Inhalt I 1984 9 II 1985 13 III 1986 15 IV 1987 34 V 1988 87 VI 1989 181 VII 1990 277 VIII 1991 368 IX 1992 392 X 1993 XI Bildteil XII Fotonachweis «Aber wenn schon nichts mehr übriggeblieben ist von der alten Ver- gangenheit, wenn die Personen gestorben und die Dinge zerbrochen sind, dann bleiben alleine der Duft und der Geschmack der Dinge übrig — zerbrechlicher, lebendiger, immaterieller, andauernder und treuer denn je zuvor. Sie werden daran erinnern, auf den Ruinen des Ganzen wachen und warten, und sie werden unnachgiebig im uner- schütterlichen und nicht greifbaren Inneren ihrer selbst das riesige Gebäude der Erinnerung tragen.» Marcel Proust «In Swanns Welt» 1984 Kapitel III Kann man diese Begegnung Zufall nennen? Schicksal? Ich weiss es bis heute nicht genau. Im Frühherbst arbeite ich in einer Versicherung in der Stadt Zürich, und die stellen ihren Mitarbeiterinnen in Paris, in der Nähe des Are de Triomphe, eine kleine Wohnung zur Verfügung. Mit einer Kollegin zusammen beschliesse ich ein paar Tage dort zu verbringen. Wir fahren mit dem Nachtzug. In Basel muss umgestiegen werden. Auf dem Perron kommt mir ein Mann mit auffallend wallenden Haaren und korpulenter Statur entgegen. Es fahrt mir durch den Kopf, dass mir diese monströse Erscheinung bekannt ist. Unlängst sah ich ihn in der «Weltwoche» abgebildet. Ich lache und meine zu meiner Begleiterin, dass sie diesen Mann bestimmt kennen würde. Ich lache wohl etwas zu auffallig - auf jeden Fall steht dieser gewaltige Mann plötzlich im Zug wieder vor mir. Naiv frage ich ihn, ob er M. sei — er schaut mich hypnotisch an, mit seinen einsaugenden Augäpfeln, und bejaht. Er fragt mich, was ich hier mache. Ich antworte: «Ich bin auf den Spuren von Baudelaire.» — Flirrende Momente, er schaut meine Kollegin an, prüfend. Er kommt zu uns ins Abteil. Irgendwann hole ich mein kleines Notizbüchlein hervor, in das ich manchmal meine Gedankenblitze notiere. Ich lese ihm vor: «Ist denn alles mit einem Schrei behaftet? — In sich diese Bremsen, die sie spürte. Seit Geburt wurden ihr diese Bremsen eingebaut. Die Nächte gehören nicht ihr. Sie sind nur gemietet. Stundenveise in Pacht genommen. Von den Vermietern in allerkleinste Dimensionen zerlegt. Die Nächte gehören dem Oberaufseher. Die Welt ist unbestimmbar und kann niemals uns gehören.» Beim letzten Satz: «Jedes Organ hat sein Pseudonym», horcht M. merklich auf und nickt. Und so parlieren wir denn über Leute, die wir kennen ... Er möchte mehr über meine mitreisende Kollegin wissen. Er erwähnt die Caroline von Monaco, von der er meint, die hätte eine schöne Haut, mediterran. Ein französischer Schriftsteller, den er persönlich kenne, habe mit der Caroline 3geschlafen, die hätte sich aber im Bett überhaupt nicht bewegt. Irgendwann, sehr spät — es ist bestimmt schon gegen Morgen — quetschen wir uns in die oberste Zugspritsche, er beginnt an mir herumzugrapschen. Er meint, dies sei nur eine Vorahnung von dem, was noch auf mich zukommen würde ... Völlig zerknittert kommen wir frühmorgens in Paris an. Draussen frägt er mich nach meiner Adresse und Telefon- nummer in Zürich — und wir verabreden uns für den selben Tag um sechs Uhr abends am Place Saint Michel, beim Brunnen. Weg ist er. Meine Begleiterin und ich nehmen ein Taxi und lassen uns in die Kombüse der Versicherungsgesellschaft fahren. Bis über beide Ohren bin ich von diesem mystischen M. enthu- siasmiert. Ich nehme nicht einmal mehr meine Kollegin richtig wahr, die verständlicherweise wütend wird und Paris noch am selben Tag Richtung Schweiz verlässt. Mit einem braunen Hosenanzug und «Zoggeli» erscheine ich pünktlich um sechs Uhr am vereinbarten Platz; er ist schon da, schwingt mich in seine starken Arme, zieht mich mit sich fort. Ich geniesse den anonymen Schutz der Fremde, meine Pantinen klimpern neckisch auf dem Asphalt. Jung bin ich, stürmisch, verliebt und gierig nach den surrealsten Begegnungen. Plötzlich hält er in der Mitte einer Gasse an, ein Männerkopf schaut aus einem Fenster; ein Wortwechsel. Der Mann kommt nach unten. Zusammen gehen wir in eine nahegelegene Pinte. M. stellt mir den Mann vor, Fred Müller, Journalist in der DDR für den «Tages-Anzeiger». Sie debattieren über seine Ex-Anstellung beim «Stern», er verdonnert dieses Organ, ächzt über Hamburg. Ich spiele die euphorisch Unbekümmerte, umarme und küsse ihn vor seinem Berufskollegen, mache die Femme fatale. 4 Nachher in seiner Wohnung sagt er zu mir, das sei ein feiner Typ, dieser Fred Müller. Die Behausung von M. hat etwas Tropfsteinhöhlenartiges; ein einziges Bildchen, das da an der Wand hängt und Rim- baud zeigt; so ähnlich habe ich mir die Unterkünfte von Baudelaire imaginiert. Alles andere denn luxuriös, aber dieses Logis passt vorzüglich zu M. Herausgeschnitten aus einem Autorenfilm. Der Boden ist mit unebenen Kacheln belegt, etwas Unfertiges, Improvisiertes haftet allem an, ich fühle mich da sofort zu Hause, gerate in einen orgiastischen Zauber. Plötzlich befinde ich mich mit ihm in der Badewanne, er ist auf Spiele mit der Brause geradezu versessen. Eine unbeholfene Angelegenheit. Auffallend: Wie ein rastloser Tiger durchforstet er die Räume, jetzt, wo er sich sexuell entladen hat. Nachher besuchen wir eine Pizzeria. Ich übernehme die Kosten, er macht so einen «abgerissenen» Eindruck. Am Schluss hat er einen Zusammenprall mit dem Kellner, da dieser die Bezahlung nicht sofort entgegennimmt. Er wütet draussen weiter und meint, er müsse seine Arbeit auch seriös erledigen. Er meint dann, ich könne nicht mehr länger blei- ben, er erwarte eine alte Freundin. Wie betäubt gehe ich weg, mein ganzes Ich ist durchein- andergeraten. Ich gehe in mein Logis und falle in einen bleiernen Schlaf. Anderntags gehe ich auf den Montmartre und betäube mich mit einem afghanischen Maler. Nur nicht in Traurigkeit versinken, ein Abenteuer im nächsten ertränken; Tag und Nacht das Einzigartige, das Schillernde umarmen, dem Ster- ben, dem Tod die Stirn bieten — es gibt keinen Tod in Paris. Zu diesem Zeitpunkt wohne ich an der Winterthurer- strasse in Zürich. Gleich nach meinem Paris-Aufenthalt muss ich mich im Krankenhaus Sanitas einer Operation unterziehen. Ich sage M., er könne mich im Spital besuchen. Danach diverse Anrufe von ihm. Trotzdem ist er noch nicht wirklich in meinen Lebenskreis eingetreten. Da telefoniert jemand, wie aus einer Bärengrotte brummelt seine Stimme am anderen Ende. Und dann höre ich nur noch sehr selten von ihm. Ich rufe ihn nie an, suche ihn nicht, finde Paris lediglich ein amüsan- 5 tes Erlebnis, weiter nichts ... Im Winter ruft er einmal sehr spät an — er komme gleich vorbei. Ich schliesse ihm unten in meinem rosa Nachthemd die Haustüre auf. An dieser Schnellstrasse wohne ich im obersten Stock, und nie werde ich vergessen, wie grauenvoll renitent er da geschnarcht hat. Ich stupse ihn immer wieder an, wenn er zu seinem wilden Gekrächze ansetzt - er sei- nerseits bekommt gefährliche Wutanfalle, weil ich es wage, ihn in seinem Schlaf zu stören. Am Morgen sage ich ihm anklagend, ich hätte wegen seines nächtlichen Konzerts kein Auge zugetan. Er verlässt das Haus früh mit seinem legen- dären Töff-Helm in der Pranke. Wirft den Schlüsselbund in den Briefkasten statt in den Milchkasten, so dass ich gezwungen bin, jemanden zu holen, der mir meine Schlüssel wieder rausfischt. Im Frühling 1985 Standortveränderung an die Kanzleistrasse. Die neu bezogene Wohnung weist einen modernen Grundriss auf: Da ist nur ein grosser Raum, die Küche abgewinkelt, ein zusam- menklappbares Eisenbett, schmal, und jedesmal wenn M. draufplumpst, Angst, die ganze Wohnung würde in sich zusammenkrachen ... Er ruft selten an. Eigenartigerweise meldet er sich manchmal ab, wenn er ins Ausland geht, nach England zum Beispiel. Ich registriere es und fahre auf sein