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Blade Runner, Matrix und Avatare: Psychoanalytische Betrachtungen virtueller Wesen und Welten im Film PDF

492 Pages·2013·19.183 MB·German
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Blade Runner, Matrix und Avatare Parfen Laszig (Hrsg.) Blade Runner, Matrix und Avatare Psychoanalytische Betrachtungen virtueller Wesen und Welten im Film Mit 85 farbigen Abbildungen Dr. Parfen Laszig (Hrsg.) Heidelberg, Germany ISBN 978-3-642-25624-0 ISBN 978-3-642-25625-7 (ebook) DOI 10.1007/978-3-642-25625-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Medizin © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Über setzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Daten ver- arbeitungs anlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unter- liegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag kei- ne Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung Planung: Renate Scheddin, Heidelberg Projektmanagement: Renate Schulz, Heidelberg Lektorat: Dr. Brigitte Dahmen-Roscher, Hamburg Projektkoordination: Heidemarie Wolter, Heidelberg Layout, Satz und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Fotonachweis Umschlag: siehe Quellenverzeichnis im Anhang Herstellung: deblik Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer Medizin ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer.com V Geleitwort Kai Wessel, Regisseur Filmemacher und Drehbuchautoren sind Geschichtenerzähler. Wir sind die modernen Mär- chenerzähler mit der Ambition, die Zuschauer zu verführen und zu entführen. Wir versetzen sie in fremde oder bekannte Welten, zurück in die Geschichte oder weit in die nahe oder ferne Zukunft. Das gelingt uns manchmal besser und manchmal schlechter; aber wo und wann auch immer unsere Geschichten spielen mögen, im Zentrum stehen Menschen: „gute“ Menschen, „schlechte“ Menschen, Menschen, die sich beweisen, bewähren oder behaupten müssen. Selten sind sie allein. Sie stehen meist in einem sozialen Zusammenhang aus Feinden, Freunden, Betrügern, Partnern, Geliebten, Familienmitgliedern und ähnlichen Gemeinschaf- ten. Je feiner eine Geschichte gestrickt ist, desto vielschichtiger sind die Figuren, deren Motive und Handlungen, desto dynamischer sind die Prozesse, in denen unsere handelnden Personen sich befinden. Je genauer die Erzähler eines Films die menschlichen Gefühlsprozesse kennen, desto tiefgreifender wird der Film. Genaue Kenntnis und Reflektion menschlichen Denkens und Handelns sind Voraussetzungen für eine bewegende Geschichte. Dieses Buch beleuchtet die Geschichten und deren handelnde Personen von einer „anderen“ Seite. Sie sehen nicht nur die Phänomene menschlichen Handelns, sie kennen sie genau. Die Autoren sind mehrheitlich Psychoanalytiker und „entschleiern“ die psychodynamischen Prozesse, in denen wir Men- schen uns befinden. In diesem Buch übertragen die Autoren ihr Wissen und ihre Erfahrungen auf eine Auswahl von bedeutenden Filmen. Sie beleuchten Motive, Zwänge, innere Prozesse, konzentrieren sich auf die immer komplexer werdenden Abläufe in einer sich entwickelnden Welt und wagen damit gleichsam einen Ausblick in unsere nahe und ferne Zukunft. Dieser Ansatz ist spannend und allemal lesenswert! Kai Wessel Hamburg, im Mai 2012 Geleitwort Georg Seeßlen, Filmkritiker Leinwand und Seelenspiegel – Anmerkungen zu einem möglichen Dialog zwischen Filmkritik und Psychoanalyse I Was wäre, wenn der Mensch keine Seele hätte? Unter anderem könnte er wohl nicht ins Kino gehen. Das mag ein trivialer Satz sein oder ein furchtbarer, wie man es nimmt. Genauer gesagt entspricht der Film, jenseits seiner technischen Realisierbarkeit, einem bestimmten Zustand der Entwicklung von Seele und Subjekt. Es gibt Erzählungen von Angehörigen von „Naturvöl- kern“, die verstört reagiert haben sollen, als sie zum ersten Mal einen Film sahen: Warum hat man dem armen Mann dort oben den Kopf abgeschnitten? Eine andere Erzählung der Kino- geschichte geht an deren Anfänge zurück: Damals sollen die ersten Zuschauer schreiend aus dem Kino gelaufen sein, weil sie einen Zug auf sich zukommen sahen. Nähere Untersuchun- gen legen indes nahe: Die beiden Erzählungen sind nicht nur erfunden (im Fall der Gebrüder Lumière und ihres „Einfahrt des Zugs“-Films sogar als geschickter Werbecoup), sie enthalten auch implizit eine Kino-Theorie: Filmesehen ist eine Kulturtechnik, die man erwerben, wie man lesen und schreiben lernen muss. Und zwei Dinge sind dabei vonnöten: Die Fähigkeit, zwischen dem Bild und der Wirklichkeit zu unterscheiden, und die Fähigkeit, von einem Teil aufs Ganze zu schließen. Offensichtlich stimmt das nicht so recht. Es ist zumindest ungenau. Kino-Sehen lernt man beim Kino-Sehen, und man lernt es erstaunlich rasch. Die meisten Kinder in unserem Kultur- kreis wachsen ins Filme-Sehen (mittlerweile natürlich hauptsächlich am Fernseher und am Computer) scheinbar problemlos hinein; Eltern und andere Erwachsene agieren hier allenfalls gelegentlich als Zensoren, kaum aber als Lehrer. Und auch wenn es in der Regel in einem mehr oder weniger familiären Kollektiv geschieht, lernt man dieses Filme-Sehen „ganz für sich“. Als Subjekt. Als psychische Entität, gleichsam. Es gibt so gut wie keinen Menschen in unserer Kultur, der ohne das projizierte elektroni- sche oder digitale Bewegungsbild aufwächst. Es ist Teil der Welt-Wahrnehmung und zugleich Teil der sich entwickelnden Persönlichkeit. (Schon von daher ist es verständlich, dass in späte- ren Stadien Mahner auf den Plan treten, die die Mitschuld dieser Bewegungsbilder an „Fehlent- wicklungen“ der Persönlichkeit, an Gewalt und Ängstlichkeit, Verrohung oder Gleichgültigkeit anprangern. Wer behauptet: Die Medien haben an allem Schuld!, behauptet in Wahrheit: Das bewegte Massen-Bild hat an allem Schuld! oder eben: das Kinematografische. Das Kinematografische ist eine besondere Art mit Bilder umzugehen, nach Prinzipien, die wir aus der Film-Analyse kennen: Die Montage. Die „Einstellung“ (der Kamera). Die „Con- tinuity“ (die relative Stabilität des Hintergrunds). Das Zeichenrepertoire (Syntagmen und Paradigmen, Indiz, Ikon, Symbol etc. – in wechselnden Bestimmungen, aber in einer Grund- haltung: Dinge können auf verschiedene Weise „bedeuten“; eine Bedeutung kann sich hinter einer anderen verbergen – aus Gründen der äußeren wie der inneren Zensur, aber auch aus Gründen der Spannung). Die Rahmung und Dimensionierung. Die dreifache Bewegung: Die Bewegung im Bild. Die Bewegung des Bildes (die Bewegung der Kamera). Und die Bewegung zwischen den Bildern (der Schnitt). VII Das Kinematografische, das es offensichtlich lange vor dem eigentlichen Kino gibt und par- allel dazu in anderen Bild-Erzählungen (zum Beispiel im Medium des Comic-Strip, das sich parallel zum Kino entwickelte und immer wieder mit ihm interagierte), ist eine besondere Sprache der Bilder, aber auch eine besondere Sprache von Emotionen, Beziehungen und Ent- scheidungen. Es ist ein Teil unserer Katastrophengeschichte, nebenbei bemerkt, dass wir be- sonders heftige, schmerzhafte oder auch beglückende Erlebnisse besonders kinematografisch („wie im Kino“, „wie ein Film“) wahrnehmen, nämlich einerseits in einer bestimmten Sprache der Bilder (in der zum Beispiel die Zeit-Wahrnehmung nicht mehr unbedingt mit der „objek- tiven“ Zeit übereinstimmt und Räume eher symbolisch als geometrisch wahrgenommen wer- den) und andererseits in einer gewissen „Äußerlichkeit“, so als wäre eine Wahrnehmung, die uns auf ungeheuer drastische Art überfällt und zugleich emotional oder kognitiv überfordert, nur zu ertragen, indem sie bis zu einem gewissen Grad nicht mehr als Teil des eigenen Lebens, sondern als äußere Projektion empfunden wird. Das Kinematografische ist demnach eine Or- ganisation der Bilder, die weder vollständig äußerlich noch vollständig innerlich sind, zugleich Teil der Innen- und der Außenwelt. Und noch etwas gehört zum Wahrnehmen der Welt (oder ihrer Reflexion im Bild) auf kinematografische Weise: Es gibt eine Institution des „anderen“, die die Form vorgibt (der Projektor, das Programm), und es gibt ein Element der Verzögerung zwischen dem Bild und seiner Verarbeitung (eben das, was wir dann vergleichsweise hilflos „den Film verstehen“ nennen; es setzt sich zusammen aus dem Verstehen der Worte (des Bil- des), der Sätze (der Sequenzen) und des Textes (gemeint sind plot, Motiv und Stil). Kinematografische Wahrnehmung enthält (benutzen wir dazu Vilém Flussers Unterschei- dung) stets lineare und visuelle Codes, mit anderen Worten: Kinematografische Wahrneh- mung ist abhängig davon, dass verschiedene Instanzen, zum Beispiel Bewusstsein und Unter- bewusstsein oder Analyse und Synthese, ja sogar Neugier und Beharrung, zusammen arbeiten und dass aus Teilen ein Gesamtes geformt wird, umgekehrt aber auch ein Gesamtes in Teile zerlegt wird. Man sieht niemals einen Film so, wie man einen Satz liest, sondern man sieht den imaginären Gesamt-Film, den die Teile des Montage/Einstellungs-Angebots suggerieren. Die letzte Produktion eines Films, so geht das geflügelte Wort, findet im Kopf des Zuschauers statt. Daher ist es unmöglich, dass zwei Menschen den gleichen Film sehen (was übrigens schon daran zu sehen ist, wie unterschiedlich sie ihn nacherzählen). Der Film, die technische und soziale Verwirklichung des Kinematografischen (das wir in den Träumen so gut wie in der Literatur, in Kinderspielen und in der Oper finden können, wenn auch nicht immer als vorherrschendes Prinzip) ist also weder vollständig Teil der Au- ßenwelt noch vollständig Teil der Innenwelt. Das kinematografische Geschehen spielt sich vielmehr auf einer Linie zwischen beidem ab, auf der es sich mal dem einen, mal dem anderen annähern kann. Und, unnütz zu sagen, es gibt sowohl bei den Produzenten als auch bei den Konsumenten Tricks genug, diese Bewegung zwischen Innen und Außen („Traum und Wirk- lichkeit“ meint eine laienhafte Empfindung) zu manipulieren. (Unter anderem lieben wir ge- legentlich „schlechte Filme“ – oder „Trash“ – weil in ihnen die Äußerlichkeit gesichert ist, und wirklich große Filme, die tief in unser Inneres reichen, sind nicht unentwegt auszuhalten – es sei denn, man schaltet die Distanzierungsmaschine „Kritik“ ein – wie überhaupt Filmkritiker vielleicht nur einerseits Menschen sind, die ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht haben, und andrerseits Menschen, die eine besondere Methode der Kinematografisierung noch des Films selbst entwickelten; eine Form der Bannung.) Das Kinematografische ist schlicht ein Element im Werden des modernen Menschen (und ganz gewiss dürfen wir Platon als ersten Filmtheoretiker in den Zeugenstand rufen; sein „Höhlengleichnis“ ist wohl das Urbild aller Film-Modelle und enthält zugleich bereits VIII Geleitwort die umfassendste Film-Kritik). Umgekehrt kann man vielleicht von einer Zäsur in der Bilder- ebenso wie in der Seelengeschichte sprechen: Vor dem Kino war die Seele etwas anderes als mit und dann schließlich nach dem Kino, und dies gilt für die Kulturgeschichte ebenso wie für die Biografie (Nachbeben dieser ikonopsychischen Wandlung sind Fernsehen und Internet als neue bildgebende Begleiter des Lebens). Das Kinematografische und seine Wandlungen sind anthropologische Wirkkräfte. Um Mensch zu werden in einer Menschen-Gesellschaft, muss man die Fähigkeit besitzen, zu „ki- nematografisieren“ (man mag sich darüber streiten, ob diese Fähigkeit zur dritten Möglichkeit des Bildes zwischen Innen und Außen als angeborene entwickelt wurde oder doch als Etappe in einer Kulturgeschichte erschien). Wir leben also in gemeinsamen Kinematografisierungs- kulturen ebenso wie in gemeinsamen Sprach- und in gemeinsamen Bilderkulturen. (Span- nend wird die Sache, weil die drei nie vollständig synchron verlaufen, eine der anderen als Motor ebenso wie als Bremse dienen kann.) Mit dieser Anthropologie des Bewegungsbildes freilich ist noch so gut wie nichts darüber ausgesagt, was das Bewegungsbild in unserem Inne- ren an- und ausrichtet. In unserer Seele mithin. II Nehmen wir als „Seele“ ein einigermaßen kompliziertes Ineinander von Systemen der Wahr- nehmung, der Kombination, der Reflexion, der Projektion und der Entscheidung. Dann ist ein Film, auch wenn er gegenüber dem Leben doch erhebliche Vereinfachungen vornimmt, eine Einladung zu nicht viel weniger komplizierten Vorgängen der Übertragung. Unter anderem übertrage ich in einem Kino dem Geschehen auf der Leinwand für eine begrenzte Zeit die Führung meines Innenlebens. ICH bin im Film, und der Film ist in mir. Die „normale“ Ord- nung meines inneren Hauses ist für etwa zwei Stunden außer Kraft gesetzt; ich habe höchst eigenwillige Gäste. Ich, Es und Über-Ich, wie wir diese Ordnung nach Freud allgemein be- zeichnen, sind jeweils verdoppelt. Mindestens. Der Unterschied zwischen dem Kino (und was daraus geworden ist) und früheren Formen von Erzählung, Drama, Bild, Ritus und Spiel ist auf den ersten Blick nur in seiner Totalität zu sehen, im Grad der Absorption, in der Fähigkeit, andere Impulse der Welt „auszublenden“, Konzentration zu erzeugen. Auf den zweiten Blick wird die „Sprache“ des Films als eine be- sondere Beziehung von Zeichen und Bewegung deutlich; Filme, sagt man, „schreiben sich in uns ein“ (und natürlich: Eine Reihe von ihnen scheitert an dieser Aufgabe oder nimmt sie gar nicht erst an). Auf den dritten Blick erkennen wir etwas durchaus Skandalöses, nämlich, dass sich das filmische Geschehen auf eine durchaus virale Art in unseren seelischen Aufbau drängt (der Film befällt den staunenden Zuschauer gleichsam wie eine Art Infektionskrank- heit, setzt aber auch, so schreibt es der gesellschaftliche Gebrauch des Mediums vor, Prozesse von Heilung und Selbstheilung in Gang). