DAS VERBRECHEN II DER DELINQUENT IM GRIFF DER UMWELTKRÄFTE VON HANS HENTIG VON UNIVERSITÄT BONN SPRINGER-VERLAG BERUN HEIDELBERG GMBH 1962 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen © by Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1962 Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag OHG / Berlin. Göttingen • Heidelberg 1962 Softcoverreprint of the hardcover 1st edition 1962 ISBN 978-3-662-40762-2 ISBN 978-3-662-41246-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-41246-6 FERDINAND SPRINGER ZUM 80. GEBURTSTAG UND ALS ZEICHEN EINES ALTEN BUNDES Vorwort Obwohl einer Soziologie des Verbrechens, wie sie mir vorschwebt, noch mancherlei Behinderung im Wege steht-Eintönigkeit der Frage stellung, statistischer Beharrungstrieb, emotioneller Gegensatz von "Sakrament" und antastbarer Norm von Menschenhand- so bin ich vor dem Wagnis nicht zurückgeschreckt, der Lehre vom Verbrechen, dem die Umwelt forthilft, einen Baustein beizutragen. Ich brauche schwerlich zu betonen, daß sich die junge, unvollkommene Wissenschaft vom kriminellen Menschen nur auf Erfahrung gründen darf, Tatsachen, die in Widerspruch und Wechsel Hypothesen korri gieren und nur sehr langsam sich zu anerkannter Theorie verdichten. Mit voller Absicht habe ich daher den Lebensphänomenen neben kritisch überprüften Zahlen und einer Reihe von behutsam vorgetragenen Thesen Vorrang eingeräumt. Tatsachen bleiben, häufen sich in ungebrochener Fülle und zwingen neue, ungewünschte Deutung ab. Rein die Erfahrung hat dazu geführt, das Opfer in den Kreis der Umweltkräfte einzuschließen und soziologisch viel bestimmter ihm die Stellung anzuweisen, die ich vor Jahren zögernd noch umschrieben habe. Seit jenem Buche (The criminal and his victim, New Haven, Yale University Press 1948) hat die Wissenschaft in Für und Wider dem Problem den Ritterschlag gegeben. Für mich erwuchs aus der Entwicklung das Gebot, die Gruppe: Täter Opfer sehr viel gründlicher zu untersuchen. Tölz, Oberbayern, Herbst 1961 HANS VON HENTIG Inhaltsverzeichnis Einleitung Vom Doppelwesen der sozialen Kräfte Seite A. Die Menschenumwelt ist ein Mischgebilde . . . 1 B. Ambivalenz der Umweltformen ...... . 9 C. Vielheit und Vielfalt wirtschaftlicher Elemente 19 Erstes Buch Die materiellen Massenkrisen A. Geldentwertung . . 37 B. Der Wertverlust der Arbeitskraft: die Depression 49 Zweites Buch Das Völkerleben in der Krise: Krieg A. Die demographische Zerreißung . . . 79 B. Die wirtschaftliche Umgestaltung .. 87 C. Die Reversion auf seelischem Gebiete 93 D. Die Kriminalität des Kriegsgetümmels 104 E. Die heimatliche Nachkriegskrise . . . 132 Drittes Buch Dynamik kollektiver Kräfte A. Der Staat als Vorbild ............. . 149 B. Die Kirchensatzung . . . . . . . . . . . . . . . 164 C. Die großen suggestiven Apparate: Buch, Presse, Fernsehen, Radio, Film . 184 D. Spontane Gruppenbildung defensiver Art. . . . 190 E. Gesellschaftsformen gleicher Lebensziele . . . . 201 F. Die raumgeborene Gemeinschaft: Nachbarschaft 212 G. Kleingruppen in Entstehung und Zerfall . . . . 218 Inhaltsverzeichnis VII Viertes Buch Die Problematik der Familiengruppen Seite A. Die Ehegatten 239 I. Die Ehe: LebenshiHe und -erschwerung 239 2. Die Ehe: Trennung, innerer Zerfall . . 248 3. Das Bild der Zahlen . . . . . . . . . 260 4. Die Ehe: Tod und Abbruch durch die Scheidung 276 B. Eltern und Kinder 288 C. Stiefeltern . . . . 303 D. Die Schwägerschaft 311 E. Die Geschwistergruppe . 317 F. Kinder aus Rumpf- und Restfamilien 328 Fünftes Buch Das Opfer als ein Element der Umwelt A. Dogmatik, Zahlen, Dunkelfeld 364 B. Opfersituationen 394 I. Opferräume und Opferzeiten 394 2. Das isolierte Opfer 400 3. Nähe als Noxe und Entwaffnung 411 4. Die Opfersituationen der Berufsausübung 433 C. Das Opfer als Impuls und Hemmungswegfall 439 I. Gewinngierige 439 2. Lebensgierige . 442 3. Aggressive . . 446 4. Wertlose Opfer 457 D. Das Opfer mit dem reduzierten Widerstand 460 I. Emotionelle Stimmungslagen . 460 2. Normale Lebensübergänge . . 468 3. Perverse, Trinker, Depressive . 477 4. Willige Opfer . . . . . . . . 488 E. Biologie des Opfers. Problematik des Verletzten . 493 I. Wehrlose, falsche und immune Opfer 493 2. Erbliche Opfer, Rückfallsopfer; Opfer, die zu Tätern werden . 499 Autorenverzeichnis 516 Sachverzeichnis. . 523 Einleitung Vom Doppelwesen der sozialen Kräfte A. Die Menschenumwelt ist ein Mischgebilde Die alte Unterscheidung zwischen Anlage und Umwelt bedeutet, daß wir einem lebenden Kern von Reaktionen Reize gegenüberstellen, die von außen her einfallen. Die Umwelt der Pflanze ist im wesentlichen physikalischer Natur, Licht, Wasser, Wind und chemische Beschaffen heit des Bodens. Aber schon hier treten Andeutungen einer Symbiose mit anderen Pflanzenarten auf. Die Tierwelt begegnet dem Anspruch harter physikalischer Kräfte mit selbstgeschaffener Umwelt-Gegenenergie, der Herden-, Gruppen-, Staatenbildung. Der Mensch hat von der Tierwelt die bewährte Lebens hilfe übernommen, verfeinert und in einer solchen Stärke ausgebildet, daß sie imstande war, Instinkte des Zusammenlebens hochzuzüchten und dergestalt, gestützt auf festgehaltene Mutationen, in das Gehege konstitutioneller Kräfte einzubrechen. Moral insane zu sein ist bio logisch und sozial ein Fehlschlag, zwiefaches Ziel auslesender Prozesse. Zwar glaubt der Mensch, Herr der physikalischen Umgebung geworden zu sein. Er hat sie weit zurückgedrängt, nicht überwunden. An ihre Stelle hat sich eine künstliche Umwelt um ihn her entfaltet, das "Klima" der Gesellschaft, die "Wettertypen" kleiner oder großer Gruppen, die seinem Handeln diese oder jene Richtung geben und seine Widersetzlich keit zu brechen wissen. Die Soziologie des Verbrechens handelt von den Konflikten, die sich an Unvereinbarkeiten des Zusammenlebens entzünden. Zur Front von Täter und Gesellschaft treten Kampfgenossen, Teilnehmer. Im Opfer selbst regt sich bisweilen Mitbedingung eines kriminellen Ausgangs. Die Trennung der physikalischen Umwelt vom reaktiven Organismus ist nicht schwer, doch hinter den sozialen Kräften stehen wieder Menschen, die Buntheit ihrer Züge, ihre Zwangsgewalt, Anlageelemente als Milieu verkleidet. Sie sind besonders deutlich beim Einsatz kollektiver Krisen1, 1 Die ältere Psychiatrie kannte die paranoia reformatoria sive politica; ihr fehlte die Erfahrung mit den Massen unserer Zeit, wenn ganze Völker Volkstribunen einer Weltumwandlung werden. "Reform" ist stets Verfolgung aller Elemente, die nicht leicht reformabel sind, und manchmal nur ein Rückfall in die Schlünde der Ur sprünglichkeit. v. Hentig, Das Verbrechen II 1 2 Vom Doppelwesen der sozialen Kräfte dem Kriege wie der Revolution und beim "paranoischen" Staat, der sich zur Weltverbesserung berufen glaubt und, äußerlich luzide und geordnet, verfolgungssüchtige Ideen institutionell verankert. Noch fiebert dieser starre Erdball mit Vulkanen und mit Erdbeben. Auch die Gesellschaft kann erkranken, und Gruppendruck kann pathologisch werden. Trotz klarer Einsicht in den Mischcharakter zahlreicher Lebens verhältnisse erfordern geistige Einordnung und wissenschaftliche Dar stellung eine Trennung, die die Wirklichkeit nicht kennt. Es ist auch mißlich, etwa nach dem spezifischen Gewicht des kausalen Anteils zu suchen und dieser Relation den Einteilungsmaßstab zu entnehmen, denn beide, Anlage wie Umwelt, sind variable Größen. Auch schieben sich noch ungeklärte Fragen ein. Gewiß ist die Berufsausübung eine starke Umweltkraft. Sie ist die Quelle von Gelegenheiten, die als Versuchung manche Schwächen aus dem Menschen locken 1, wie Macht und Reichtum, die sie in nahe Aussicht stellen, dazu die körperliche Nähe, mit der die Täterhemmung und der Widerstand des Opfers fällt. Doch auf der anderen Seite steckt in uns die angeborene Neigung für irgendeine Art der Tätigkeit. Der Leiter einer Erziehungsanstalt2 hat die sehr zu treffende Bemerkung gemacht, daß partielle Faullieit sehr oft mit all gemeiner Faullieit verwechselt werde; diese Ablehnung der Kraftausgabe stehe mit Nicht-Eignung für die auferlegte Arbeit und falscher Berufs wahl in Zusammenhang, werde durch organische Mängel mitbedingt und bringe Konstitution und Beruf in Widerstreit. Jeder Beruf verlange ein entsprechendes Temperament3, eine bestimmte Stimmungslage und die Fähigkeit, ein gewisses Arbeitstempo einzuhalten. Schlechtes Augen maß und manuelle Ungeschicklichkeit schließen von mancher Handwerks tätigkeit aus. Alle diese unerkannten Widersprüche von angeborener Leistung und dem Zwang zur Arbeit, die weder der Fähigkeit, noch dem Interesse entspricht, führen zur Erschwerung der beruflichen Tätigkeit, zum Berufswechsel, zu inneren und äußeren Krisen und schließlich oft zur Kriminalität. Um ein Optimum der Leistung erzielen zu können, müssen körper liche Ausstattung, innerste Wünsche und Einführung in die Chancen und Erfolgsfreuden eines Berufes in Einklang stehen; die Arbeit am Fließband wird einen tiefen Bodensatz von innerer Unbefriedigtheit 1 Nach WESSEL, GERHARD (Das Delikt der Kinderackändung im LandgerichtB bezirk Bann, S. 36, Düsseldorf 1939) sind bei dem Delikt die Handwerker zahlen mäßig am stärksten vertreten, die "infolge des öfteren Verkehrs mit Kindem (Abholung und Bestellung von Waren, Reparaturarbeiten im Elternhaus der Kinder, Bedienung im Laden)" und infolge der körperlich wenig anstrengenden Berufsarbeit auf entlegene Gedanken kommen. 1 SOliÜBER VON WALDHEIM, ÜTTO: Uraaihen und Behebung der Faulheit diB aozialer und krimineUer Jugendlicher. Monatsschrift Bd.. XXXIII, S. 224ff. 8 Ein melancholischer oder leicht gereizter Kellner wird nicht weit kommen. Die Menschenumwelt ist ein Mischgebilde 3 zurücklassen, wenn einem Menschen mit besonderen Interessen das ihm gemäße Berufsglück verwehrt bleibt. Bei den höheren Berufen ist oft zu beobachten, daß eine durch Nützlichkeitserwägungen abgenötigte falsche Berufswahl zu einem Trauma wird, das ihn durch sein ganzes Leben begleitet. Mit solcher unerbittlichen Wucht macht die mißachtete Anlage ihre Ansprüche geltend. Berufe wiederum können, wenn sie den Zwecken der Gesellschaft dienen und mit besonderen Vollmachten der Gewaltanwendung ausgerüstet sind, antisoziale Grundzüge des mensch lichen Wesens in legale Kanäle leiten, wie in einer Kläranlage säubern und damit der Ordnung und der Sicherheit von Nutzen sein1• Unehelichkeit gilt allgemein - und mit Recht - als soziologisches Problem und wird auch an dieser Stelle behandelt werden. Aber wie viele Anlageelemente fließen ein, die zu den Kräften einer gunstlosen Umwelt hinzutreten: die Tatsache der Erstgeburt, das jugendliche Alter der Mutter, bestimmte Wesenszüge von Vater und Mutter. Nach einer amerikanischen Studie des Children's Bureau fielen im Laufe der Jahre die Beiträge des Vaters in 80% der Fälle ab, während die Bedürfnisse des Kindes zunahmen 2• Die hohe Sterblichkeit des unehelichen Kindes ist gewiß ein biologischer Faktor. Nach englischen Feststellungen3 aus dem Jahre 1932 entfielen auf 1000 Geburten die folgenden Todesfälle bei Kindern unter einem Jahr: Tabelle 1 Bei ehelichen Kindern Bei unehelichen Kindern männlich weiblich männlich weiblich 70,93 54,42 127,20 96,52 Sehr hoch ist die Sterblichkeit des unehelichen Kindes bei Diarrhoe, Enteritis, Frühgeburt, kongenitaler Schwäche und der unklaren Bammel gruppe "Andere Ursachen". Vernachlässigung wird bei kongenitaler Schwäche nicht anzunehmen sein. Der exakten Forschung steht der Umstand im Wege, daß in den Vereinigten Staaten z.B. 13 Staaten 1 Umgekehrt können als· gut anerkannte Eigenschaften unter bestimmten so zialen Verhältnissen ein Laster und strafwürdig werden. "Manche sagen, daß nicht Yen Lo, sondern sein Sohn Pao über den Fünften Hof der Hölle regiert. Diese Ver wirrung ist daraus entstanden, daß der junge Mann eines Tages der Herrschaft über die Erste Hölle enthoben wurde, weil er allzu barmherzig war." BREDON, JULIET, und lGOR MITROPHANOW: Das Mondjahr, Chinesische Sitten, Bräuche und Feste, S. 192, Wien 1953. 2 ELLIOTT, MABEL A., and FRANCIS E. MERRlLL: Social diBorganization, S. 153. New York 1950.-Die Auflage von 1950 wird von hier an als ELLIOTT I, die von 1961 als ELLIOTT II bezeichnet. 3 Siehe meine Mitteilung: "Die Sterblichkeit deB unehelichen K indeB" in Monats schrift 1934, S. 44 und 45. 1*