Gerold Scholz Die Konstruktion des Kindes Über Kinder und Kindheit Gerold Scholz Die Konstruktion des Kindes Gerold Sc holz Die Konstruktion des Kindes Über Kinder und Kindheit Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Scholz, Gerold: Die Konstruktion des Kindes: über Kinder und Kindheit! Gerold Scholz. ISBN 978-3-531-12575-6 ISBN 978-3-663-12043-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-12043-8 Alle Rechte vorbehalten © 1994 Springer Fachmeruen Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ge schützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des U rheber rechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzun gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Urnschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem Papier ISBN 978-3-531-12575-6 Inhalt Einleitung 7 2 Annäherungen an Kindheitskonstruktionen 15 2.1 Kindheitsvorstellungen in Büchern tur Kinder 15 2.2 Kindheitsvorstellungen in Büchern über Kinder 24 2.3 Die Natur des Kindes 31 3 Das sich entwickelnde Kind 41 3.1 Das Kind des Fortschritts 41 3.2 Das leibliche Kind 48 3.3 Exkurs: Zur Parallelisierung von Ontogenese und 55 Phylogenese 4 Das Kind Gottes 59 4.1 Das sinnsuchende Kind (Langeveld) 59 4.2 Das Kind der Zukunft (Schleiermacher) 65 5 Das Kind als Mittler 73 5.1 Die Erzählung vom bösen Kind 76 5.2 Die Erzählung von guten und bösen Kindern 81 5.3 Die Erzählung vom guten Kind 85 5. Exkurs: Die Erzählung vom guten Wasser 90 6 Das hergestellte Kind 94 61 Das beobachtete Kind 97 6.2 Das verschwundene Kind 102 6.3 Das geplante Kind 110 7 Das Kind der Schrift 116 7.1 Schrift 118 7.2 Medien der Erinnerung und Gestaltung 128 7.3 Merk-und Gestaltungsformen von Kindern 134 6 8 Das spielende Kind 139 8.1 Spielräume 142 8.2 Das Vor-Bild im Spiel 145 8.3 Die Wirklichkeit als Vor-Bild 146 8.4 Wechsel zwischen den Wirklichkeiten 149 8.5 Sprache und Wirklichkeit 153 8.6 Beziehungen und Rollen 154 8.7 Erwachsene als Mitspieler 155 8.8 Spielen als Probehandeln 157 9 Das denkende Kind 159 10 Überlegungen zu einem pädagogischen Spiel 170 10.1 Über die Chance der Uneindeutigkeit 173 10.2 Vom Spiel der Wörter 179 10.3 Die Konstruktion des Schülers 190 11 Schluß 200 Literaturverzeichnis 222 1 Einleitung Die Leitfrage dieser Arbeit lautet Wie kann man Kinder verstehen, wie läßt sich über Kinder sprechen und schreiben? Die Frage so zu stellen, heißt zu gleich darauf hinzuweisen, daß sie nicht im Sinne von "richtig" oder "wahr" beantwortet werden kann. Die Antwort ergibt sich aus der Form der Darstel lung. Der eine Teil des Buches stellt die Art und Weise pädagogischer Diskurse über Kinder - die in ihnen enthaltenen "Selbstverständlichkeiten" - in Frage und konfrontiert sie mit ihren impliziten Annahmen. Ein zweiter Teil erprobt an Beispielen die Möglichkeit einer anderen Beschreibung von Kindern. Die Untersuchung steht - was die Auffassung über Pädagogik betrifft - in der von Schleiermacher begründeten Tradition, im' Kind einen autonomen Men schen zu sehen, der ein Recht auf eine offene, selbstbestimmte Zukunft hat. Kinder verstehen zu wollen, enthält das hermeneutische Problem, wie man Kinder verstehen und beschreiben kann, ohne mit solchen Beschreibungen Festschreibungen zu verbinden. Schleiermachers Frage: "Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?" 1 wird im Kontext moderner Gegebenheiten und Erkenntnisse aufgegriffen und analytisch gewendet. Das Motiv, sich der Tradition des Denkens über Kinder zu vergewissern und sich so einer pädagogischen Sprechweise über Kinder anzunähern, ergab sich aus langjährigen Beobachtungen von Grundschulkindern in Freien Schulen und einem 1. Schuljahr einer Regelschule. Die Diskursanalyse soll helfen, Kin der und deren Handlungen und Deutungen besser zu verstehen. Das in jeglicher Untersuchung enthaltene Problem der Beziehung zwischen Beobachter und Beobachteten bekommt einen eigenen Akzent in der Be schreibung von Kindern. Dies aus mehreren Gründen. Zum einen läßt sich mit der Psychoanalyse annehmen, daß der Erwachsene nicht nur von seiner Kindheit mit geprägt ist, sondern daß er zu dem in ihm aufbewahrten Kinde ein Verhältnis hat, das von Wünschen und Ängsten, Ra tionalisierungen und Verdrängungen bestimmt wird. Zu vermuten ist, daß diese Beziehung zur eigenen Kindheit sich auch in der Beschreibung von Kin dern niederschlägt. 2 Kindheit war fur jeden ein Anfang, der nicht wiederholt werden kann. Das Nachdenken über Kinder und Kindheit ist untrennbar ver- 1 Schleiermacher 1983 (1826), S. 9. 2 Alice Miller hat gezeigt, daß diese These auch auf Freud anwendbar ist, wenn sie Freud vorwirft, daß er seine Theorie von einem Erfahrungsbegriff zum Erlebnisbegriff umgebaut habe, um seine Eltern zu "schonen". Vgl. Miller 1983. Ebenso läßt sich auch Alice Miller vorwerfen, mit ihrer Theorie vom "guten Kind" einer Projektion zu unterliegen Vgl. Liebs 1986, S. 256 (Anm. 7). 8 bunden mit Zeit empfindungen, geprägt von dem Verhältnis zur Unumkehr barkeit von Zeit, speziell der eigenen Lebenszeit. Das Kind, das beschrieben wird, ist von daher auch Projektion des eigenen gelebten und ungelebten Le bens. Wenn Walter Benjamin seine Erinnerungen an die Kindheit als "Impfungen" bezeichnet, als einen Versuch, eine begrenzte Krankheit hervor zurufen (die Erinnerung an die Kindheit), um damit einer nicht kontrollierba ren (dem Heimweh) vorzubeugen, und die Kindheit als reflektierbar be schreibt, so ist darin die Erinnerung an die Differenz bewahrt3 Ein zweiter Grund liegt in der Definitionsmacht über Kinder, die sich in Eu ropa herausgebildet hat. "Über Kindheit zu reden heißt, daß Erwachsene re den",4 schreibt Dieter Lenzen in der "Mythologie der Kindheit". Wenn jedes Reden über Kindheit5 ein Reden von Erwachsenen ist, so sprechen Erwach sene auch immer über sich selbst, wenn sie über Kinder reden6 Und zwar in dieser Hinsicht nicht nur aus ihrer individuellen Biographie heraus, sondern als Teilhaber einer allgemeinen Auffassung über sich und die Welt. In einer Kultur, die die Abarbeitung einer Differenz zwischen Erwachsenen und Kin dern als Kindheit definiert, scheint mir jeder pädagogische Autor von diesem Allgemeinen geprägt. Kindheit gibt es nicht von Natur aus. Kindheit ist eine kulturell geprägte, von Menschen geformte Auffassung von Kultur und Mensch-Sein. Sie ist eine Konstruktion. Unter "Kindheitskonstruktionen" verstehe ich dabei jene Vor stellungen über Kinder, die man in den Theorien von Erwachsenen finden kann und die Vorbilder und Leitbilder bereitstellen, nach denen Kinder erzo gen und belehrt werden. Die Vergewisserung über ältere, gegenwärtige und sich erst anbahnende Kindheitskonstruktionen soll die Möglichkeit bieten, 3 Benjamin 1987, S. 9. 4 Lenzen 1985, S. 11. 5 Lenzen bestimmt Kindheit als: ". .. ein alltägliches oder theoretisches Konzept für die historisch veränderliche Seinsweise des Menschen im Kindesalter" (Lenzen 1989, S. 845). 6 Dieser Satz meint nicht, daß Kinder nicht über Kindheit reden oder dazu nicht in der Lage wären. Er müßte also genauer lauten: Wenn Wissenschaft über Kindheit redet, dann reden immer Erwachsene. Aber auch das sagt nicht mehr, als daß Kinder von der Wissenschaft ausgeschlossen sind. Kinder sind sehr wohl in der Lage, über sich und Gleichaltrige wie über die Bedeutung der Lebensphase, in der sie sind, nachzudenken und zu sprechen. Sie können auch durchaus alternative Kindheiten zu der auszudenken, die sie leben. Die Differenz zwischen Kindern und erwachsenen Wissenschaftlern bzw. zu Erwachsenen, die wissenschaftlich reden, liegt darin, daß Kinder nicht in der Lage sind, Kindheit als gesellschaftliches Konstrukt anzusehen; also nicht dazu, aus einer an Phänomenen orientierten Betrachtungsweise aus-und in eine davon losgelöste Sichtweise einzusteigen. 9 noch einmal -und wieder anders -Kinder zu sehen und über unser Verhältnis zu ihnen nachzudenken. Der Gebrauch eines technischen Begriffes - "Konstruktion" - in einem päd agogischen Kontext ergibt sich aus der Beobachtung, daß in der Gegenwart eine Vorstellung über Kinder anzutreffen ist, die ein Reflex auf jene zeitlich nahe oder ferne Möglichkeit der Retortenproduktion von Kindern zu sein scheint7 Die Tendenz gegenwärtiger Erziehungsratgeber, durch die Beach tung bestimmter Regeln im Umgang mit Kindern, diese in ihrer weiteren Le bensfuhrung vollständig bestimmen zu wollen, erinnert an Modelle technischer Herstellung. Diese Beobachtung ist Anlaß, einige der geschichtlichen Kindheitskonstruktionen Revue passieren zu lassen, um danach zu fragen, woher der Wunsch stammt, Kinder "herzustellen". Die Kindheitskonstruktionen, die im folgenden reflektiert werden, paraphra sieren nicht pädagogische Theorien. Sie suchen vielmehr in pädagogischen Theorien, im engeren wie im weiteren Sinne, jeweils nach der Aufgabe, die die Kinder in der Sinnsetzung der Erwachsenen übernehmen sollen. Kindheits konstruktionen sind die Voraussetzungen pädagogischer Theorien und erfullen dort häufig die Funktion einer Letztbegründung pädagogischen Handeins. Das Kind ist zumeist Adressat von Zumutungen, da mit ihm die Chance eines jeweiligen Neubeginns verbunden scheint. Auf Kinder wird die Hoffnung übertragen, jene Aufgaben zu übernehmen, deren Bewältigung die Generation der Erwachsenen sich im Rahmen ihrer Sinngebung vornimmt. Als Grundfigur der Kindheitskonstruktionen drängt sich die Figur des Kindes als Mittler auf Als Mittler zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; aber auch als Mittler zwischen Natur und Kultur und zwischen Diesseits und Jenseits. Die Offenheit seiner Herkunft, seiner Ankunft und seiner Zukunft scheint das Kind dazu zu prädestinieren, die Aufgabe des Boten zwischen je ner, dem Erwachsenen verfugbaren, und jener von ihm projizierten Welt zu übernehmen. Übersetzt man die Metapher des Boten in die des Trägers, so wird deutlich, daß es bei der Reflexion der Kindheitskonstruktionen um die "Lasten" geht, die dem Kind als Träger und "Bedeutungsträger" zwischen Zeiten, Generationen, Kultur und Natur zugemutet werden. Solche Zumutun gen an das Kind lassen sich in der Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind nicht vermeiden, weil die jeweiligen Kindheitskonstruktionen eingebun den sind in die Sinngebung der Kultur, in die das Kind hineingeboren wird. Die "eingehüllte Rationalität" der Projektionen auf das Kind kann allerdings 7 Im Kontext einer Debatte, die sich heute ahnen läßt, erschiene der Titel "Die Konstruktion des Kindes" als Überschrift einer Gebrauchsanweisung. 10 explizit gemacht werden und so dem Kind eine Chance geben, sich dazu zu verhalten. Für die Form der Beschreibung der Kindheitskonstruktionen bietet Wittgen stein in seinen "Philosophischen Untersuchungen"8 das Vorbild. In dem ersten Abschnitt zitiert er die Auffassung von Augustinus über das Erlernen der Sprache.9 Über den weiteren Fortgang schreibt er: "Ich habe diese Gedanken alle als Bemerkungen, kurze AbSätze, nie dergeschrieben. Manchmal in längeren Ketten über den gleichen Ge genstand, manchmal in raschem Wechsel von einem Gebiet zum ande ren überspringend ... Und dies hing freilich mit der Natur der Unter suchung selbst zusammen. Sie nämlich zwingt uns, ein weites Gedan kengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen. - Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen, die auf diesen langen und verwik kelten Fahrten entstanden sind" 10 Die folgende Beschreibung von Kindheitskonstruktionen ist eine Reise durch ein "weites Gedankengebiet", von dem sich nur Skizzen anfertigen lassen. Ich beginne mit einer ersten Annäherung an Kindheitskonstruktionen, indem ich Texte der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit auf darin enthaltene Grundannahmen befrage. Dabei beziehe mich ich zum einen auf Kinderbücher und zum anderen auf Tagebücher von Eltern, also auf "Bücher fur Kinder" und auf "Bücher über Kinder" (Kap. 2.1 und 2.2) In beiden Bereichen läßt sich ausmachen, was als "Ambivalenz des Erwachsenen gegenüber dem Kind" bezeichnet werden kann: das Kind sowohl als nah zu empfinden wie als fremd. Wenn diese Ambivalenz einerseits zu einer Romantisierung des Kindes fuhrt, so andererseits zur Ausforschung des Kindes. Wobei die Forschung wiederum jene Distanz zu dem Kind herstellt, die das Kind zum "fremden" Kind werden läßt, und gleichzeitig über den Weg der Distanzierung von dem Kind die Furcht vor ihm nimmt. Die Ambivalenz des Erwachsenen gegenüber dem Kind ähnelt den ambivalen ten Projektionen der Entdecker und Eroberer traditionaler Kulturen angesichts dessen, was sie als "wilde Natur" sich vorstellten und empfanden. Die Rede von der "Natur des Kindes" scheint mir beide Haltungen -Romantisierung und Ausforschung -ermöglicht zu haben. 8 Wittgenstein 1984. 9 Wittgenstein 1984, S. 237. Der Text findet sich im achten Kapitel des ersten Buches der "Confessiones". Vgl. Augustinus 1958, S. 33f. 10 Wittgenstein 1984, S. 231 f. Vg l. auch Hartnack 1962, S. 90.
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