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Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 2. Falsche Propheten PDF

835 Pages·1991·2.92 MB·german
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Karl R. Popper Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2 UTB Francke U4-Text: «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» ist – so schrieb Bertrand Russell anläßlich der ersten Ausgabe – ein Werk von größter Bedeutung, das es verdient, wegen seiner mei- sterhaften Kritik der Feinde der Demokratie in weiten Kreisen gelesen zu werden. Poppers Angriff auf Platon ist unorthodox, aber mei- ner Meinung nach völlig gerechtfertigt. Seine Analyse von Hegel ist vernichtend. Marx wird mit gleichem Scharfsinn untersucht, und sein Anteil an der Verantwortung für das zeitgenössische Unheil wird festgestellt. Das Buch ist eine kraftvolle und tiefschürfende Verteidigung der Demokratie. «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» erhielt den Lippincott-Preis für 976 von der American Political Science Association. 2004-04-20 Nicht zum Verkauf ! Karl R. Popper Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II Falsche Propheten Francke Verlag München Titel der Originalausgabe: The Open Society and Its Enemies, II. The High Tide of Prophety. (Routledge and Kegan Paul, London) Übersetzt von Dr. P. K. Feyerabend. In der englischen Ausgabe sind die Kapitel der beiden Bände von  bis 25 numeriert. In der deutschen Ausgabe sind die Kapitel des ersten Bandes von  bis 0 numeriert und die des zweiten Bandes von  bis 5. Deutsche Ausgabe © 958 A. Francke Verlag, Bern 6. Auflage 980 A. Francke Verlag GmbH, München Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-7720-276-0 Einbandgestaltung: A. Krugmann, Stuttgart Der Aufstieg der orakelnden Philosophien Erstes Kapitel: DIE ARISTOTELISCHEN WURZELN DES HEGELIANISMUS Eine Geschichte der Idee des Historizismus und seines Einflusses auf die totalitäre Staatstheorie zu schreiben ist eine Aufgabe, die hier nicht einmal begonnen werden kann. Ich muß daher den Leser daran erinnern, daß das, was ich hier zu bieten habe, nicht mehr ist als einige verstreute Bemerkungen, die den geschichtlichen Hintergrund der modernen Formen dieser Ideen beleuchten sollen. Die lange Geschichte ihrer Entwicklung darzustellen, insbesondere während des Zeitraumes zwischen Platon und Hegel oder Marx, ist eine Aufgabe, die über den Rahmen dieses Buches weit hinausgeht. Ich werde daher Aristoteles nur insoweit behandeln, als seine Fassung des platonischen Essentialis- mus den Historizismus von Hegel und damit auch den von Marx beeinflußt hat. Wenn wir uns darauf beschränken, nur jene aristotelischen Ideen und Probleme zu behandeln, die uns von unserer Kritik Platons her einigermaßen vertraut sind, so bedeutet das keinen so großen Verlust, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Denn Aristoteles war trotz sei- ner erstaunlichen Gelehrsamkeit und seines überraschend Kapitel 1: Aristotelische Wurzeln des Hegelianismus 5 weiten Gesichtskreises kein besonders origineller Denker. Was er dem platonischen Gedankenkreis hinzufügte, war hauptsächlich eine systematische Darstellung und ein brennendes Interesse an empirischen und insbesondere an biologischen Problemen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß er der Erfinder der Logik ist ; und dafür, wie auch für seine anderen Errungenschaften, verdient er voll und ganz, was er selbst (am Ende seiner Sophistischen Widerlegun- gen) zu erlangen hoffte – unseren vollen Dank und unsere Nachsicht mit seinen Unzulänglichkeiten. Aber für Leser und Bewunderer Platons sind diese Unzulänglichkeiten leider schwer zu übersehen. In einigen der spätesten Schriften Platons können wir einen Widerhall der zeitgenössischen politischen Ent- wicklungen in Athen vernehmen – der Konsolidierung der Demokratie. Es scheint, daß selbst Platon zu zweifeln begann, ob sich nicht doch die Demokratie in der einen oder der anderen ihrer Formen als eine bleibende Ein- richtung für immer verankert habe. Bei Aristoteles finden wir Andeutungen, aus denen zu ersehen ist, daß er den bleibenden Sieg der Demokratie nicht länger bezweifelte. Obgleich kein Freund der Demokratie, nimmt er sie doch als unvermeidlich hin und ist zu Kompromissen mit dem Feinde bereit. Eine Neigung zu Kompromissen, die sich auf merkwür- dige Weise mit der Neigung paart, bei Vorgängern und Zeitgenossen (und insbesondere bei Platon) Fehler zu finden – das sind die hervorstechendsten Merkmale der 6 Der Aufstieg der orakelnden Philosophien alle Wissenschaften umfassenden Schriften des Aristoteles. Sie zeigen keine Spur des tragischen und aufwühlenden Konflikts, der der Beweggrund des platonischen Werkes ist. Anstelle aufhellender Blitze durchdringender Einsicht, die für Platon so charakteristisch sind, finden wir hier nur trockene Systematisierung und die von so vielen zweit- klassigen Schriftstellern späterer Zeiten geteilte Neigung, jede Frage durch ein «gesundes und gerechtes» Urteil zu entscheiden, durch ein Urteil, das jedermann Gerechtigkeit widerfahren läßt ; was manchmal bedeutet, daß der strit- tige Punkt mit wichtiger Mine verfehlt wird. Diese auf die Dauer ermüdende Gewohnheit, die Aristoteles in seiner berühmten «Lehre von der Mitte» systematisiert hat, ist eine der Quellen seiner oft an den Haaren herbeigezogenen und manchmal inhaltsleeren Kritik an Platon . Ein Beispiel für seinen Mangel an Einsicht, in diesem Fall historischer Ein- sicht (Aristoteles war auch ein Historiker), ist die Tatsache, daß er sich mit der scheinbaren Konsolidierung der Demo- kratie in Griechenland gerade in dem Augenblick abfand, in dem die Demokratie der imperialistischen Monarchie Mazedoniens hatte weichen müssen – ein Stück Geschichte, das seiner Aufmerksamkeit entgangen war. Aristoteles, wie sein Vater ein Höfling am mazedonischen Hofe und von Philipp zum Lehrer Alexanders des Großen gewählt, scheint diese Männer und ihre Pläne unterschätzt zu haben, vielleicht weil er sie zu gut zu kennen glaubte. «Aristoteles hat mit der Monarchie zu Tisch gesessen, ohne sie gewahr zu werden», wie Gomperz treffend bemerkt 2. Kapitel 1: Aristotelische Wurzeln des Hegelianismus 7 Das Denken des Aristoteles ist völlig von den Ideen Platons beherrscht. Wenn auch etwas widerwillig, so über- nahm er doch fast alles von Platon, soweit es eben sein etwas unkünstlerisches Temperament zuließ, und insbesondere die allgemeine politische Einstellung. So unterschrieb und systematisierte er Platons naturalistische Lehre von der Sklaverei 3: «Einige Menschen sind von Natur aus frei und andere sind Sklaven ; für die letzten ist die Sklaverei angemessen und gerecht zugleich … Ein Mensch, der von Natur aus nicht sich selbst gehört, sondern einem anderen, ist von Natur aus ein Sklave … Die Hellenen finden kein Wohlgefallen daran, sich selbst Sklaven zu nennen, sondern sie beschränken die Anwendung dieser Bezeichnung auf die Barbaren … Der Sklave entbehrt jeder Fähigkeit zu denken», während die freien Frauen gerade ein bißchen von dieser Fähigkeit besitzen. (Das meiste, was wir von der athenischen Freiheitsbewegung wissen, verdanken wir der Kritik und den Rügen des Aristoteles. Indem er gegen die Vorkämpfer der Freiheit argumentierte, bewahrte er einige ihrer Äußerungen auf.) In einigen Punkten mildert Aristo- teles Platons Theorie der Sklaverei ein wenig, und er tadelt seinen Lehrer nach Gebühr für seine allzu große Härte. Er konnte weder einer Gelegenheit zur Kritik an Platon wider- stehen noch einer Gelegenheit zu einem Kompromiß, nicht einmal dann, wenn dies ein Kompromiß mit den liberalen Tendenzen seiner Zeit war. Aber die Theorie der Sklaverei war nur eine der vielen politischen Ideen Platons, die Aristoteles übernehmen 8 Der Aufstieg der orakelnden Philosophien sollte. Insbesondere ist seine Lehre vom besten Staat, soweit wir sie kennen, den Theorien des Staates und der Gesetze nachgebildet ; und seine Fassung dieser Lehre ist beim Ver- ständnis jener Theorien von großem Nutzen. Der beste Staat des Aristoteles ist ein Kompromiß zwischen drei Dingen: zwischen einer romantischen platonischen Aristokratie, einem «vernünftigen und ausgeglichenen» Feudalismus und einigen demokratischen Ideen ; der Feudalismus kommt dabei am besten weg. Mit den Demokraten verlangt Aristoteles für alle Bürger das Recht der Teilnahme an der Regierung. Das ist natürlich nicht so radikal gemeint, wie es klingt, denn Aristoteles erklärt sogleich, daß nicht nur die Sklaven, sondern alle Mitglieder der produzierenden Klassen von der Bürgerschaft ausgeschlossen sind. Somit lehrt er mit Platon, daß die arbeitenden Klassen nicht re- gieren und die regierenden Klassen weder arbeiten noch Geld verdienen dürfen. (Es wird aber angenommen, daß sie Geld in Mengen besitzen.) Die Herrscher sind die Eigen- tümer des Landes, dürfen es aber selbst nicht bearbeiten. Einzig Jagd, Krieg und ähnliche Liebhabereien werden als Beschäftigungen betrachtet, die der Herrscher würdig sind. Aristoteles’ Furcht vor jeder Form des Geldverdienens, das heißt vor jeder Form von berufsmäßiger Tätigkeit, geht vielleicht noch weiter als die von Platon. Platon hatte den Ausdruck «banausisch» 4 zur Bezeichnung eines plebeji- schen, gemeinen, verdorbenen Geisteszustandes verwendet. Aristoteles dehnt die herabsetzende Anwendung dieses Ausdruckes auf alle Interessen aus, die nicht reine Liebha- Kapitel 1: Aristotelische Wurzeln des Hegelianismus 9 bereien sind. Er gebraucht ihn ähnlich wie wir das Wort «professionell», insbesondere in dem disqualifizierenden Sinne, in dem es in einem Amateurwettbewerb oder auf einen spezialisierten Fachmann, zum Beispiel auf einen Arzt, angewendet wird. Für Aristoteles bedeutet jede Art von Professionalismus einen Klassenverlust. Ein feudaler Gentleman, so behauptet er 5, darf sich nie zu eifrig «irgen- deiner Beschäftigung, Kunst oder Wissenschaft» hingeben. «… Es gibt auch einige liberale Künste, das heißt Künste, die sich ein edler Herr, wenn auch nur in gewissem Ausmaß, aneignen darf. Denn wenn er sich zu sehr für sie interessiert, dann kommt es zu den folgenden üblen Resultaten»– er wird in diesen Künsten bewandert wie einer, der sie als seinen Beruf ausübt, und verliert seinen Rang. Dies ist Aristoteles’ Idee einer liberalen Erziehung, die leider noch nicht überholte Idee 6 von der Erziehung eines Gentleman im Gegensatz zur Erziehung eines Sklaven, Dieners oder eines Berufstätigen. Im gleichen Ton hebt er fortwährend hervor, daß die «Muße das erste Prinzip aller Betätigung ist» 7. Die Bewunderung und die Ehrerbietung, die Aristote- les für die müßigen Klassen an den Tag legt, scheint einem merkwürdigen Gefühl des Unbehagens zu entspringen. Es sieht so aus, als sei der Sohn des mazedonischen Hofarztes durch die Frage seiner eigenen sozialen Position beunruhigt gewesen, und insbesondere durch die Möglichkeit eines Rangverlustes, denn seine eigenen gelehrten Interessen konnten ja als professionelle Interessen betrachtet werden. «Fast möchte man glauben», sagt Gomperz 8, «er fürchtete 10 Der Aufstieg der orakelnden Philosophien

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