DIE STAATLICHE SOZIALPOLITIK IM RUHRBERGBAU 1871-1914 WISSENSCHAFTLICHE ABHANDLUNGEN DER ARBEITSGEMEINSCHAFT FüR FORSCHUNG DES LANDES NORD RHEIN-WESTFALEN Band 4 HANS GEORG KIRCHHOFF Die staatliche Sozialpolitik im Ruhrbergbau 1871-1914 HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAGE DES MINISTERPRÄSIDENTEN FRITZ STEINHOFF VON STAATSSEKRETÄR PROFESSOR Dr.h.c. Dr. E.h. LEO BRANDT Die staatliche Sozialpolitik im Ruhrbergbau 1871-1914 von Hans Georg Kirchhoff Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Das Manuskript wurde am 17. Juli 1957 der Arbeitsgemeinsmaft für Forsmung des Landes Nordrhein-Westfalen von Prof. Dr. Peter Rasso'UJ vorgelegt ISBN 978-3-663-00322-9 ISBN 978-3-663-02235-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-02235-0 © 1958 Springer Fachmedien Wiesbaden Urspr1lnglich erschienen bei Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1958. Soft<over reprint of the hardcover 1S I edition 1958 INHALT Vorwort 7 Erstes Kapitel Die Zeit der staatlichen Regie und der Durchbruch liberaler Wirtschafts formen 9 Zweites Kapitel Die Aufhebung des Koalitionsverbotes 18 Drittes Kapitel Sonntags-, Frauen-und Kinderarbeitsschutz 40 Viertes Kapitel Das Knappschaftswesen . . . . 45 Fünftes Kapitel Der Bergarbeiterstreik von 1889 48 Sechstes Kapitel' Berlepsch und der Neue Kurs . . 96 Siebentes Kapitel Die Reform der staatlichen Bergaufsicht 123 Achtes Kapitel Zechenstillegungen im Ruhrtal. Verstaat- lichungsbestrebungen 131 Neuntes Kapitel Der zweite große Streik 137 Zehntes Kapitel Die Gründung des Zechenverbandes 160 Elftes Kapitel Unglücksverhütung und Arbeiterkontrolle. Der Streik von 1912 168 Aktenverzeichnis 177 Literatur 177 VORWORT Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis eines Forschungsauftrages, den mir die Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-West falen auf Antrag von Herrn Professor Dr. Peter Rassow erteilt hatte. Ihr Ziel war es, die sozialpolitische Haltung der staatlichen Behörden im Ruhr gebiet in der Zeit herauszuarbeiten, in der der Kohlenbergbau an der Ruhr in sozialer wie wirtschaftlicher Hinsicht sein charakteristisches Gepräge erhielt. So stützt sie sich im wesentlichen auf das Quellenmaterial der staat lichen Archive in Düsseldorf, Münster und Koblenz. Soweit es an Hand der Empfängerüberlieferung und gedruckter Quellen möglich war, wurde die Stellung der Staatsregierung zu den sozialpolitischen Problemen des Ruhr bergbaus geschildert; in diesem Punkt ist auf Grund der Quellen in den Zentralarchiven des Reichs und Preußens gewiß noch einiges nachzutragen. Auch die überlieferung der benutzten Archivalien ist im einzelnen nicht lückenlos, doch konnte meist durch gegenseitige Ergänzung ein geschlossenes Bild gewonnen werden. Das Thema der Arbeit ist vom Staate her bestimmt. Es sollte keine Geschichte der "Lage der Arbeiter" gegeben werden, sondern eine Ge schichte der Politik des Staates gegenüber den sozialen Problemen, die der Ruhrbergbau aufwarf. Diese sind deshalb nur insoweit behandelt, als sie politisch relevant wurden; aus diesem Grunde ist ein Gebiet wie das Knapp schaftswesen etwa oder auch die gesamte betriebliche Sozialpolitik nur gelegentlich berücksichtigt. Die wichtigen soziologischen Fragen der Bevöl kerungsumschichtung und die Entwicklung der Arbeiterbewegung sind be reits von Wilhelm Brepohl und Max ]ürgen Koch geschildert worden, so daß sich ein näheres Eingehen auf diese Dinge erübrigte. Den Verwaltungen der Staats archive in Düsseldorf, Münster und Ko blenz sowie des Historischen Archivs der Stadt Köln danke ich für die freundliche Hilfe, die sie mir bei meiner Arbeit zuteil werden ließen, ebenso Herrn Prof. Rassow in Köln für seine wohlwollende Unterstützung. Erstes Kapitel DIE ZEIT DER STAATLICHEN REGIE UND DER DURCHBRUCH LIBERALER WIRTSCHAFTSFORMEN Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Ruhrbergbau die charak teristischen Züge behalten, die ihm die merkantilistische Epoche verliehen hatte. Ungeachtet der Tatsache, daß der preußische Fiskus keineswegs Eigentümer der Bergwerke war, wurde der Bergbau als reiner Regiebetrieb geführt: Die Bergbehörde schrieb Art und Umfang des Abbaus vor, ordnete die Verkaufspreise an und sorgte für den Absatz der Produkte; ebenso legte sie die Bergleute an und ab, bestimmte Arbeitsort und -zeit und setzte die Lohnhöhe fest 1. Die Stellung der Bergleute war in mancher Hinsicht hervorgehoben. Ab gesehen von der - während der französischen Herrschaft abgeschafften - Militär- und Abgabenfreiheit galt für sie eine Normalarbeitszeit von 8 Stunden, ein Normallohn und ein Recht auf Arbeit. Besondere Bedeutung aber besaß die Einrichtung der Knappschaftskassen, die ebenfalls aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammte und später zu einem Vorbild der Bis marckschen Sozialversicherung wurde. Es gab zwei Arbeiterkategorien, die sich scharf unterschieden: die "Knapp schaftsgenossen", die sich noch in Bergleute erster und zweiter Klasse glie derten, und die "Bergtagelöhner" , die nicht der Knappschaft angehörten. Diese letzteren setzten sich aus den Anfängern im Bergbau und den unständig Beschäftigten zusammen. Die Vorrechte der Knappschaftsgenossen bestanden 1 "Die Annahme und Entlassung der Berg- und Hüttenarbeiter, Steiger und anderer Bergbediensteten kommt lediglich dem Bergamte zu" (Allg. Preuß. Landrecht, Teil 11 Tit. 16 § 307). "Besonders schließen die (von den Eigentümern vorgesmlagenen und vom Staate bestätigten und verpflimteten) Smimtmeister 'im Namen der Gewerken (der Eigentümer) unter Aufsimt der Gesmworenen (der staatlimen Beamten) die Kontrakte mit den Arbeitern" (a. a. O. § 315). Die Abhängigkeit der Bergleute ging so weit, daß sie an den Heiratskonsens der Bergbehörde gebunden waren. Die privaten Eigentümer der Gruben hießen Gewerken; oft smlossen sim mehrere Ge werken zu Gewerkschaften zusammen, die also mit den späteren Vereinigungen der Ar beiter nichts zu tun haben. In der Zeit des staatlimen Regiebetriebes hatten die Gewerken lediglim das Recht auf einen Teil der Einkünfte aus dem Kohleverkauf; auf die Gestal tung des Betriebes hatten sie bis zur Jahrhundertmitte keinen Einfluß. "An- und Ablegen" bedeutet im Bergbau Annahme und Entlassung der Arbeiter. 10 Erstes Kapitel einmal im Recht auf Arbeit; wenn wegen Arbeitsmangel Leute ent lassen wurden, so mußten zuerst alle Tagelöhner abgelegt werden, bevor ein Bergmann zweiter oder gar erster Klasse an die Reihe kam. Zum zwei ten genossen sie die Leistungen des Knappschaftsinstituts, von dem die Tagelöhner ausgeschlossen blieben 2. Trotz der politischen Reaktion in Preußen gelang es dem wirtschaftlichen Liberalismus im Jahre 1851, die erste Bresche in das staatliche Direktions system zu schlagen Im Gesetz vom 12. Mai 1851, dem sogenannten Mit 3. eigentümergesetz, wurde den Gewerken die Leitung ihrer Betriebe großen teils zurückgegeben und in bezug auf die Bergleute die Zuständigkeit der Bergbehörde auf die Knappschaftsgenossen beschränkt, deren Vorrechte im übrigen bestehen blieben. Die "Tagelöhner" aber unterlagen fortan nicht mehr den Beschränkungen, die für die privilegierte Arbeiterklasse galten und denen sie bisher, ohne die entsprechenden Vergünstigungen zu genießen, ebenfalls unterworfen waren. Sie konnten nunmehr ihren Arbeitsplatz nach Belieben wechseln und - da für sie kein Normallohn mehr festgesetzt war - höheren Verdienst, bis zum Doppelten des bisherigen, erlangen. Außerdem durften sie nunmehr eine Zeche, die ihnen wegen zu großer Entfernung vom Wohnort, beschwerlicher Arbeit oder schlechten Verhältnisses zu den Grubenbeamten nicht mehr zusagte, ohne weiteres verlassen und zu einer anderen überwechseln; alles Vorteile, die natürlich nur in einer Periode aufsteigender Konjunktur eintraten, dann aber um so augenfälliger waren, weil dem Recht auf Arbeit und Normallohn in einer solchen Zeit keine praktische Bedeutung zukam. Die Knappschaftsgenossen dagegen mußten auf dem Arbeitsplatz, der ihnen vom Revierbeamten angewiesen wurde, bleiben und sich mit dem vorgeschriebenen Lohn begnügen. Dem liberalen Wirtschaftsdenken, das in den 50er Jahren seinen Einzug in den Ruhrbergbau hielt, mußte die Unmöglichkeit, einen weniger lei stungsfähigen Arbeiter zu entlassen oder ihn unter dem Normaltarif zu entlohnen, ein ständiger Anstoß sein, den es zu beseitigen galt '. So fiel 2 Für diese bestand allerdings ein eigener Fonds, der den Charakter einer Kranken kasse besaß. über die näheren Einzelheiten des Knappschaftswesens vgl. unten S. 45. 8 Zwischen 1849 und 1853 fällt die erste Gründerperiode an der Ruhr, in der die ersten großen Gesellschaften entstehen: Kölner Bergwerksverein, Dahlbusch, Concordia, Hibernia, Shamrock. 1858 wurde der "Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamts bezirk Dortmund" gegründet, der erste Unternehmerverband Deutschlands. Vgl. Agnes Prym, Staatswirtschaft und Privatunternehmung in der Geschichte des Ruhrkohlen bergbaus, Essen 1950, S. 23 H. , "Es liegt gegenwärtig nicht in der Macht der Gewerkschaften, vorzugsweise diejeni gen Arbeiter zu beschäftigen, welche durch ihren Fleiß und ihre Tüchtigkeit im Stande Staatlidte Regie und Durdtbrudt liberaJer Wirtschaftsformen 11 1860 mit dem »Freizügigkeitsgesetz" auch die bevorrechtete Stellung der 5 Knappschaftsgenossen und damit die direkte Einflußnahme des Staates auf die Gestaltung des Arbeitsverhältnisses. In der Sicht der Zeit war die staat liche Aufsicht ein alter Zopf, der nun glüdclich abgeschnitten werden konnte; das natürliche Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitneh mern, das sich im Laufe der Jahrhunderte verwischt habe, sei nun wieder hergestell t 6. Dieses natürliche Verhältnis glaubte man in der Lehre vom Arbeitsver trag umschreiben zu können. Nach dieser grundlegenden Anschauung des wirtschaftlichen Liberalismus stehen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich als gleichberechtigte Partner, und zwar einzeln, gegenüber. Sie gehen bei der Arbeitsaufnahme einen Vertrag miteinander ein, in dem Rechte und Pflich ten auf beiden Seiten gleich sind. Allerdings entsprach das Freizügigkeitsgesetz noch nicht ganz dieser Lehre. Der Regierungsentwurf sah in § 18 Geld- und Gefängnisstrafen vor für solche Bergleute, die ohne gesetzliche Gründe eigenmächtig die Arbeit verließen oder sich groben Ungehorsams oder beharrlicher Widerspenstig keit schuldig machten, eine Bestimmung, die der Gewerbeordnung von 1845 entnommen war und noch den Geist staatlicher Wirtschaftsregelung atmete. Die zweite Kammer entfernte diesen Paragraphen, weil er der Grundidee des Arbeitsvertrages zuwiderlief, nach der nur Konventionalstrafen zu gelassen sein dürften. Im übrigen könne von »grobem Ungehorsam und beharrlicher Widerspenstigkeit" nur die Rede sein, wenn ein Untertänig keits- oder Unterwürfigkeitsverhältnis vorliege Das Herrenhaus fügte 7. die Vorschrift jedoch wieder ein, und die zweite Kammer ließ sie passieren, um nicht das ganze Gesetz zu gefährden. Eine zweite Bestimmung, die nicht der Theorie vom freien Arbeitsver trag entsprach, ordnete an, daß die von den Bergwerkseigentümern eventuell sein würden, trotz niedriger Löhne sidt einen ausreidtenden Lebensunterhalt zu erwerben; es ist vielmehr der Fall nidtt selten, wo gerade die leistungsfähigsten Bergleute zugunsten älterer, aber weniger braudtbarer Knappsdtaftsmitglieder abgelegt werden müssen. Wäh rend auf allen anderen Gebieten der Industrie die unvermeidlidten Nadtteile einer Krise wie die gegenwärtige zwisdten dem Arbeitgeber und den Arbeitern geteilt werden, ist eine soldte Teilung auf dem Gebiete des Bergbaues durdt die Privilegien der bevorzugten Klassen unmöglidt gemacht" (Eingabe des Bergbauvereins an das Oberbergamt in Dort mund vom 29. 6. 1859; bei Ernst Jüngst, Festsdtrift zur Feier des 50jährigen Bestehens des Vereins für die bergbaulidten Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund, Essen 1908, S. 59). S Gesetz vom 21. Mai 1860. 6 Kommissionsberidtt im preußisdten Abgeordnetenhaus am 28. 2. 1860. 7 Sitzung vom 28. 2. 1860.