Wenn das Tasten nicht eine einzige Wahrnehmung, sondern eine Mehrzahl ist, sind auch seine Gegenstände eine Vielheit. Aristoteles Der bewegte Sinn Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung Martin Grunwald Lothar Beyer (Hrsg.) Springer Basel AG Herausgeber Dr. Martin Grunwald Prof. Dr. Lothar Beyer Universität Leipzig Arztehaus Mitte EEG Forschungslabor der Klinik für Psychiatrie Westbahnhofstrasse 2 Emilienstrasse 14 D-07745 Jena D-04107 Leipzig Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme Der bewegte Sinn : Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung / Martin Grunwald ; Lothar Beyer (Hrsg.). - Basel; Boston ; Berlin : Birkhäuser, 2001 ISBN 978-3-7643-6516-5 ISBN 978-3-0348-8302-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-0348-8302-3 ISBN 978-3-7643-6516-5 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Weg und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbedingungen des Urheberrechts. © 2001 Springer Basel AG Originally published by Birkhäuser Verlag in 2001 Camera-ready Vorlage durch die Herausgeber erstellt Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF 00 Umschlaggestaitung: Micha Lotrovsky, Therwil, Schweiz Bildmotiv Umschlag: Erich Kissing, Zureiten (Ausschnitt). 1982-1984, Eitempera, Aquarell, öl auf Hartfaser, 82 x 136 cm. www.erich-kissing.de ISBN 978-3-7643-6516-5 www.birkhasuer-science.com 987654321 INHALTSVERZEICHNIS VORWORT DER HERAUSGEBER I. Erkenntnistheoretische und historische Aspekte Begriffsbestimmungen zwischen Psychologie und Physiologie (M Grunwald) Historisch-philosophischer Exkurs tiber den Tastsinn 15 (M John) II. Neurophysiologische Aspekte Elementareinheiten des somatosensorischen Systems als physiologische Basis 25 der taktil-haptischen Wahrnehmung (L. Beyer und T Weiss) Neurophysiologische Grundlagen des zentralen somatosensorischen Systems 39 (T Weiss) Plastizitat im somatosensorischen System 53 (J. Weiss) Anderungen der himelektrischen Aktivitat bei haptischer Reizverarbeitung 61 (M Grunwald) III. Psychologische Aspekte Gestaltpsychologische Ansatze zur Analyse der haptischen Wahrnehmung 77 (A. Zimmer) Vergleich haptischer Wahrnehmungsleistungen zwischen blinden und 89 sehenden Personen (B. Roder und F. RosIer) Implizite und explizite Gedachtnisleistungen 99 (W Wippich) IV. Klinisch-neuropsychologische Aspekte Sprachentwicklung und haptische Wahrnehmung 109 (Ch. Kiese-Himmel) Haptische Wahmehmung im Kontext der Sensorischen Integrationstherapie 125 (Ch. Eurich) StOrung der haptischen Wahrnehmung bei Anorexia nervosa 135 (M Grunwald und H -J Gertz) INHAL TSVERZEICHNIS V. Anwendungsaspekte Haptische Wahrnehmung und Design 151 (R. Schonhammer) Haptische Wahrnehmung in der Mensch-Maschine-Interaktion 161 (R. Zwisler) Haptik-Design im Fahrzeugbau 171 (M Grunwald und F. Krause) Haptische Auslegung der Fahrzeuginnenausstattung bei AUm 177 (W Tietz) Visuell-haptische Schnittstellen in der Automobilentwicklung bei BMW 187 (A. Bernstein, M Broecker, P. Marz, L. Robin) Haptische Wahrnehmung und Textureigenschaften von Lebensmitte1n 195 (S Stroh, NESTLE) Haptische Wahrnehmung in der Raumfahrt 205 (H E. Ross) Sehschadigung, haptische Wahrnehmung und Sprache 215 (J Lotzsch) Blindenleitstreifen im Bereich des Offentlichen Personenverkehrs 231 (I'. Rosburg) Sexualitat und haptische Wahrnehmung 241 (K Seikowski und S Gollek) Unterwegs zum Cybersex: Die Mediatisierung sexueller Beriihrung 251 (D. Schmauks) Haptische Wahrnehmung in Sport-und Trainingsanwendungen 263 (L. Beyer) STICHWORTREGISTER 271 AUTORENVERZEICHNIS 279 VORWORT DER HERAUSGEBER Die vorliegenden Monographie stellt grundlegende und aktuelle Ergebnisse zur haptischen Wahrnehrnung dar, urn auf die notwendige und bereits praktizierte interdisziplinare Vernet zung der Aktivitaten in Forschung und Praxis aufmerksam zu machen. Die Gesamtheit der Beitrage tritt damit zwei weit verbreiteten Annahmen entgegen: Erstens: Es ist falsch anzunehrnen, dass uber den Tastsinn und speziell zur haptischen Wahr nehrnung nur wenig Wissen bereitgestellt wird und sich nur eine Minderzahl von Wissen schaftlern diesem Gebiet stellte und stellt. Die Auseinandersetzung mit den bestehenden Hypothesen und Konzepten zum Tastsinn offenbart eine beeindruckende Fulle von Studien und Erkenntnissen aus den unterschiedlichsten Fachbereichen. Vertreten sind grundlagen orientierte und klinische Facher sowie anwendungsorientierte Gebiete. Die Vielzahl, das Spektrum und die Originalitat der Aktivitaten wlirde mehrbandige Ausgaben fUllen. Es fehlt somit nicht an Paradigmen und Fragestellungen, an Anwendungsbereichen und scheinbar un lOsbaren Problemen, sondern an Foren und Austauschebenen fur Wissenschaftler und Prak tiker. Die verschiedenen - zum GroBteil interdisziplinaren - Aktivitaten geschehen oft - unbemerkt. Innerhalb der "Tastsinn-Gemeinde" herrscht eher eine Bescheidenheit der Nische, die jedoch nicht im Verhaltnis zu dem steht, was schon erkundet wurde und noch erfahren werden muss. Es sind nicht zu wenige, die zu diesem Gegenstand arbeiten, aber zu wenig wird das bestehende Wissen und die vorhandenen Aktivitaten gebUndelt und zusammen fassend dargestellt. Zweitens: Die Forschungstatigkeit zur haptischen Wahrnehmung ist nicht deshalb so verein zelt und kaum als groBes Paradigma etabliert, weil die Bedeutung dieser Erkenntnisse gering ware. Ganz im Gegenteil. Die auBerordentliche Bedeutung der haptischen Wahrnehrnung fUr den Menschen im Kontext der anderen Wahrnehrnungssysteme steht seit langem auBer Frage. Vielmehr ist die Zuruckhaltung auf diesem Gebiet Ausdruck dafUr, dass eindimensionale An satze sowohl bei Forschern als auch Anwendern schnell zu Ernuchterung fUhren. Selbst relativ eng umgrenzte Problemstellungen zur haptischen Wahrnehmung beruhren schon nach kurzer Zeit der thematischen Bearbeitung das gesamte Wahrnehmungs- und Verarbeitungssystem des Menschen. Zuruckhaltung gegenuber diesem Forschungsgebiet ist so mit nicht die Folge man gelnder Bedeutung, sondern Reflex auf die Komplexitat des Gegenstandes, die alles andere als methodische Tragheit erfordert. Gegliedert in fUnf Kapitel werden ausgehend von philosophisch-erkenntnistheoretischen Bei tragen die neurophysiologischen und psychologischen Grundlagen der haptischen Wahrneh- mung sowie deren klinische Bedeutung vorgestellt. Die Beitrage wurden so ausgewlihlt, dass sie Lehrenden und Lernenden als Anregung dienen konnen. Ein Teil der Beitrage stellt neue und bisher noch nicht verOffentlichte