DIE ERKRANKUNGEN DER BLUTDRUSEN VON PROFESSOR DR. WILHELM FALTA WIEN ZWEITE VOLLKOMMEN UMGEARBEITETE AUFLAGE MIT 107 ABBILDUNGEN WIEN UND BERLIN VERLAG VON JULIUS SPRINGER 1928 ISBN-13: 978-3-642-89667-5 e-ISBN-13: 978-3-642-91524-6 DOl: 10.10071978-3-642-91524-6 ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER tl'BERSETZUNG IN FREMDE SPRACHEN VORBEHALTEN. COPYRIGHT 1928 BY JULIUS SPRINGER IN BERLIN. SOFTCOVERREPRINT OF THE HARDCOVER 2ND EDITION 1928 V orwort znr ersten Anflage. Der bedeutende Aufschwung, den die Lehre von der inneren Sekretion in den beiden letzten Dezennien genommen hat, rechtfertigt wohl den Versuch, die Erkrankungen der Blutdriisen im Zusammenhang darzustellen. Die experi mentelle Physiologie und Pathologie ist in dem ausgezeichneten Werk A. Biedls in erschopfender Weise bearbeitet worden. Das vorliegende Buch befaBt sich mit der Klinik der Blutdriisen erkrankungen. Von den Ergebnissen der experimentellen Pathologie habe ich nur soviel herangezogen, als mir zur Erklarung der klinischen Erscheinungen notwendig erschien. 1m iibrigen kann ich wohl auf das Biedlsche Werk ver weisen. In den meisten Kapiteln habe ich versucht, die klinische Symptomato logie an der Hand eigener Beobaclttungen darzustellen, die ich groBtenteils in der I. medizinischen Klinik in Wieu .~Jl machen Gelegenheit hatte. Herrn Professor Dr. L. von Frankl -Hoch wart und, Herrn Privatdozent Dr. R. Stern danke ich herzlichst fiir die Revision des neu.rologischen, Herrn Professor Dr. Stoerk fiir die des pathologisch-anatomischen Teils, letzterem auch fiir zahl reiche mikroskopische Praparate. Die Rontgenuntersuchungen wurden, wo dies nicht besonders vermerkt ist, von Herrn Dr. G. Schwarz, Vorstand der Rontgenabteilung der I. medizinischen Klinik durchgefiihrt, Herrn Assistenten Dr. S. Bernstein danke ich fiir die Unterstiitzung bei der Durcharbeitung zahlreicher experimenteller Fragen; endlich bin ich der Verlagsbuchhandlung Julius Springer fiir ihr Entgegenkommen in der Ausstattung des Buches zu groBem Dank verpflichtet. Wien, im Marz 1913. w. Falta. V orwort znr zweiten Anflage. Obwohl die erste Auflage dieses Buches bereits seit 7 Jahren vergriffen ist, konnte die zweite erst jetzt, 15 Jahre nach dem Erscheinen der ersten, fertiggestellt werden, weil nach dem Kriege groBe Schwierigkeiten in der Literaturbeschaffung bestanden und die enormen Fortschritte, die gerade in den letzten Jahren auf dem Gebiete der Blutdriisenerkrankungen gemacht wurden, immer wieder eine Umgestaltung des Stoffes notwendig machten. Trotz der weitgehenden Umarbeitung konnte aber der der ersten Auflage zugrundeliegende Plan unverandert beibehalten werden. Ebenso konnte der in der ersten Auflage eingenommene Standpunkt, der eine scharfe Abgrenzung der Blutdriisenkrankheiten von den vegetativen Neurosen und anderen Krank heiten, deren Symptomenbild haufig endokrine Ziige beigemischt sind, fordert, aufrecht erhalten werden. Dieser auch von Julius Bauer in seinem vor kurzem erschienenen Buche vertretene Standpunkt ist also nicht neu. Auch in der zweiten Auflage habe ich mich bemiiht, eine Klinik der Blutdriisen erkrankungen zu geben; die Ergebnisse der experimentellen Pathologie wurden daher nur soweit herangezogen, als es zum Verstandnis der Klinik unbedingt notwendig erschien. Um ein rascheres Erscheinen des Buches zu ermi:iglichen, wurde der Stoff in zwei Abschnitte gegliedert, von denen der erste, hier vorliegende, aIle Blutdriisenerkrankungen mit Ausnahme des Diabetes mellitus umfaBt. Der zweite den Diabetes mellitus behandelnde Abschnitt wird selb standig erscheinen. Der spezielle Teil