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Der Begriff Christlich-sozial: Seine geschichtliche und theologische Problematik PDF

70 Pages·1962·2.022 MB·German
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ARBEITSGEMEIN SCHAFT FüR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN GEISTESWISSENSCHAFTEN 83. SITZUNG AM 20. DEZEMBER 1961 IN DüSSELDORF ARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN GEISTESWI S SEN SCHAFTEN HEFT 104 HEINZ-DIETRICH WENDLAND Der Begriff Christlich-sozial Seine geschichtliche und theologische Problematik HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAGE DES MINISTERPRÄSIDENTEN Dr.FRANZ MEYERS VON STAATSSEKRETÄR PROFESSOR Dr. h. c. Dr. E. h. LEO BRANDT HEINZ-DIETRICH WENDLAND Der Begriff Christlich-sozial Seine geschichtliche und theologische Problematik SPRINGER FACHMEDIEN WIESBADEN GMBH ISBN 978-3-663-00241-3 ISBN 978-3-663-02154-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-02154-4 © 1962 Springer Fachmedien Wiesbaden UrsprüngIich erschienen bei Westdeutscher Verlag . Köln und Opladen 1962 Dem Freunde Helmuth Schreiner zum dankbaren Gedächtnis I. Theologisch-kirchliche Voraussetzungen Wenn vor rund 30 Jahren der evangelische Theologe Wilhelm Lütgert in seinem Buch über »Das Ende des Idealismus im Zeitalter Bismarcks" die These vertreten hat, daß der christliche Sozialismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts aus der Erweckungsbewegung hervorgegangen sei 1, so hat diese These zumindest ihre Wahrheit darin, daß es in der Erweckungs bewegung eine Richtung gab, die die gläubige Subjektivität als eine aktive Subjektivität verstand. Dieses Verständnis des glaubenden Einzelnen als des Tätigen, Dienenden, im dienenden Gehorsam gegen Christus sich Realisie renden, hat den großen missionarischen Aufbruch des 19. Jahrhunderts in Bewegung gesetzt und gehört auch zu den entscheidenden Voraussetzungen all dessen, was wir traditionellerweise mit den Begriffen der evangelischen Inneren Mission, der Diakonie und der christlich-sozialen Bewegung zu be zeichnen pflegen Diese gläubige, aktive Subjektivität war keineswegs un 2. kritisch gegenüber den Verhältnissen, vor allen Dingen nicht denjenigen, in denen sie sich in den herkömmlichen Landes- und Volkskirchen vor fand. Auch dieses eigentümliche kirchenkritische Pathos, das für die Er weckungsbewegung charakteristisch ist, gehört zu den Voraussetzungen des sen, was man später unter »Christlich-sozial" verstanden hat. In dieser Erweckungsbewegung wurde, um einen treffenden Ausdruck für diesen Sach verhalt zu zitieren, die »wahre Gemeinde des Herrn" von der Masse der Kirchenangehörigen der Volks- und Landeskirchen sehr scharf unterschie den. Es gab unter den Theologen der Erweckungsbewegung solche, denen 1 Gütersloh 1930, S. 94. - Zum Ganzen vgl. den Art. von Ernst Wolf, Christlich-sozial, RGG3 Bd. I, Tübingen 1957, Sp. 1740 H. und die dort angegebene Literatur. Z Wir beschränken uns in dieser Darlegung ganz auf die evangelisch-soziale Bewegung seit J. H. Wichern. Eine Geschichte des Begriffs »Christlich-sozial" zu geben, liegt nicht in unserer Absicht; uns kommt es vielmehr auf die Herausarbeitung seines theologisch-ethi schen Sach- und Problemgehaltes an. 8 Heinz-Dietridt Wendland die Landeskirche höchstens als eine Art religiöses Erziehungsinstitut, als eine Art höherer "Synagoge" erschienen ist (J. Tob. Beck). Nun hat sich mit dieser in der aktiven Richtung der christlichen Erwek kung des 19. Jahrhunderts liegenden Antriebskraft aber eine andere ver bunden, die mir gleichfalls zu den geschichtlichen Voraussetzungen der christ lich-sozialen Bewegung auf evangelischem Boden zu gehören scheint. Das ist nämlich die idealistische Leidenschaft für die großen Einigungen, die großen Versöhnungen von Glaube und Vernunft, Kirche und Welt und von Kirche und Staat, also ein idealistisches Versöhnungs- und Verschmelzungs pathos, das etwa in der Mitte des Jahrhunderts in großartiger Form in der theologischen Ethik von Richard Rothe wirksam ist. Hier liegt eine positive Voraussetzung für die Möglichkeit des Begriffes "Christlich-sozial" und überhaupt jeder christlichen Konzeption einer sozialen Ordnung im 19. Jahr hundert, und zwar insofern, als hier - etwa bei Rothe - die Tendenz auf eine universale Christianisierung oder Heiligung der Welt, zugleich aber auch auf eine universale Entkirchlichung der Welt gerichtet war, also eine paradoxerweise ebenso heilige wie profane Civitas Dei als Vollendung des Weltprozesses. In einem Staate der alldurchdringenden und absolut alles miteinander versöhnenden Humanität sollte ja die Gesellschafts- und Menschheitsgeschichte ihr Ende finden 3. Ganz im Gegensatz zu dieser Tendenz stand nun freilich eine andere, die für eine gewisse Haltung innerhalb des lutherischen Kirchenturns und der lutherischen Theologie des 19. Jahrhunderts kennzeichnend gewesen ist und auf die uns in den letzten Jahren Johannes Heckel hingewiesen hat'. Ich verstehe nämlich als eine negative Voraussetzung der Möglichkeit der christ lich-sozialen Idee und Bewegung jene eigentümliche Entstellung und Ver kehrung der lutherischen Lehre von den zwei Reichen (dem Reiche Christi und dem Reiche der Welt), die sich dadurch ereignet hat, daß man im 19. Jahrhundert das Reich Christi in den Innenbereich der gläubigen Subjektivi tät verlagert, um nicht zu sagen eingeschlossen hat. Diese Tatsache der Spiri tualisierung des Reiches Christi bedeutet aber für die kirchliche Verkündi gung und für das Verhältnis des einzelnen Christen zu der ihn umgebenden Weltwirklichkeit eine außerordentliche Gefahr. Auf dem Wege dieser Ver- 3 Zu R. Rothe vgl. zuletzt Christian Walther, Typen des Reidt-Gottes-Verständnisses (im 19. Jahrhundert), München 1961, S. 117 H. 4 Joh. Heckel, Der Ansatz einer evangelischen Sozialethik bei Martin Luther, in: Theod. Heckel (Hg.), Die ev. Kirdte in der modernen Gesellschaft, Mündten 1956, S. 34 f. Luther erscheint hier nach Heckel als Lehrer einer "bürgerlidt-konservativen Ethik" im Zeitalter des konstitutionellen protestantisdten Staates. Der Begriff Christlidt-soziaI 9 innerlichung des Reiches Christi kam es nämlich zu einer Ausklammerung ganzer Lebenssphären aus dem Bereiche der Verkündigung der Kirche. Es trat an die Stelle des totus homo eine Art von homo privatus, ein christlicher Privatmensch, dessen Glaube nur in der Intimsphäre sich auswirkt. In dieser Intimsphäre des Privatmenschen gibt es religiöse überzeugungen und Erlebnisse. Wenn man ein wenig zuspitzt, wird man sagen dürfen, daß hier einer der Ansatzpunkte für das verhängnisvolle Gegenüber zweier Eigen gesetzlichkeiten liegt, der Eigengesetzlichkeit einer religiösen Intim- und Subjektssphäre auf der einen Seite und der Eigengesetzlichkeit der soge nannten Weltwirklichkeit in Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf der anderen Seite. Nun ist man seitdem jahrzehntelang bemüht ge wesen, dieses Auseinandergefallene wieder irgend wie zusammenzubiegen und zusammenzukonstruieren, ohne daß dies gelingen wollte. Diese Aus klammerung von Realitätssphären aus dem Bereich der Verkündigung der Kirche ist aber etwas, was man der genuinen, Zwei-Reiche-Lehre Luthers gewiß nicht zum Vorwurf machen kann. Denn sie versuchte ja den Menschen gerade als die konkrete leibhaft-geschichtliche Person des totus homo an dem gesellschaftlichen und politischen Weltort, an dem er sich befindet, mit der Verkündung von Gesetz und Evangelium anzusprechen und zu erreichen. Hier liegt also jene verhängnisvolle Ausklammerung des Menschen als ge sellschaftlicher und politischer Existenz noch keineswegs vor. Wahrschein lich ist das eigentümliche Pathos, das aus dem Begriff "Christlich-sozial" in seinen Ursprungszeiten erklingt, auch daraus zu erklären, daß man gegen diese Gefahr der reinen Spiritualisierung und Verinnerlichung, gegen die Beschränkung des Glaubens auf die Intimsphäre zu Felde ziehen wollte. So gehört es zu den negativen Voraussetzungen der Möglichkeit des Begriffes "Christlich-sozial", daß diese Verinnerlichung und der damit gegebene Rück zug der Verkündigung aus der Welt schon vollzogen war. Dem entsprach naturgemäß die Vorstellung einer passiven Gemeinde, welche die Predigt des Evangeliums empfängt, aber darauf verzichtet, eine in der Welt, d. h. in der Gesellschaft, in welcher sie lebt, handelnde Gemeinde zu sein. Der aktive Dienst des Christen an der Welt war allenfalls eine Sache seines privaten Ermessens, aber nicht mehr die Bewährung des Gehorsams gegen Christus, die auf der Sendung der Gemeinde in die Welt beruht. Diese Haltung löst den Anspruch des Evangeliums auf den ganzen Men schen an seinem realen Weltstandort auf. Um so begreiflicher die Wirkung des idealistischen Denkens, das den Gegensatz Gott-Welt, Kirche-Welt aufzuheben sich bemüht und so eine Begrifflichkeit anbietet, mit der man 10 Heinz-Dietrich Wendland die Beziehung der Kirche und des Christen zur Welt positiv, im Sinne von Gestaltungsmöglichkeiten und -aufgaben ausdrücken konnte. Von hier aus gesehen war es sehr wohl begreiflich, daß diejenigen, die über Pietismus und Orthodoxie in deren damaliger Form hinausstrebten, sich der ideali stischen Denkformen bedienen mußten. Dies muß man bedenken, wenn man ins Auge faßt, daß eine Reihe von kirchlichen und theologischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts eine so un gewöhnliche Lust und Freude an synthetischen Formulierungen haben, zum Beispiel an der Formel "Christlich-sozial" oder an den Formeln christ licher Staat, christlicher Sozialismus, christliche Gesellschaft, christliche Völ ker und Nationen. Die Lust an diesen synthetischen Formeln ist schließlich, wenn wir recht sehen, geradezu in einen Verschleiß und gefährlichen Sub stanzverlust dieses Adjektivs "christlich" ausgeartet. So war es denn kein Wunder, sondern eine legitime theologische Notwendigkeit, wenn in den zwanziger Jahren Karl Barth und die Seinigen zum Angriff auf diese syn thetischen Formeln, auf dieses - wie man damals sagte - "Bindestrich-Chri stentum" übergegangen sind. Immerhin, in dem Bezugsrahmen der damaligen Epoche gesehen, wird niemand, der gerecht zu beurteilen wünscht, übersehen können, daß die Leidenschaft zur universalen Christianisierung oder Rechristianisierung der gesamten Gesellschaft, wie sie hinter der Formel "Christlich-sozial" letzten Endes steht, ihren Angriffskeil gegen jenen gefahrbringenden Rückzug aus der Welt, besonders jener oben bestimmten Richtung der lutherischen Theo logie und Kirche, richtet. Freilich sah man sich nun, wenn man für diese Chri stianisierung der ganzen Gesellschaft oder diese - wie man damals aus bestimmten Gründen sagen und denken mußte - Rechristianisierung und christliche "Regeneration" der Gesellschaft Vorbilder suchte, durchaus an die Geschichte verwiesen. Dann geriet man in die Gefahr, sich ein verklärendes Bild der mittelalterlichen, christlichen Gesellschaft, der Kirche und Gesell schaft der Mitte des 19. Jahrhunderts beschwörend vor das Auge zu halten, oder man griff auf jene einheitliche alte, reformatorische Volkskirche zurück, in der, vom Landesfürsten oben angefangen bis zum letzten Tagelöhner, alle Glieder der Gesellschaft in dieser Volkskirche integriert und im Gottes dienst der Kirche präsent waren, dort also den Ort hatten, an dem ihre soziale, ihre politische und ihre kirchliche Exi.stenz gleichzeitig legitimiert, begründet und begrenzt wurde. Aber eben diese Notwendigkeit, den Weg zu solchen geschichtlichen Ur oder Vorbildern anzutreten, schloß, wie sich noch zeigen wird, für die Der Begriff Christlim-sozial 11 christlich-soziale Bewegung manche Gefahr in sich. In dem Griff nach dem Bilde einer vom christlichen Geist durchwalteten Gesamtgesellschaft spürt man schon den Druck der radikalen Emanzipation und Säkularisierung der Kultur und der Gesellschaft, die sich in Gestalt der radikalen Intelligenz und ihrer Religionskritik sowie der anhebenden sozialistischen Bewegung be merkbar machten. Konnte man aber von den zum Ideal erhobenen Bildern einer Einheit von Kirche und Gesellschaft aus wirklich dem eingetretenen Bruch zwischen diesen beiden und der» Verweltlichung" in ihren letzten Gründen gerecht werden, die seit etwa 1830 immer stärker wirkten und die Entwicklung der industriellen, technischen Gesellschaft vorantrieben? Selbstverständlich handelt es sich bei all dem, was wir soeben angedeutet haben, nur um eine Auswahl derjenigen Voraussetzungen, die das Begriffs symbol "Christlich-sozial" möglich gemacht haben, nicht etwa um eine vollständige Darstellung der Entstehungsgründe der christlich-sozialen Be wegung. Unsere Absicht ist auf die Sachprobleme gerichtet, die in diesem Losungswort verborgen sind. II. Grundelemente der christlich-sozialen Konzeption (insbesondere bei}. H. Wichern)5 Fragen wir nun nach einigen tragenden Strukturelementen dieses synthe tischen Willens zur Versöhnung von Kirche und Welt, dieses Willens zur universalen Christianisierung oder Rechristianisierung der damaligen Ge sellschaft. Das Ziel ist klassisch von Johann Hinrich Wiehern in wechseln den Ausdrücken als die »christliche Regeneration" des gesamten Volkslebens, als die »Rettung" der Christus entfremdeten Massen beschrieben worden. 5 Da von der neuen, kritismen Gesamtausgabe der Werke J. H. Wicherns, die P. Mein hold herausgibt, vorerst nur zwei Teilbände sozialpädagogismen Inhalts ersmienen sind (Bd. IV/1 Smriften z. Sozialpädagogik [Rauhes Haus und Johannesstift], Berlin 1958, IV/2 mit der gleimen Thematik, Berlin 1959), so sind wir für die Sozialethik Widlerns und seine Vorstellung vom »roristliroen Sozialismus" noch auf die unzureiroende, alte Ausgabe »Gesammelte Smriften" ed. J. Wiroern, L-VL Bd., Hamburg 1901-1908, besonders Bd. III: Prinzipielles zur Inneren Mission, ed. Fr. Wahling, angewiesen bzw. auf]. H. Wiehern, Ausgewählte Sroriften Bd. 1, Sroriften z. sozialen Frage, hrsg. von K. Janssen, Gütersloh 1956; in dieser Auswahl ist auro der für unsere Darlegung wimtige Aufsatz von 1848 »Kommunismus und die Hülfe gegen ihn" enthalten, a. a. 0., S. 89 H. Die lehrreime Ein leitung von K. Janssen behandelt sowohl Wicherns theologisches Denken (S. 19 H.) als auro seine »sozialen Leitgedanken" (S. 43 H.).

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