Untersuchungsergebnisse dar. Aufwe1ch vielf<iltige Weise dem Tastsinn und insbesondere der haptischen Wahrnehrnung in praktisch-industriellen Anwendungsbereichen Beachtung geschenkt wird, zeigen die Beitrage des Kapite1 V. Daruber hinaus sollen diese Beitrage verdeutlichen, dass der haptischen Wahr nehrnung im Schatten der Offentlichen Aufmerksamkeit zunehrnend ein wirtschaftliches Inter esse entgegengebracht wird. Somit besteht die Forderung an die Wissenschaft, diesen Trend aktiv zu befOrdern und ihrn nicht passiv nachzulaufen. Die Beschreibung des gegenwlirtigen Kenntnisstandes, der verworfenen und bestatigten Hy pothesen ist jedoch immer auch an den Wunsch gebunden, neue Fragestellungen zu generie ren und die Praxis der Forschung zu verandern. Die Beitrage sollen somit auch dazu ermuti gen, die Nische zu verlassen und den etablierten Betrieb mit der Unentbehrlichkeit der hapti schen Wahrnehrnung zu konfrontieren. Wtinschenswert ware, dass diese Arbeit eine Ren naissance und eine Neubestimmung des Tastsinnes in der grundlagen- und anwendungsorien tierten Forschung untersttitzt. An dieser Stelle mochten wir uns fur die au13erordentlich freundliche und kompetente Betreuung durch den Birkhauser Verlag, besonders bei Herrn Dr. Kluber bedanken. Unser Dank gilt weiterhin Herrn Professor W. Krause (Friedrich-Schiller-Universitat Jena), der durch seine stete Ermutigung diese Arbeit wesentlich befdrdert hat. Frau Busse gebUhrt gro13er Dank fUr rhre muhevolle Arbeit bei der Korrektur des Bandes. Fur die vie1en kritischen Diskussionen und wichtigen Hinweise mochten wir uns bei allen Freunden herzlich bedanken. Martin Grunwald Lothar Beyer Leipzig Jena Mai 2001 I. ERKENNTNISTHEORETISCHE UND HISTORISCHE ASPEKTE BEGRIFFSBESTIMMUNGEN ZWISCHEN PSYCHOLOGIE UNO PHYSIOLOGIE Martin Grunwald "Wenn das Tasten nicht eine einzige Wahrnehmung, sondern eine Mehrzahl ist, sind auch seine Gegenstande eine Vielheit". Auf diese Weise verstand Aristoteles [I] den Tastsinn und man kann erganzen, dass nicht nur die Gegenstande vielfaltig sind, sondern auch die begriff lichen Bestimmungen, die mit dem Tastsinn in Zusammenhang gebracht werden. So ist fest zustellen, dass in der durchaus umfangreichen internationalen und nationalen Literatur zum Tastsinn eine untibersichtliche Menge von Begriffen und Begriffskombinationen verwendet wird. Es kann jedoch nicht Aufgabe von Begriffsexegesen sein, die bestehenden Differenzen zu disziplinieren. Vielmehr sollten die verwendeten Begriffsbestimmungen in der For schungsliteratur kritisch differenziert werden. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, einige wesentliche Begriffe, die im Zusammenhang mit Erorterungen des Tastsinnes und der Tastwahrnehmung verwendet werden, zu beschreiben und ihren Standort zu bestimmen. Die Hoffnung besteht darin, den Gebrauch der jeweiligen Kategorien zu reflektieren - den Nutzen, Anspruch und deren Bedeutung herauszuarbeiten. Das alles geschehe vor dem Hintergrund einer erkenntnistheoretischen Einsicht Imanuel Kants, die uns lehrt, dass das menschliche Erkennen nur soweit und in den Grenzen der vorhandenen Begrifflichkeit moglich ist. Der Ausgangspunkt unserer Betrachtung ist die Kategorie des Tastsinnes sowie synonyme Bestimmungen im deutschen Sprachgebrauch. Es wird dargestellt, welche Subkategorisie rungen des Tastsinnes auftreten und weshalb sie in der Literatur verwendet werden. Dabei wird auf die Einfltisse von Forschungsarbeiten aus der Psychologie und Physiologie und auf entsprechende Begriffsdifferenzen eingegangen. AbschlieBend werden Hypothesen zu den moglichen Ursachen der Begriffsvielfalt erortert. 