....................................................................................... 28 Tagungen & Veranstaltungen ............................................................................................................................ 28 Nächste Feministische GeoRundMail: Ausblick und Aufruf .................................................................... 29 Impressum ............................................................................................................................................................... 30 4 | Feministische Politische Geographie Themenschwerpunkt Feministische Politische Geographie Beiträge zum Themenschwerpunkt Janika Kuge, Freiburg Solidarität heißt: No more stolen sisters! Kommentar zum fentliche Interesse darüber unterproportional aus: Wissen- Frauen*kampftag 2018 in Toronto, Kanada schaftlerinnen der Universität British Columbia zeigen, dass die Berichterstattung nicht nur quantitativ geringer ausfällt, wenn das Opfer nicht-weiß ist, sondern häufig auch die Ur- Am 04.März 2018 kamen in Toronto, Kanada mehrere tau- sache des Verschwindens an die Herkunft der Opfer gebun- send Menschen zusammen, um den internationalen den und so die Schuld bei den Opfern selbst gesucht wird Frauen*kampftag mit einer Demonstration zu begehen. Ein (Jiwani und Young 2006). buntes Potpourri aus Plakaten zeugte von einer äußerst ek- lektischen Mischung von Interessen, die sich alle unter der Die Aufarbeitung des Todes von Tina Fontaine3 führte zu ei- ner maßgeblichen politischen Veränderung in Kanada: Un- Flagge des Frauen*kampftags versammelt hatten: von Black ter dem Motto „no more stolen sisters“ wurde öffentlich Lives Matter reichten die Teilnehmer_innen über kurdische, Druck aufgebaut und erstmals eine offizielle staatliche Liste indigene und koreanische Gruppen hin zu Kinderrechtsver- für vermisste indigene Frauen* geführt. Dies soll helfen das bänden, Gewerkschaften, politischen Parteien und zahlrei- Verschwinden überdurchschnittlich vieler Frauen* und che Privatpersonen. Die verschiedenen Interessensgemein- Mädchen* aus der indigenen Bevölkerung zu verhindern schaften zeugten auch von der bemerkenswerten sozialen und die Fälle, wenn möglich, offiziell aufzuklären. Darüber Diversität der Bevölkerung Torontos. Die zentrale Kundge- hinaus löste Justin Trudeau, Kanadas Premierminister 2016 bung betraf ein unerwartetes Thema: Statt des Versuchs die sein Wahlversprechen ein und setzte eine unabhängige unterschiedlichen Gruppen gleichsam anzusprechen, wurde Kommission zur Untersuchung verschwundener indigener die gesamte Redezeit genutzt, um den Tod der indigenen 15- Frauen* (im Rahmen der „truth and reconciliation commis- jährigen Tina Fontaine zu betrauern. Sie wurde 2014 in Win- sion“) ein. Die Situation ist dennoch und vor allem nach dem nipeg misshandelt, ermordet und ihr mutmaßlicher Mörder Freispruch des mutmaßlichen Mörders aufgeladen: nach eine Woche zuvor freigesprochen1. Ihr Tod stand an dieser der Demonstration wurde ein Protestcamp vor dem Rathaus Stelle auch stellvertretend für hunderte weitere verschwun- eingerichtet, was trotz widriger Verhältnisse viele Wochen dene und ermordete indigene Frauen* in Kanada. Das Bestand hatte und auf die desolate Situation indigener Men- Thema rief große Betroffenheit hervor. Offen wurde über schen in Kanada aufmerksam machte. die strukturelle Benachteiligung dieser Frauen berichtet, of- fen wurden die vielen Opfer brutaler politischer und sozia- Ich habe ebenfalls das Protestcamp vor dem Rathaus von ler Vernachlässigung beklagt. Völlig überraschend für mich Toronto besucht und mit den Aktivist_innen vor Ort gespro- wurde das Thema feministisch gefasst und zum Motto poli- chen. Als weiße Politische Geographin mit einem deutschen tischer Forderungen des internationalen Frauen*tags in Ka- Pass habe ich ein gewisses Unwohlsein, bei dem Ansinnen nada. Menschen unterschiedlichster Hautfarbe und sozialer mich aus feministischen Motiven heraus mit den indigenen Realitäten standen zusammen und skandierten „no more Frauen* in eine Linie zu stellen, verspürt: Ihre soziale Posi- stolen sisters!“2 als Zeichen der Solidarität. tion ist doch eine gänzlich andere, als die meine und ihre strukturelle Benachteiligung weit drastischer als die Le- Indigene Frauen* in Kanada sind in mehrfacher Hinsicht vul- bensumstände weißer mitteleuropäischer Frauen*. So nerabel: sie werden mit höherer Wahrscheinlichkeit Opfer stellte ich die Frage, was ich denn tun könne, um diesen Pro- von Gewalt und Menschenhandel; sie sind unterdurch- test zu unterstützen mit einiger Zögerlichkeit. Von der Of- schnittlich gebildet, einkommensschwach und überdurch- fenheit der Antwort wurde ich überrascht: „Just join in and schnittlich abhängig von staatlichen Hilfen. Darüber hinaus open up your heart to the situation of our sisters!“ Ist es ist die Anzahl indigener Frauen*, die verschwinden, drei- bis nicht despektierlich als weiße Mitteleuropäerin von viermal so hoch als bei nicht-indigenen. Dagegen fällt das öf- Schwesternschaft mit indigenen Frauen* zu sprechen, mit 1 Vgl. z.B. David Millward (2018). 3 Der Fall Tina Fontaine ist der aktuellste in einer langen Reihe verschlepp- ter, vermisster, vergewaltigter oder ermordeter junger indigener Frauen* 2 Unter diesem Motto fanden in Kanada zahlreiche politische Proteste statt, in Kanada und steht im Moment auch stellvertretend für die vielen anderen die Gerechtigkeit und Aufklärung in diesen Fällen fordern und die Arbeit Opfer der Unterdrückung indigener Frauen*. (z.B. Freeman, Alan (2016)). der unabhängigen Kommission der kanadischen Regierung kritisieren. 5 Feministisches Geo-RundMail Nr. 75 | April 2018 ihnen und gar für sie zu sprechen? Was für einen Feminis- heißt das jedoch nicht, dass meine Erfahrungen in irgendei- mus, was für eine Politische Geographie brauchen wir, um ner Form gleichzusetzen sind mit den Erfahrungen der an- diesem Phänomen zu begegnen? deren Frauen*. Ganz im Gegenteil bedeutet das, dass wir auf Der Ansatz der Intersektionalität, aus den 1980er Jahren, politischer Ebene für das Gleiche kämpfen können, während bietet Antworten auf die Komplexität von Benachteiligungs- unsere sozialen Alltagserfahrungen weit auseinanderklaf- situationen. Frauen* mit verschiedenen sozialen, ethnischen fen, denn es geht um viel mehr. und ökonomischen Hintergründen erfahren höchst unter- Feminismus braucht Sichtbarkeit. Sichtbarkeit heißt politi- schiedliche Formen der Unterdrückung, so Kimberle sche Bewegung und Solidarität. Oft genug wird der Begriff Crenshaw. Sie nennt dies „Multidimensionalität“ und fordert „Solidarität“ mit Betroffenheit verwechselt, oft genug wird einen Feminismus, der Unterschiede zwischen Lebensreali- Solidarität an Erfahrungshorizonte und eine vermeintliche täten und Vulnerabilitäten anerkennt, statt diese zu einem Authentizität des Erlebens von Ungerechtigkeit geknüpft. „Einheitsfeminismus“ zu glätten (Crenshaw 1989). Unter- Dadurch wird diese zu etwas Exkludierenden und zu ihrem drückungsmechanismen von Geschlecht, Klasse und Ethni- eigentlichen Negativbild. Mollett und Faria fragen: „Ist es zität sind unterschiedlich wirksam und treten oft gleichzei- nicht möglich, dass Solidarität durch Dialog und aufgeheizte tig auf: eine weiße Frau* der westlichen Unterschicht macht Debatte definiert wird, durch Kompromiss und Stillstand, beispielsweise andere Erfahrungen, als eine schwarze Frau* durch Einmischung und Loslösung, durch Nähe und Zurück- oberer Gesellschaftsschichten im Fernen Ostens. Beide er- haltung?