des ersten Abschnittes wurde zum groBen Teil unverandert aus meiner Darstellung der Blutdriisenerkrankungen im Bergmann-Staehelinschen Handbuch der inneren Medizin iibernommen. Die erste Auflage wurde in die italienische, englische und russische Sprache iibersetzt. Ich mi:ichte nicht unterlassen, den Herren Ubersetzern Dottore G. Hannau und Dr. Milton K. Meyers an dieser Stelle meinen besten Dank auszusprechen. Ganz besonders aber bin ich Sir Archibald E. Garrod fiir das Vorwort zur englischen Ubersetzung verpflichtet. Wien, Februar 1928. w. Falta. Inhaltsverzeichnis. Seite I. Allgemeiner Teil . . . . . . . . . . . . . . 1 Historische Entwicklung und Definition. . . . 1 Wechselwirkung der Blutdriisen . . . . . . . 11 Frage der Dysfunktion . . . . . . . . . . . 20 Entwicklungsgeschichte des Blutdriisensystems. . . . . 24 Gruppierung der Blutdriisen . . . . . . . . . . . . . . 24 .Anatomie und Physiologie des vegetativen Nervensystems 27 Beziehungen zwischen Blutdriisen und Nervensystem. . . . . . 33 A. Regulation der Blutdriisenfunktion durch das Nervensystem 33 B. Beeinflussung des Nervensystems durch die Blutdriisen . . 35 1. Beeinflussung der psychischen und geistigen Funktionen 35 2. Beeinflussung der somatischen Nerven .. . . . . . . 35 3. Beeinflussung der vegetativen Nerven und Zentren. . . . 35 4. Beeinflussung der peripheren Nerven durch die Billtdriisen 36 Einflu13 der Blutdriisen auf die Regulation des Stoffwechsels . . . . . .. 42 A. Kohlenhydratstoffwechsel S.42. - B. EiweiBstoffwechsel S.47. - C. Kalkstoffwechsel S.48. - D. Respiratorischer Stoffwechsel S.49. - E. Warmeregulation S.52. - F. Fettstoffwechsel S.53. - G. Wasser und Salzstoffwechsel S. 54. EinfluB der Blutdriisen auf die verschiedenen Organsysteme . . . . . .. 58 A. Zirkulationsorgane S. 58. - B. Leber und Gallenblase S. 59. - C. Lungen S. 60. - D. Nieren S. 60.- - E. Magen-Darmtrakt S. 61. - F. Hamatopoetischer Apparat S. 61. - G. Muskelsystem S. 62. - H. Kno chensystem (Wachstum) S.63. - I. Zahne S.65. - K. Geniteller Hilfs apparat und sekundare Geschlechtscharaktere S. 65. - L. Die Haut und ihre Anhangsgebilde S. 67. - M. Sinnesorgane S; 68. Diagnostik der Blutdriisenerkrankungen. . . . . . . . . . . . 68 Abgrenzung der Blutdriisenkrankheiten von anderen Krankheiten 73 A. Nervenkrankheiten. . . . . . . . . . . 74 B. Stoffwechselkrankheiten . . . . . . . . 79 C. Herz- und Gefa13krankheiten . . . . . . 84 D. Nierenkrankheiten und Odembereitschaft 84 E. Leberkrankheiten 85 F. Magen-Darmkrankheiten . . . 85 G. Knochenkrankheiten . . . . . 85 H. Blutkrankheiten . . . . . . . 87 I. Hautkrankheiten. . . . . . . 89 K. Krankheiten der Sinnesorgane 90 L. Vegetationssoorungen. . . . . 91 Pluriglandulare Storungen . . . . . 93 Blutdriisen und Konstitution ... 97 Atiologie der Blutdriisenerkrankungen . . 104 Allgemeine Therapie der Blutdriisenerkrankungen 106 II. Die Erkrankungen der Schilddriise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III Anatomie und Entwicklungsgeschichte S. 111. - Physiologische Vor bemerkungen S. 112. - Einteilung der Schilddriisenerkrankungen S. 113. A. Der Morbus Basedowii . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . 116 Historisches. Begriffsbestimmung. Vorkommen. Symptomatologie S. 116. - Pathologisch-ana.tomische Verand~gen. Formen des Morbus Basedowii S.137. - Pathogenese S.139. - Atiologie S.145. - Ver lauf S. 146. - Diagnose S. 147. - Therapie S. 148. B. Die A- bzw. Hypothyreosen 155 Historisches. • . . . . • • • • • . • • . • • . . . . • . • . • . 155 VI InhaltBverzeiohnis. Selte 1. Myxoedema adultorum .................... 156 .. Begriffsbestimmung. Vorkommen. 8ymptomatologie S. 156. - Atiologie S. 166. - Differentialdiagnose S. 167. 2. Das kongenitale und infantile MyxOdem (der sporadisohe Kretinismus) 168 Begriffsbestimmung und Historisohes S. 168. - Symptomatologie S. 170. - Differentin.ldiagnose S. 178. Therapie der A- bzw. Hypothyreosen . 179 III. Der endemische Kretinismus. . . . . . . . . 180 Begriffsbestimmung S.180. - york~mmen S. 181. - Symptomatologic S.182. - Pathogenese S.190. - Atiologie S.194. - Differentialdiagnosc. Therapie S. 197. IV. Die Erkrankungen der Epithelkorperchen (Glandulae parathyreoideae) 198 Anatomie S. 198. - Embryologie. Historischcs S. 199. - Pathogenesc der Tetanie S. 200. Die A- bzw. Hypoparathyreose, die Tetanie. . . . . . . . . . . . . . . 200 Definition. Symptomatologie S. 200. - Pathogenese der Tetanie S. 218. Pathologische Anatopic S. 228. - Die verschiedenen Formen der Tetanie beim Menschen und Atiologie S. 229. - Beziehungen der Tetanie zu anderen . Krankhciten S.238. - Differcntialdiagnose S.240. - Therapie S.241. Uberfunktionszustande der Epithelkorperchen . . . . . . . . . . . .. 244 V. Die Erkrankungen der Thymusdriise (Status thymico-Iymphaticus) . 245 Anatomie und Entwicklungsgeschichte S. 245. - Pathologische Physio- logie S. 246. - Pathologie und Klinik S. 247. VI. Die Erkrankungen der Hypophyse . . .. ............. 251 Anatomie und Entwicklungsgeschichte S.252. - Physiologisoh-patho logisohe Vorbemerkungen S. 254. A. Die Akromegalie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Synonyma. Begriffsbcstimmung S.261. - Vorkommen. Sympto matologie S. 262. - Friihakromegalie S. 286. - Pathologischc Anatomic und Pathogcnese S. 289. - Differentialdiagnose S. 295. - Therapie S. 296. B. Dic hypophysare .Kachexie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Begriffsbestimmung. Hist9.risches S. 299. - Symptomatologie S. 300. Pathologische Anatomie und Atiologie S. 303. - Pathogenese S. 304. - Differentialdiagnose. Therapie S. 306. C. Der hypophysare Zwergwuohs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Begriffsbestimmung. Symptomatologie S. 307. - Pathologische Ana tomic. Pathogenese. Therapie S. 309. - Diffcrentialdiagnose S. 310. D. Die Dystrophia adiposo-genitalis (Typus Frohlioh). . . . . . . . . 312 Historisches. Begriffsbestimmung. Symptomatologie S. 312. - Patho logische Anatomie S. 329. - Pathogcnese S. 331. - Differentialdiagnose S. 335. - Therapie S. 336. E. Der Diabetes insipidus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Begriffsbestimmung. Symptomatologie S. 337. - Pathologische Ana tomie S. 341. - Pathogenese S. 342. - Differentialdiagnose S. 348. - Thcrapie S. 349. VII. Die Erkrankungen der Zirbeldriise (Glandula pinealis, Epiphyse) ..... 349 Anatomie und Entwicklungsgesohichte S. 349. - Pathologische Ana tomie S. 350. - Symptomatologie S. 351. - Pathogenese S. 352. - Diagnose S. 354. VIII. Die Erkrankungen des Nebennierenapparates. . . . . . . . . . . . . . . 354 Anatomie und Entwicklungsgeschichte S. 354. - Pathologische Physiologie der :Nebennieren S. 356. A. Unterfunktionszustande des Nebennierenapparates ......... 364 1. Die Addisonsche Krankheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Begriffsbestimmung S.364. - Symptomatologie S.364. - Ver- lauf S. 367. - PathologisoheAnatomie S. 367. - Pathogenese S.369. Differentialdiagnose S. 372. - Prognose und Therapie S. 373. 2. Isolierte Ausfallserscheinungen der Nebennierenrinde . . . . . . . 374 Inhaltsverzeichnis. VII Seite B. "Oberfunktionszustande des Nebennierenapparates . . . . . . . . . . 376 1. Tumoren, welche vom chromaffinen Gewebe ausgehen . . . . . . 