Geheiss auch schon mal mit dem Taxi nach Oerlikon in seine Wohnung, wo ein kreatives Durcheinander herrscht. Manchmal schlafe ich auch da, unterlasse es aber meistens, da mich sein Schnarchen enerviert. — Er empfangt mich wie ein ungezogener Junge, in seinen Socken steht er da und liest mir Texte vor, ungebeten, wie ein Panther im Käfig hin- und heqagend, zwischendurch an einer Gauloise gelb ziehend. Es ist eine unwiederbringliche Zeit, meine Mädchenzeit, eine unendlich lieblich-weltentrückte, aufregende und span- nende Zeit voller Überraschungen. Ich jobbe als Sekretärin bei einem Wissenschafter. Über- 6 schneidungen der Sphären: Ich schreibe an einem Briefro- man, beende den Sekretärinnen-Job Ende August und reise nach Madrid, um meine Spanischkenntnisse zu verbessern. So bin ich gezwungenermassen aus der Gefahren-Zone von M. heraus. Wieder in die Schweiz zurückgekehrt, arbeite ich vorerst im Rheintal in einer Lokalzeitung als Korrektorin, finde aber bald darauf eine Stelle in der Nähe von Zürich, und M. meint vorwurfsvoll, ich sei alles in allem doch recht lange weggewesen. Im Spätherbst 1985 sehen wir uns erstmals wieder, und er fordert mich auf, über sein kürzlich erschie- nenes Buch «Der wissenschaflliche Spazierstock» eine Rezension zu schreiben. Sie erscheint dann im «Rheintaler». Er meint, warum ich in dieser Zeitung nicht als Redaktorin arbeite. Ich frage ihn, ob er Lust hätte, im »Rheintaler» zu schreiben? Er erkundigt sich beschützerhaft nach meinem Briefroman und sagt, wenn ich noch keinen Verlag gefunden hätte, könne er mir jederzeit helfen. Keine Kontinuität unserer Zusammentreffen kann ich zu dieser Zeit feststellen, es wundert mich vielmehr, dass er sich immer wieder bei mir meldet. 1986 1. Februar Er ruft an und meint, er müsse mir einen Artikel zeigen, der über ihn in der «Süddeutschen Zeitung» erschienen sei. Das sei eben schon ein «anderes Niveau», wie die über ihn berichten würden. Das sei nicht ganz so provinziell. Lola ist bei mir zu Besuch. Alle drei in meiner kleinen Wohnung. Alle drei besoffen. Er findet Lola sehr schön, ist fasziniert von ihr. Ich bin eifersüchtig. Von jetzt an registriere ich, dass ich einem inneren Zwang nachgebe und mir von irgendwoher eingegeben wird, alles zu notieren. Ich kaufe 7 Schulhefte und beschliesse, meine Zusammenkünfte mit M. aufzuzeichnen. 17. Februar Auf ein Telefonat von M. fahre ich um viertel vor neun Uhr abends zu ihm nach Oerlikon. Ich schenke ihm das Buch «Boheme» von Goya. Mir fallt auf, wie melancholisch er ist und entdecke mit Besorgnis seine schon etwas ergrauten Haare. Ich habe das erste Mal das Gefühl, dass er sowas wie zärtliche Gefühle mir gegenüber in sich aufkommen lässt. Kein Stier- Gebaren heute - dafür mache ich Bekanntschaft mit der männlichen Impotenz. Ich versuche mir eine ernsthafte Krise von M. vorzustellen. Unheimlich. Da wird er in Abgründe hinabgeschickt, die niemand mehr nachvollziehen kann! Er fragt mich, was ich jeweils machen würde, wenn ich melancholische Schübe hätte? Ich mein', ich steige dann in den Zug, reise beispielsweise nach Lausanne oder Genf, quatsche da wildfremde Menschen an. Voilä. — Mit seinen glubschigen Augen durchfiltert er mich. Der dreidi- mensionale Blick. — Beleidigt und erregt sage ich ihm, er sei ein Psychopath, da er sexuell nichts zustande bringe — er schreckt auf und meint drohend, ich müsse aufpassen, wie ich mit ihm rede ... Er gibt dann zu, dass er längere Zeit nicht habe schreiben können. "Wir unterhalten uns über Schweizer Schreibende, und er meint, seine zwei bevorzugten Schriftstellerinnen seien Eveline Hasler und Laure Wyss. Eine enorme Antipathie habe er gegen Blatter, Nizon, Muschg, Otto F. Walter und den Filmer L. Ich will wissen, weshalb er mich immer wieder sehen möche? Er meint resümierend, da sei eine unterirdische Ver- bindung von Geist und Sex bei mir auszumachen; für ihn sei ich die