“4 (2018: 9). Mit anderen Worten: Eine feministi- leiden verschiedene Formen der Unterdrückung. Die Sensi- sche Gemeinschaft ist keine globale „Mystik eines universel- bilisierung für die verschiedenen Formen der patriarchalen len Frauseins“ (Sanders 1990: 229) sondern muss prozess- Unterdrückung soll die Bewegung nicht zersplittern, son- haft immer wieder neu hergestellt werden. Es geht final da- dern dazu dienen die Vielfalt (von Unterdrückungssituatio- rum Solidarität als etwas Gemeinsames erfahrbar zu ma- nen) zu verstehen und gleichzeitig politische und struktu- chen, z.B. durch Proteste, wie den Frauen*kampftag. (Utopi- relle Ungleichheiten aufzudecken (Mollett und Faria sches) Ziel unserer Kämpfe sollte dabei immer die Abschaf- 2018:7). fung des binären Geschlechterverhältnisses, und mit ihm al- Es ist wichtig sich einzugestehen, dass es schwierig ist mit ler Unterdrückungsverhältnisse sein. Eine feministische Po- Menschen zu kämpfen, mit denen man nicht mehr als das litische Geographie hilft dabei hegemoniale Machtstruktu- Geschlecht teilt. Aber genau das ist der Punkt: Feminismus ren aufzudecken und zu kritisieren – sie gehört aber auch als politische Bewegung macht das Geschlecht zu einem Po- auf die Straße. Feministische Politische Geographie darf Un- litikum, zu etwas Streitbarem, zur gemeinsamen Ursache vielgestaltiger Unterdrückung und ermöglicht damit trotz terdrückung nicht nur feststellen und zum Gegenstand ihrer großer Unterschiede füreinander einzustehen. Die Katego- Forschung machen, sondern muss diese auch anklagen und rie „Geschlecht“ ist eine politische, so Judith Butler (2007: solidarisch fordern: no more stolen sisters! 15f.) und die herrschenden Machtregime stellen diese Kate- gorien erst her (2007: 16). Frau* ist keine per se biologische Quellen: Kategorie, sondern eine Form gesellschaftlicher Subjektivie- Crenshaw, Kimberle (1989): “Demarginalizing the Intersec- rung. Diese kann je nach Herkunft, Region, ethnischer Zuge- tion of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidis- hörigkeit etc. verschiedene Ausformungen haben, läuft je- crimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Poli- doch immer auf eine spezifische Form des Subjekts „Frau“ tics.” The University of Chicago Legal Forum 1989 (1): 139– hinaus. Das beinhaltet gleichsam die patriarchalen Unter- 167. drückungsmechanismen, die zwar ebenfalls vielfältig, doch Butler, Judith (2007): Gender Trouble: Feminism and the immer in einem hierarchischen Gefälle zum jeweiligen weib- Subversion of Identity, London, Routledge. lichen* Subjekt sind. Freeman, Allan (2016): David Millward (2018): the mytery Der verbindende Schlüssel zwischen den Menschen of 1000 missing and murdered indigenous women, in: (Frauen*), die Teil dieses Subjekts sind, ist Solidarität. Das Washington Post, online unter: https://www.washing- heißt, dass ich nicht alle Erfahrungen patriarchaler Unter- tonpost.com/news/worldviews/wp/2016/08/04/the- drückung selbst gemacht haben muss, um dieser politischen mystery-of-1000-missing-and-murdered-indigenous- Kategorie „Frau“ anzugehören. Das heißt, dass ich mich im women-in-canada/?utm_term=.ca6f4eeabbbe, 20.04.2018. politischen Sinne solidarisch zeigen kann mit allen anderen Frauen*, weil sie ebenfalls der politischen Kategorie „Frau“ angehören. Im Sinne eines intersektionalen Feminismus 4 Anm.: eigene Übersetzung, Hervorhebung vom Original übernommen. 6 | Feministische Politische Geographie Jiwani, Yasmin; Young, Mary Lynn (2006): “Missing and David Millward (2018): Justice denied for Tina Fontaine and murdered women: reproducing marginality in news dis- Colten Boushie: How their cases illustrate racism in Cana- course”, Canadian Journal of Communication, 31 (4): 867 – dian Courts, in CBC News, http://www.cbc.ca/news/can- 918. ada/manitoba/tina-fontaine-colten-boushie-justice-de- Mollett, Sharlene, and Caroline Faria (2018): ‘The Spatiali- nied-1.4549469, 21.04.2018. ties of Intersectional Thinking: Fashioning Feminist Geo- Sanders, Rickie (1990): “Integrating Race and Ethnicity into graphic Futures’. Gender, Place & Culture 0 (1): 1–13. Geographic Gender Studies.” The Professional Geographer 42 (2): 228–231. Christoph Creutziger, Münster Geopolitik und Emotionen im Neuen Kalten Krieg. Feministisches Artikel zur Geopolitik empfohlenen, wichtigsten Büchern Forschen und männliche Perspektiven. und