376 2. Tumoren, die von der Rinde ausgehen . . . . . . . . . . . . . 379 3. Tumoren der Nebennieren, welche anscheinend aus Rinde und Mark bestehen . . . . . . . . . . . . . . . . 388 IX. Der Status lymphaticus und der Status hypoplasticus 389 A. Der Status lymphaticus 389 B. Der Status hypoplasticus. . . . . . . . . . 392 X. Die Erkrankungen der Keimdriisen. . . . . . . . . . 392 Anatomische und physiologische Vorbemerkungen S. 392. 1. Der Hermaphroditismlls . . . . . . . . . . . . . 397 2. Die Homosexualitat . . . . . . . . . . . . . . . 400 3. Die Kastrationsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 a) Die Eunuchen S. 401. - b) Die Spatkastrate S.403. 4a. Der Eunuchoidismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Historisches S. 405. - Begriffsbestimmung. Symptomatologie S. 406. Pathologisch -anatomische Untersuchungen S. 411. - Pathogenese S. 412. - Differentialdiagnose. Prognose S. 414. 4b. Der Spateunuchoidismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Begriffsbestimmung. Historisches. Kasuistik S. 415. - Symptomato- logie S.416. - Pathogenese S.417. - Therapie der Keimdriisen insllffizienz S. 419. 5. Die ovariogenen Storungen der Menstruation ........... 421 6. Die friihzeitige Altersinvolution der Keimdriisen . . . . . . . . . . 421 7. Der Hypergenitalismus bzw. die vorzeitige Geschlechtsentwicklung . . 423 Begriffsbestimmung. Symptomatologie S. 423. - Pathologische Anatomie. Therapie S. 426. XI. Pluriglanduliire Erkrankungen (multiple B1utdriisensklerose, Riesenwuchs). 426 A. Die multiple Blutdriisensklerose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Begriffsbestimmung S.427. - Historisches. Kasuistik S.428. - Symptomatologie S. 429. - Pathologische Anatomie und Atiologie. Patho genese S. 430. - Differentialdiagnose. Therapie S. 434. B. Der Riesenwuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Historisches. Symptomatologie und Typen S. 435. - Pathogenese S. 441. XII. Nicht-endokrine Vegetationsstorungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 1. Der Infantilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Begriffsbestimmugg und Historisches S. 444. - Symptomatologie S. 447. Formen S. 450. - Atiologie und Pathogenese S. 451. - Prognose und Therapie S. 453. 2. Die primordiale Nanosomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 3. Der rachitische Zwerg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 4. Die Chondrodystrophie (Achondroplasie) . . . . . . . . . . . . . . . 455 Historisches S. 455. ---;-; Begriffsbestimmung. Symptomatologie S. 456. - Vorkommen S.460. - Atiologie S.461. - Differentialdiagnose S.462. 5. Der Mongolismus (mongoloide ldiotie) . . . . . . . . . 462 Symptomatologie S.462. - Pathogenese und Therapie S.465. XIII. Die endogene Fettsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Beziehungen des Blutdriisensystems zur Pathogenese der Fettsllcht S. 466. - Das Inselorgan S.473. - Die Schilddriise S.477. - Die Nebennieren. Die Keimdriisen S.479. - Die Thymusdriise. Die Hypophyse und die Regio hypothalamica. Die Epiphyse S. 480. - Die Adipositas dolorosa S. 481. XIV. Die endogene Magerkeit (Magersucht) 487 Literatur 494 Nachtrag: Bemerkungen iiber die Therapie der endogenen Fettsucht 558 Sachverzeichnis ..................... . 560 I. Allgemeiner Teil. Historische Entwicklung nnd Definition. Die klinische Abgrenzung jener Krankheitsbilder, die wir heute als Blut driisenerkrankungen oder endokrine Erkrankungen bezeichnen, ist zum Teile viel alter als die Konzeption des Begriffes der inneren Sekretion durch die Experimentalpathologie. Die tiefgreifenden Veranderungen" die in der Ent wicklung des menschlichen Organismus nach Entfernung der Keimdriisen im jugendlichen Alter Platz greifen, sind zu auffallend, als daB sie nicht schon im Altertum das Interesse der .Arzte und Laien erweckt hatten. Die Tierziichter hatten sich schon lange Zeit empirische Erfahrungen zunutze gemacht, bevor die Frage erortert wurde, auf welchem Wege die Keimdriisen die Dimensionierung des Korpers und die Fettverteilung beeinflussen. Als den Begriinder der Experi mentalpathologie der inneren Sekretion kann man wohl mit Recht den Gottinger Physiologen A. Berthold bezeichnen, der 1849 zum ersten Male eine Auto transplantation der Hoden bei Hahnen vornahm und beobachtete, daB dadurch die mannlichen Eigenschaften erhalten blieben. Hingegen ist die Entwicklung der K1inik der Blutdriisenerkrankungen unloslich an den Namen Thomas Addison gekniipft. Addison hat 1855 das nach ihm benannte Krankheitsbild beschrieben und dasselbe auf Grund pathologisch-anatomischer Befunde auf eine Zerstorung beider Nebennieren zurUckgefiihrt. Die ersten Untersuchungen iiber den EinfluB der Schilddriisenexstirpation auf den tierischen Organismus stammen von Schiff, die ersten klinischen Beschreibungen des Myxodems von Gull, Ord und Charcot. Schon Ord vermutete die ursachliche Beziehung der Schilddriise zu dieser Krankheit. 1882 und 1883 haben dann Th. Kocher und Reverdin d3n Nachweis erbracht, daB dieses Krankheitsbild durch den Ausfall der Schilddriisenfunktion zustande kommt. Das Jahr 1886 ist als ein weiterer Markstein in der Geschichte der Blutdriisenerkrankungen zu betrachten. Nachdem schon im Jahre 1840 v. Basedow eine ausfiihrliche Beschreibung der nach ihm benannten Krankheit gegeben hatte (Graves hatte schon 1835 analoge FaIle beschrieben, die er zur Hysterie in nahe Beziehung brachte), hat 1886 Mobius zum ersten Male den Gedanken ausgesprochen, daB dieses Symptomenbild auf einer krankhaft gesteigerten Tatigkeit der Schilddriise beruhe, und auf den Gegensatz zwischen dieser Krankheit und dem Myxodem hingewiesen. Erst im Jahre 1889 berichtete Brown-Sequard in der Pariser biologischen Gesellschaft iiber Versuche, die es wahrscheinlich machten, daB von den Blutdriisen Stoffe an das Blut abgegeben wiirden, die fernabliegenden Organen durch das Blut zugetragen diese in weitgehender Weise beeinflussen. Brown-S e q uard hatte sich selbst Hodensaft subkutan injiziert und eine Steige rung seiner korperlichen und geistigen Leistungsfahigkeit beobachtet, die er auf den EinfluB dieser Injektion zuriickfiihrte. Zwar hatte Brown-Sequard in Johannes Miiller, Ruysch u. a. VorIaufer gehabt, es ist aber das Verdienst Erown-Sequards, diesen Gedankenzuerst klarformuliert, durch Experimente gestiitzt und dadurch das allgemeine Interesse der arztlichen Welt darauf gelenkt zu haben. Mit dem Ausbau der experimentellen Pathologie wurden dann in rascher Folge Krankheitsbilder, die bisher den Nervenkrankheiten Falta, Blutdriisen. 2. Auf!. 1 2 Allgemeiner Tell. oder Konstitutionskrankheiten oder Stoffwechselkrankheiten zugezahlt worden waren, in die neue Krankheitsfamilie eingereiht. Die Entdeckung des Pankreas diabetes durch v. Mering und Minkowski stellte das Pankreas in den Mittelpunkt der Pathogenese des Diabetes mellitus. Dazu kamen spater die Studien von Schulze und Ssobolew iiber die physiologische und patho logische Selbstandigkeit des Inselapparates und die Arbeiten von Opie, Salty kow, Weichselbaum u. a. iiber die histologischen Veranderungen des Insel apparates beim Diabetes mellitus. Die Entdeckung der gIykosurischen Wirkung der Nebennierenextrakte durch Blum und die Erkenntnis, daB der Zucker stich durch eine auf sympathischen Bahnen zum chromaffinen Gewebe geleitete Entladung dieses Organes wirkt, haben allerdings dem von Claude Bernard vertretenen neurogenen Ursprung des Diabetes wieder eine gewisse Bedeutung verschafft. Fiir die Klinik hat das chromaffine Gewebe spater auch durch die vermuteten Beziehungen zur vaskumren Hypertonie (Wiesel) und zum Status lymphaticus (Wiesel und Hedinger) an Interesse gewonnen. Die "Schild driisentetanie" wurde experimentell durch Schiff gefunden, die eraten klini schen Beschreibungen stammen von N. Weiss aus der N othnagelschen Klinik. Die Entdeckung der parathyreopriven Tetanie durch G ley und Vasalle .u nd Gener ali gestattete spat{lr die Symptome der Tetanie von denen des .Schild driisenausfalles loszulosen und den Epithelkorperchen die entscheidende Rolle in der Pathogenese der einzelnen Tetanieformen zuzuweisen (Jeandelize, Biedl, Pineles, Escherich, Erdheim, Chvostek). Nachdem schon Pierre Marie das Krankheitsbild der Akromegalie beschrieben und mit der Hypo physe in Beziehung gebracht hatte, drang allmahlich die Erkenntnis durch, daB nicht - wie urspriinglich vermutet wurde - eine Herabsetzung, sondern eine Steigerung der Funktion der Hypophyse diese Krankheit hervorrufe. 1901 hat A. Frohlich den Krankheitstypus der Dystrophia adiposogenitalis gezeichnet und ebenfalls mit einer Erkrankung der Hypophyse in Beziehung gebracht. Dazu kam spater die Erkenntnis, daB gewisse Formen des Zwerg wuchses auf einer in frillier Jugend einsetzenden Erkrankung der Hypophyse beruhen. Die pathologische Anatomie der Hypophyse ist besonders durch Benda, der den Adenomcharakter der Hypophysengeschwulst bei der Akro megalie feststellte, und durch die Studien Erdheims iiber den Plattenepithel krebs bei der hypophysaren Dystrophie gefordert worden. Die Histologie der Basedowstruma war schon friiher eingehend studiert worden. Die pathogene- . tische Stellung der Schilddriise hat dann weiter durch die operative Behandlung der Basedowkrankheit (Rehn, Th. Kocher u. a.) und durch das Studium ihrer Beziehung zum sporadischen Kretinismus (Thyreoaplasie von Pineles), zum endemischen Kretinismus (v. Wagner, H. und E. Bircher, Ewald, Scholz) und zum Kropfherzen (Friedrich Kraus) an Bedeutunggewonnen. Auch die pathogenetische Stellung der Keimdriisen ill der Klinik der Blutdriisenerkran kungen wurde scharfer erfaBt. Das Bild des Eunuchoidismus (Griffith) wurde von Tandler und GroB, das des Spateunuchoidismus von mir gezeichnet. Ferner wurden die Beziehungen der pramaturen Entwicklung zu Tumoren der Keimdriisen oder der Epiphyse (Marburg, v. Frankl-Hochwart) oder der Nebennierenrinde (Apert) erkannt. Endlich ist aus den. von Claude und 'Gougerot beschriebenen vielgestaltigen Syndromen der "insufiisance pluri- glandulaire" das Krankheitsbild der multiplen Blutdriisensklerose von mir losgelost worden. Nur die Thymusdriise hat sich in der Klinik der Blutdriisen erkrankungen bisher noch keine feste Stellung erringen konnen. Ich habe diese Darstellung der Entwicklung, welche die Lehre von den BIut driisenerkrankungen bis zum Jahre 1913 genommen hat, ziemlich wortlich alUS der ersten Auflage dieses Buches iibernommen. Die physiologische Chemie Historische Entwicklung und Definition. 3 der Inkrete war bis dorthin nur wenig entwickelt. Nur aus dem Nebennieren mark war es gelungen, eine Substanz, das Adrenalin, zu gewinnen, die chemisch definiert und auch synthetisch dargestellt werden konnte (Aldrich, Taka mine). Auch aus dem Hinterlappen der Hypophyse war ein Extrakt von bemerkenswerter Wirkung gewonnen worden. Seither hat gerade die physio logische Chemie - wie spater ausfiihrlich beschrieben werden solI - enorme Fortschritte gemacht. In die Klinik der Blutdriisenerkrankungen war aber seit her ein Moment der Unsicherheit gekommen, welches hauptsachlich die Stellung der Hypophyse zur Klinik des Blutdriisensystems betraf. Wohl war ein wesent licher Fortschritt gerade in dieser Hinsicht durch die Erkenntnis erzielt worden, daB durch den Ausfall der glandularen Hypophyse ein ganz charakteristisches Krankheitsbild entsteht, welches von A. Simmonds als hypophysare Kachexie bezeichnet wurde. Fiir diese Auffassung spricht vor allem eine gewisse Gegen siitzlichkeit im Symptomenbild der Akromegalie und demjenigen der hypo physaren Kachexie. Andererseits hatte die experimentelle Forschung der letzten Jahre Ergebnisse gebracht, welche geeignet schienen, die bisher als sicher angenommene Zugehorigkeit gewisser Krankheitsbilder zu den Blutdriisen erkrankungen in Frage zu stellen. Wenn zwar bis vor wenigen Jahren an genommen wurde, daB, wie ich dies in der ersten Auflage dieses Buches aus driickte, die Blutdriisen als vegetative Organe ihre "zentralen Projektions felder" haben miissen und daB ihre Funktion unter dem regulierenden EinfluB des Zentralnervensystems steht, so war doch die Auffassung herrschend, daB Stoffwechsel, Wachstum und Trophik der Gewebe hauptsachlich durch die Blutdriisen reguliert werden. Nun lassen es aber die Forschungen der letzten Jahre immer wahrscheinlicher erscheinen, daB sich in dem urspriinglichsten von Edinger als Archithalamus bezeichneten Teil des Zwischenhirns eine ungefahr dem Zwischenhirnboden (Hypothalamus) entsprechende Region befindet, in welcher sich eine ganze Reihe wichtiger Zentren befindet, die fiir die vegetativen Funktionen und fiir die Regulation des Stoffwechsels, des Wasser- und Warmehaushaltes, fiir die Trophik des Fettgewebes und endlich fiir die Entwicklung und Erhaltung der sekundaren Geschlechtscharaktere von groBter Bedeutung sind. Diese Befunde waren zwar an und fiir sich nicht geeignet, in der Lehre von der inneren Sekretion so revolutionar zu wirken, als es zuerst den Anschein hatte, da auch friiher die Vorstellung von einer nervosen Regulierung neben der hormonalen als chemischen gang und gabe war. Fiir die Klinik verwirrend wirkte aber die sich aus diesen Befunden ergebende Un sicherheit in der Pathogenese mancher Syndrome, ja mancher geschlossener Krankheitsbilder, die man friiher ohne Bedenken auf eine Erkrankung des Hypo physenapparates zuriickgefiihrt hatte, da man jetzt auch mit der Moglichkeit einer zentral nervosen Genese rechnen muBte. Zu diesen Syndromen bzw. Krankheitseinheiten gehoren manche Formen derFettsucht, ferner die Genital dystrophie und der Diabetes insipidus. Ganz besonders ist es die Kombination von Genitaldystrophie und Fettsucht, die sog. Dystrophia adiposogenitalis, deren Zugehorigkeit zu den Blutdriisenerkrankungen bestritten wird. Andererseits verleiteten die innigen Beziehungen, welche zwischen Blut driisensystem und vegetativem Nervensystem bestehen, dazu, manche Krank heitsbilder zu den Bluterkrankungen zu zahlen, wenn sie irgendwelche Blut driisenstigmata aufweisen. Es gibt keine vegetative Neurose oder Tropho neurose, die nicht schon zu den Blutdriisenerkrankungen gezahlt worden ware. Auch manche Psychosen und A vitaminosen sind diesem Schicksal verfaHen. Bei diesem Stand der Dinge ist es vor aHem notwendig, zu einer klaren Defini tion dessen, was wir unter einer Blutdriise bzw. einer Blutdriisen erkrankung zu verstehen haben, zu gelangen. Der Name Blutdriise wurde J*