schöne Hexe. Er erwähnt unser erstes surrealistisches, exterritoriales Zusammenprallen in der französischen Hauptstadt. Er proklamiert: «Etwas ist zwischen uns, viel- leicht bist du auch zu verrückt — eigentlich sollte man sich nur mit <braven> Personen abgeben.» Während unser Gespräch um Balzac, George Sand und Flaubert kreist, betrinken wir uns heftig mit Veltliner. Ich mache ihm unter anderem klar, dass ich eine der letzten noch 8 lebenden Boheme-Frauen der Schweiz sei. Zu seiner Person sage ich: Müsste ich ein Buch über ihn schreiben, würde ich es «Der verletzte Engel» betiteln. Er meint darauf, dieser Titel wäre nicht schlecht gewählt. Schleppend schwer die Kommunikation. Ich beschliesse daher, nicht allzulange zu bleiben. 24. Februar Jetzt denke ich tagsüber manchmal an ihn. Weinen könnte ich. Momentan ist er der einzige Mensch in meinem Leben, den ich zutiefst verstehe, den ich zu kennen glaube. Ich weiss, irgendwie, unsichtbar, steht er permanent neben mir und hält seine schützende Hand über mich. Beruhigend wirkt er auf mein Leben, obwohl gerade er die beunruhigendsten Ideen in seinem Hirn herumträgt. «Drei Tage mit James Joyce», fotografiert von Gisèle Freund, möchte ich ihm gerne schenken. Wahrscheinlich hatte dieser Schriftsteller eine ähnlich gestörte Beziehung zur Fotografie wie M. Und Joyce ist einer seiner Lieblingsautoren. Ihm etwas zu schenken ist schwierig. Möchte er überhaupt beschenkt werden? Wie mit dem nie angekommenen Märchenbuch von Oscar Wilde, das ich ihm zusenden liess! Ob es tatsächlich als Postsendung verlorengegangen ist? 7. März Warum Motorrad-Fahrer? Ja, das kann nur der wissen, der in einer solchen Bären-Physis wie M. steckt. Seit dem 17. Februar hat er sich nicht mehr gemeldet. — Vielleicht hat ihn eine Schreibwut befallen, ist er in irgendein Land gereist für eine Reportage. 12. März Er kommt heute um zwei Uhr bei mir vorbei und teilt mit, dass er jetzt Theaterstücke schreiben werde. — Lobt mein «französisches Kleid», meint, die weissen Streifen oben am Hals würden das Ganze «herausputzen». Wieder betont er, 9 dass er mir behilflich sein würde, einen Verlag für meinen Briefroman zu finden, und zwar zuerst einen Schweizer Ver- lag. Er will Frau N. von mir erzählen ... von der «verrückten Hexe». Wir vertiefen uns dann ins Hemingivay-Buch von Fernanda Pivano und führen «Selbstmordgespräche». Er schlägt mir vor, die Hemingway-Biografie vom Rusconi-Verlag ins Deutsche zu übersetzen. — Er meint, wenn er nicht schreiben würde, wäre er kriminell geworden ... und er glaube heute, dass er sich nicht umbringen würde. 25. März Ich bin aus Deutschland zurück, M. ruft an. Wie konnte er wissen, dass ich wieder da bin? Zum erstenmal spüre ich seine sexuelle Abhängigkeit von mir. Ich spüre Angst in mir hochkriechen. Angst, mich ernsthaft in ihn zu verlieben. In seiner Wohnung sind zwei Matratzen positioniert: eine als Lesematratze im Zimmer mit den vielen verstreuten Büchern, die andere als Liebesmatratze im Schlafzimmer. — Ich schenke ihm das Fotobuch von Gisèle Freund mit Aufnah- men von James Joyce. Er freut sich und betont immer wieder, wie gut diese Fotos seien. 29. März M. ruft von einem Restaurant in Oerlikon an und meint, ich solle um zwölf Uhr bei ihm vorbeikommen. Ich gehe hin und frage ihn, wer er sein möchte, wenn er drei Minuten lang eine andere Person sein könnte. — Er meint, er wäre am liebsten Kennedy ... Ich vertraue ihm an: «Caroline von Monaco.» Ich bringe ihm den Verriss seines «Heidi-Artikels» im «Sonntags-Blick», datiert vom 23. Februar. Er zitiert mör- derisch-anklagend: «Wenig aufregendes Opus.» — Ich konsta- tiere, dass ich bei ihm heute eine sagenhafte Leere spüren würde. Er bestätigt das. Wir erörtern meine Rezension seines «Wissenschaftlichen Spazierstocks». Er registriert, wir hätten beide etwa den selben Grad an Verrücktheit, und das sei etwas Gefährliches. Während er das 10