Aufsätzen sind alle von Männern und bei den Quellen des Artikels stammen ca. 97% von vermutlich männlichen Autoren6. Wikipedia ist hier auch kein Einzelfall – die Ergeb- In diesem Beitrag möchte ich auf essayistische Weise die Be- nislisten und Regale der Uni-Bibliotheken zum Schlagwort deutung feministischen Forschens für die Geopolitik be- „Geopolitik“ sehen nicht anders aus7. Diese Aufzählung be- leuchten – aus einer männlichen, pro-feministischen Per- schreibt aber eben nur den beleuchteten Teil und ist viel- spektive. Beispielhaft unterlegt werden soll dies mit aktuel- leicht selbst Teil des Problems, immer nur dahin zu schauen, ler Forschung zum Neuen Kalten Krieg und der Bedeutung wo die meisten hinschauen. Es gibt auch ein anderes Kaba- von Emotion, Verletzlichkeit und Hoffnung. Es ist also eine rett und eine andere Wissenschaft. Viele Beiträge fehlen Gedankensammlung auf verschiedenen Ebenen und mäand- aber in der Außenwahrnehmung und in einem sich häufig riert zwischen Wissenschaftlichkeit, Selbstzweifel, Rechtfer- selbst referenzierenden Kanon. Zum Teil werden feministi- tigung und vielen offenen Fragen5. sche Beiträge in der Geopolitik auch weiterhin ausschließ- lich als ‚feministisch‘ gelabelt und entsprechend verschlag- Innerer Blick von außen wortet. Eine männliche Geopolitik ist also keine einzige Auch im Jahr 2018 scheint Politik (im administrativen Sinne) Wirklichkeit, sondern ein machtvolles System, das es zu kri- noch eine weitestgehend männliche Domain zu sein. Wie ef- tisieren und hoffentlich auch zu verändern gilt. fektiv Herrschaftsstrukturen hier sind zeigt besonders deut- So möchte ich nun den Blick wechseln: es gibt feministische lich ein Blick auf das große Feld des Über-Politik-Sprechens: Interventionen in die (kritische) Geopolitik, viele, gute, le- Denn wer Politik kommentiert oder parodiert stellt sich in senswerte. Die ganze Breite dieser Auseinandersetzungen gewisser Weise darüber – und im Scheinwerferlicht stehen soll hier nur angerissen werden, da andere – vor allem Pain fast nur weiße Männer. Es gibt unter den zehn meist gesehe- (2009) und Hyndman (2001, 2004) – das schon so gut be- nen US-amerikanischen Late-Night-Shows keine einzige mit schrieben haben. Auch in der deutschsprachigen Debatte hat weiblicher Moderation (Welch, 2018) und auch in Deutsch- dies einige Beachtung gefunden (Fredrich, 2012; Schurr & land ist politisches Kabarett männlich. Abbildung 1 zeigt das Wintzer, 2012; Strüver, 2013). Für meinen Text möchte ich Titelbild einer Website über „Kabarett und Kabarettisten in lediglich ein paar Grundgedanken zum feministischen For- Deutschland“ alle vorgestellten Menschen sind männlich (o- schen mitnehmen. der können zumindest so gelesen werden) – wie auch auf “Feminist in this context refers to analyses and politi- dem Titelbild selbst. cal interventions that address the unequal and often violent relationships among people based on real or perceived differences” (Hyndman, 2001). Grundsätzlich verstehe ich unter feministischem Forschen Abbildung 1: Hier wird gelacht - Ausschnitt der Startseite von kaba- immer auch eine mehrdimensionale Kritik an Bestehendem rettisten-in-deutschland.de mit dem Ziel einer Veränderung. Es geht also nicht nur um Leider ist das in der Wissenschaft – speziell im Feld der Ge- Männer und Frauen, sondern alle Formen sozialer Ungleich- opolitik - nicht anders. Von den über 20 auf dem Wikipedia heiten. Insofern sollte feministisches Forschen nie nur 5 Falls diese Bereiche überhaupt jemals voneinander zu trennen sind. An- 6 de.wikipedia.org/wiki/Geopolitik sonsten bitte ich um Rücksicht und Rückmeldung. 7 ulb.uni-muenster.de (2018), staatsbibliothek-berlin.de (2018) 7 Feministisches Geo-RundMail Nr. 75 | April 2018 Selbstzweck sein, sondern auch marginalisierte Positionen Diese ist also ein Zusatz, für den mein Herz zugegebenerma- sichtbar machen, positioniert, emanzipativ sein und von ßen gerade deutlich mehr schlägt. Herzen kommen. Allgemein formuliert „either qualitative or Einführend möchte ich daran erinnern, dass Kalter Krieg o- quantitative research that is driven by, and aimed toward, a der Ost-West-Konflikte im Allgemeinen vermutlich die pro- desire to challenge multiple hierarchies of inequalities minentesten Bereiche der Geopolitik darstellen und oft als within social life” (Doucet & Mauthner, 2007, S. 42). Beispiel für die Subdisziplin erwähnt werden. Es wurde also Im Feld der feministischen Geopolitik wurden von den oben schon viel gesagt dazu und gleichzeitig scheint das Thema in genannten Autorinnen konkrete Forschungsziele, Methoden den letzten Jahren wieder stark an Aktualität gewonnen zu und Inhalte benannt, die feministisches Forschen auf Geopo- haben. Speziell nach den Konflikten in Georgien und der Uk- litik übertragen. Wobei das Ziel hier eine Erweiterung und raine wurde auch die Beziehung von altem und neuen Kalten kein absoluter Bruch ist. Krieg untersucht (Reuber, 2014). Der Begriff Geopolitik ist „Feminist geopolitics does not promote a new theory diskursiv wieder stark zu Russland gewandert. Andere Er- of geopolitics; it does not usher in a new order of zählungen („Kampf der Kulturen“ (Huntington, 2002), Nord- space, nor advocate an alternative universal standard Süd-Dichotomien) treten derweil in den Hintergrund. Dies of practice.“ (Hyndman, 2004). lässt sich beispielhaft an der Auswertung von großen deutschsprachigen Zeitungskorpora zeigen, die im Rahmen Wenn es also nicht (nur) darum geht eine andere Geopolitik des Projekts gesammelt und ausgewertet wurden und wer- zu schaffen, sondern die bestehende zu ergänzen und neu zu den9. Befunde dieser Art sind spannend - bleiben jedoch in fokussieren, braucht es auch Forschungsgegenstände – oder gewisser Weise Teil der erwartbaren Denklogik. Wenn ich eben: Menschen. In Globalized fear? Towards an emotional dominante geopolitische Leitbilder suche finde ich eben vor geopolitics plädiert Pain dafür, die Dimensionen Körperlich- allem das. Daher möchte ich schauen, was aus Korpusdaten keit, Verortung und Erdung zu nutzen, um eine emotionale weiter generiert werden kann - und dabei Körper, Orte, und Geopolitik zu schaffen (Pain, 2009). Sobald Geopolitik als Emotionen betrachten. Der Wunsch entspringt dabei nicht Diskurs gedacht wird (Ó Tuathail & Dalby, 2006) fällt es auch nur einem allgemeinen Interesse für feministische Ansätze, leichter die Skalierungen der Fragestellung neu zu interpre- sondern auch dem Wunsch nach sinnvollen, spannenden, tieren. Geopolitik ist eben nicht nur Politische Geographie hoffnungsvollen Ergebnissen. Dazu später mehr. auf großer Maßstabsebene sondern kann, wie Laketa in der Geo-Rundmail von August 2017 (Laketa, 2017) zeigt, im Als methodische Erweiterung habe ich neben den oben er- städtischen Kontext stattfinden. Geopolitik betrifft Men- wähnten Zeitungen auch in sozialen Netzwerken (vor allem schen, Körper, Emotionen und nicht nur Karten, Länder und Twitter) nach Beiträgen zum Thema Kalter Krieg, Wahrneh- Erdteile: Sie ist konkret, kontextualisiert und positioniert. Je- mung von Russland in Deutschland und allgemein Ost-West- denfalls die Geopolitik die im Folgenden gemeint ist. Konflikten gesucht. Die Hoffnung ist, dass bei Twitter direk- ter, unmittelbar und unüberlegter kommuniziert wird und so auch emotionale Äußerungen ausgewertet werden kön- Die Suche nach Emotionen in digitalen Haufen nen. Während Zeitungsartikel meist sehr durchdacht sind, Mit diesen Gedanken im Kopf und einem an Laclau/Mouffe werden Tweets oft spontan veröffentlicht. Die Untersuchun- angelehntem Diskursverständnis (Glasze & Mattissek, 2012; gen beziehen jeweils auch Bilder mit ein. Zur Bearbeitung Laclau & Mouffe, 2001) versuche ich die neuen Konzepte von habe ich Wordsmith, MAXQDA, selbstgeschriebene Pro- Kaltem Krieg zu beleuchten. Dies tue ich innerhalb eines For- gramme und zahlreiche Programmbibliotheken für R, PHP schungsprojektes an der Uni Münster. Die Finanzierung und python genutzt. Die hier genutzten Zahlen und Ergeb- durch die DFG8 ermöglicht mir einerseits eine privilegierte nisse beziehen sich - soweit nicht anders benannt - auf eine Arbeitsumgebung und zumindest relativ sichere Jobsitua- Sammlung von rund 1,5 Millionen Tweets zu den relevanten tion. Andererseits liegt dem Antrag eine stärker polit-ökono- Themen von Januar, Februar und März 201810. mische Perspektive zu Grunde, in der kritische Geopolitik zwar stark vertreten ist aber eine Konzentration auf feminis- tischere Perspektiven zunächst nicht finanzierbar erschien. 8„Die Rückkehr der 'Geo'-Politik!? Zur Reaktualisierung geopolitischer Ost- 9 Nicht von mir allein, sondern auch von den studentischen Mitarbeiter_in- West-Leitbilder in der Printmedienberichterstattung über die Konflikte in nen Annika Stremmer, Julian Reinert und Marian Schöffski. Danke! Georgien (2008) und in der Ukraine“ unter Leitung von Paul Reuber (DFG, 10 Bis zu einer genaueren Einlassung dazu gibt es einen Überblick über die 2016), der hier glücklicherweise sehr viel Offenheit für andere, manchmal Datengrundlage etc. hier: ww.topian.org/c (im Aufbau) unbequemere und ungewissere Arbeitsweisen zeigt. 8 | Feministische Politische Geographie Tweets sind kurz – früher 140 jetzt maximal 280 Zeichen Straße gebracht, die gegen Militarisierung und gegen Kalten lang – und oft kryptisch geschrieben11. Sie sind, wie oben er- Krieg protestierten. Die Vorstellung, dass ‚Der Russe vor der wähnt, auch oft so unmittelbar verfasst, dass selbst Tweets Tür steht‘ war sehr direkt. Wenn die Bild heute titelt, dass des US-Präsidenten zahlreiche Rechtschreibfehler enthal- Putin Atom-Raketen auf Europa richtet (Bild, 2.3.2018), ten. Auch fehlen oft klaren Satzstrukturen und so entziehen wird Putin als Idiot beschimpft oder in Twitter-Kommenta- sich vielen klassischen Auswertungsverfahren. Andererseits ren als lächerlich dargestellt (vor 30 Jahren undenkbar?14). sind es so viele – entspricht hier fast 100 000 A4 Seiten – das generelle Tendenzen sichtbar bleiben und auch eine Aus- wertung von Emotionen möglich ist, selbst wenn nur 10 - 25% der Tweets überhaupt zugeordnet werden können. Ins- gesamt behalten die Aussagen eine gewisse Glaubwürdigkeit für die vorgestellten Aspekte. Zudem wurden die Tweets auch gewichtet (z.B. nach likes, retweets) und versucht auf- fällige bots12 (Trolle) herauszufiltern. Die Erfassung von Emotionen wurde vor allem in R vorgenommen. Eine genau- ere Auswertung steht noch aus und bisher habe ich mich vor allem an den s.g. Grundemotionen13 (Ekman, 2008) als Ras- ter orientiert. Das ist sehr vereinfacht. Die Hauptgründe sind einerseits, dass Maschinen insgesamt noch Probleme haben Emotionen (emotions) und nicht nur Stimmungen/Einstel- lungen (sentiments) gut zu erfassen. Andererseits liegt es auch an mir und meinen beschränkten Fähigkeiten des Pro- grammierens. Obwohl ich versuche hier bessere Ergebnisse zu erzeugen sind mir manche Abläufe einfach zu komplex. Um das Thema nicht ganz zu verlassen, möchte ich eine aus- führlichere Methodenauswertung (siehe Fußnote 6) hier Abbildung 2: Emotionen in englischsprachigen Twitter-Beiträgen aus nicht abliefern und stattdessen ein paar inhaltliche (Hypo- Deutschland. Darstellung aus R (Galili, 2016). )Thesen beschreiben. Auch ehemals Friedensbewegte kämpfen heute im Parla- ment eher für eine Truppenverlegung als für eine Abschaf- Sieben Thesen zum Neuen Kalten Krieg und Emotionen fung der Armee. (1) Eine erste These ist, dass der Neue Kalte Krieg als diskur- (2) Eine zweite These lässt sich vereinfacht als Russland = sive Vorstellung (geopolitisches Leitbild) zwar wirkmächtig Putin beschreiben. Die Berichterstattung dazu ist beeindru- ist, aber anders wirkt als früher. Er ist weniger unmittelbar ckend eindeutig. Putin wird zum Synonym für Russland und körperlich und betrifft andere Emotionen als noch vor 30 Russland dadurch zugleich überraschend körperlich – nicht Jahren. Twitter-Kommentare wie auch die Berichterstattung mehr nur als „russischer Bär“ sondern als Man der mit nack- in Printmedien zeigen eine Verschiebung von Angst/Furcht tem Oberkörper durch Sibirien reitet. In Überschriften ist so- zu Verachtung. Russland ist böse – aber nicht mehr Teil eines gar von „Putinland“ (Bild, 14.10.17) und anderen Vereinfa- als direkt und körperlich empfundenen, bedrohlichen, all- chungen die Rede (Creutziger, 2017). Diese Denkfigur ist si- umfassenden Konflikts. Die meisten negativ/verächtlichen cherlich sehr bedrohlich, weil sie Millionen von Menschen Emotionen in Tweets beziehen sich auf Putin und Russland. mit einem Menschen gleichsetzt. Sie hilft aber auch auf der Einen Hinweis auf die veränderte Körperlichkeit des neuen anderen Seite eine bewunderbare Person zu schaffen und Kalten Krieges ist auch das Fehlen von Protest. Der NATO- stärkt die Erzählung von Putin als „starkem Mann“15. Doppelbeschluss von 1979 hat Millionen Menschen auf die 11 Z.B.: #Hölle, #Tod #Teufel!!!: Mit #GroKo zum #Außenminister #Heiko- 13 Vereinfacht gesagt sind das: Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Trau- Maas??? Mit #FlintenUschi #Krieg gegen #Russland #anzetteln? #Wahr- rigkeit und Überraschung (Ekman, 2008; Galili, 2016) scheinlich können wir auch #Nordstream2 #vergessen! #Justizverdre- 14 Leider ist es sehr schwer große Mengen persönlicher Kommentare von her/#Kartelldiener macht #Karriere - #Deutschland #kaputt! vor 30 Jahren zu beschaffen - die Auswertung dieser Zeit stützt sich also auf (ID970967618030047232) Zeitungsartikel und vergleicht in gewisser Weise Äpfel mit Birnen - immer- 12 Bots sind bei Twitter eine gewünschte und viel genutzte Anwendungs- hin beides Obst. form, z.B. von Zeitungen, Blogs und für Werbung. Sie sind nicht generell 15 Bedrohlich auch, weil dadurch in der Presse übliche Formulierungen wie schlecht und ich filtere sie auch nicht für alle Teilfragen heraus. „Gewalt gegen sein eigenes Volk“ Fundament finden. 9 Feministisches Geo-RundMail Nr. 75 | April 2018 (3) So ist die dritte These eine Vervollständigung der ersten: und abwesende, weniger hör- und sichtbaren Stimmen her- Russland/Putin wird zwar verachtet aber zugleich geliebt. vorheben. Bei Twitter sind Bilder, die sich über Russen/Russland lustig (5) Eine nicht in Zahlen abbildbare Vermutung ist zudem, machen und solche, die Bewunderung ausdrücken die be- dass der klassische/historische Kalte Krieg zumindest in liebtesten. Irgendwo dazwischen rangieren only-in-russia- Deutschland nie emotional aufgearbeitet wurde. Das beginnt Witze. In solchen Witzen – und es gibt tausende davon auf zum Teil schon in der Schule, wo auch die Geschichte der Tei- Twitter – werden meist Bilder oder Meldungen aus Russland lung – wenn überhaupt – nur sehr allgemein Thema ist. Auch kommentiert, in denen etwas besonders Archaisches ge- gibt es viel weniger Schüler_innenaustausche nach Osten als schieht. Soziale Medien sind hier deutlich anders als z.B. in alle anderen Himmelsrichtungen. All die emotionalen Ein- klassische große Printmedien in Deutschland. In diesen wird schreibungen, hegemonialen, diskursiven Verbindungen Putin seit der Ukrainekrise nur noch negativ und z.B. fast nie und aufgebauten Feindschaften werden aber auch in politi- mehr lächelnd dargestellt16. Die argumentative Grundlage schen Debatten und (Zeitungs-)Beiträgen kaum bearbeitet. bzw. diskursive Verknüpfung ist dabei ähnlich, egal ob es Die falschen Essentialisierungen und Dichotomien der Nazi- sich um Boulevardpresse (Bild) oder Qualitätspresse (Süd- Zeit wurden verständlicherweise viel mehr bearbeitet. Das deutsche, Welt, Zeit) handelt. Russische Politik ist negativ in Othering in Bezug auf Russland hingegen kaum. Dabei wäre einem absoluten Sinne. Russland als „Elephant in the room des Orientalismus“ (4) Gemeinsam aber ist auch hier ein männlicher Blick: Bei (Henderson, 2003; Said, 2009) ein so wichtiges Thema. Die Twitter äußern sich zu den relevanten Themen stets min- Brüche in der Beurteilung ‚der Deutschen‘ zu Zeiten des Fa- destens 2/3 männliche Nutzende (Kalter Krieg (80%), Russ- schismus und heute sind beinahe überbetont im Vergleich land (76%) Putin (69%)). Zwar sind Kommentare bei Twit- der einheitlichen Wahrnehmung der ‚russischen Seele‘ über ter generell eher Ausrufeplätze männlicher User – aber in die Jahrhunderte. Die Wahrnehmung Russlands enthält also anderen Themen sind die Unterschiede deutlich geringer noch immer eine kraftvolle Mischung aus Zarenreich, Sow- (USA (52% - 48%, jeweils m – w, bezogen auf die erfolgreich jetunion, eisiger Kälte und starkem Mann. Der Osten bleibt geratenen Geschlechter), Glück (50% - 50%), #metoo (60% unverständlich, anders und damit Projektionsfläche für viel- - 40%). Dass diese Angaben so binär erscheinen, liegt auch fältige Bilder, Vorstellungen und Stereotypen (siehe oben). an den Auswertungsalgorithmen, bei denen Geschlecht letzt- (6) Letztlich münden diese Thesen wiederum in eine wei- lich über den Namen geraten wird. Bei ca. 55% der Tweets tere: „the danger of a single story“ (Adichie, 2009). Es wer- bleibt das Geschlecht unbekannt denn Twitter selbst erfasst den zwar divergierende Geschichten von Russland erzählt Geschlecht nicht als Kategorie, die etwa bei der Anmeldung aber immer nur eine. Russland ist nur böse oder nur gut19 (je angegeben werden muss oder kann. Bei den Zeitungen gibt nach Blickwinkel, jedoch sehr deutlich nicht gleichmäßig es nur im Spiegel überhaupt weibliche Stimmen zur Politik verteilt). Chimamanda Ngozi Adichie beschreibt in ihrem Russlands – bei Zeit und Welt gar nicht. Das Anfangs be- TED-Talk wie gefährlich es ist, wenn nur eine Geschichte schriebene Ungleichgewicht des Über-Politik-Sprechens Platz hat. Wie sehr dadurch Stereotypen erzeugt werden, wird also auch hier sehr sichtbar. Es geht mir auch nicht um von denen nicht mal mehr bemerkt wird, dass es Stereoty- eine Erbsenzählerei, sondern darum, offen zu legen, was pen sind. Es ist die einzige Wahrheit im Denken. Und es ist überhaupt untersucht wird und wie sehr ein Diskurs be- folgerichtig, dass beim Eurovision Song Contest russische schrieben oder durch die Anrufung spezifischer Perspekti- Musikerinnen ausgebuht werden – weil sie eben alles auf ven immer wieder neu geschrieben wird. Doch nicht nur einmal sind und nur das und für die Besetzung der Krim ir- männliche Perspektiven sind hier enorm überrepräsentiert: gendwie mitverantwortlich gemacht werden (tagesspiegel, in sozialen Netzwerken sind politische Einstellungen insge- 2014). Das Phänomen der „single story“ wird in sozialen samt anders verteilt als etwa bei Wahlen. So ist die AFD-Seite Netzwerken noch dadurch verstärkt, dass bei facebook, twit- bei facebook beliebter als die von SPD und CDU zusammen17. ter, instagram und Co. eben die Geschichten erscheinen die Eine quantitative, feministische Perspektive18 auf Geopolitik mensch mag. Der „confirmation bias“ (Nickerson, 1998) sollte hier also auch an dem offensichtlichen vorbeischauen wird also verstärkt durch eine Art authority shopping: Es ist leicht eine Bestätigung für seine Meinung zu finden. Viel 16 Diese Aussage bezieht sich auf die New York Times – über die API der 17 likes Stand März 2018: AFD 395000, SPD 187000, CDU 180000; likes sind Zeitung habe ich mir alle Bilder in Artikeln über Putin ausgeben lassen und ein stärkeres Zeichen von Zustimmung als z.B. abonnieren (folgen). über die Jahre verglichen. Weniger vollständig habe ich auch Spiegel, Welt 18 Die vorgestellten Methoden sind eher quantitativ – was auch problema- und Bild betrachtet. Zeitungen benutzen in Zeiten in denen pro Anlass tau- tisch ist. Die Interpretation stützt sich aber auch auf Aussagenanalysen. sende Photos gemacht werden häufig Bilder der gewünschten Wirkung 19 um das noch einmal deutlich zu machen: besonders innerhalb einer völ- statt Karikaturen. kischen und neu-rechten Bewegung; bei Anhängern von AFD und PEGIDA. 10
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