2 I. ERKENNTNISTHEORETISCHE UND HISTORISCHE ASPEKTE Eigenschafts-und Ereignisbegriffe In Korrespondenz zur Bezeichnung der unterschiedlichen Sinne, die verschiedene Reizquali taten der Umwelt verarbeiten konnen (Sehsinn, Horsinn, Geschmackssinn, Geruchssinn), wird der Begriff "Tastsinn" im deutschen Sprachraum gebraucht. Dieser Begriff deutet einerseits auf die Eigenstandigkeit der Reizqualitaten als auch auf deren spezifisch sinngebundene Ver arbeitung hin. Tastsinn meint somit einen eigenstandigen und auch isoliert betrachtbaren Sinn, der die Wahrnehmung definierbarer Reizqualitaten errnoglicht. Tastsinn ist somit eine ubergeordnete Kategorie im Kontext der verschiedenen Sinne, die sich als Leitbegriff relativ stabil im deutschen Sprachgebrauch verankert hat. I In diesem Begriff sind naturgemaJ3 keine weiteren Differenzierungen des Sinnes und seiner besonderen Moglichkeiten enthalten. Er reflektiert auf allgemeiner Ebene nur die Tatsache, dass biologische Systeme wie der Mensch mit biologischen Einheiten (Organ-, Sensor- und Rezeptorsystemen) ausgestattet sind, die es gestatten, spezifische Umweltreize zu verarbeiten. Eine Bestimmung des Tastsinnes, die dar aufverweist, was der Tastsinn "ist" - im objektsprachlichen Sinne, kann somit nicht erfolgen. Die Sinnkategorie verweist auf die Moglichkeit einer spezifischen Umweltwahrnehmung, denn die biologische Funktion des Sinnes ist schlieBlich die Verarbeitung von Umweltreizen zur Verhaltensorientierung. Der Begriff "Tastsinn" bezeichnet demnach einen Eigenschafts begriff und dessen Verwendung erfolgt in den entsprechenden Beitragen vorwiegend vor dem Hintergrund zusammenfassender Analysen, zum Teil in Gegenuberstellung zu anderen Sinnen [2,3]. In Arbeiten von Campenhausen (1993) [5] und Bischof (1974) [6] werden zudem die Begriffe "Hautsinn" bzw. "Hautsinne" verwendet. Damit wird keine synonyme Bestimmung zum Tastsinn angestrebt, sondern es werden auf diese Weise die unterschiedlichen Reizquali taten, insbesondere die, die durch Hautrezeptoren erfasst werden, in einem Begriff zusam mengefasst. Der Tastsinn als Eigenschaft hochentwickelter biologischer Systeme, wie sie der Mensch und hOhere Primaten darstellen, wird auf morphologisch-funktioneller Ebene durch hochdiffer enzierte biologische Elementareinheiten reprasentiert, die sich in der Haut als auch im Mus kelgewebe, in Sehnen und Gelenken befinden. Diese Einheiten bilden die morphologisch funktionelle Basis des Tastsinnes, ohne deren Vorhandensein die Eigenschaft Tastsinn nicht ausgebildet werden kann. 1m Einzelnen werden diese Bestandteile und ihre funktionelle Dif ferenzierung im Kapitel II dargestellt. Entsprechend ihrer Lage im Organismus und ihrem Autbau erfiillen diese Elementareinheiten spezielle Teilfunktionen. Das heiBt, jede dieser I 1m Angelsachsischen wird hierfLir "sense of touch" genutzt [30].
Description: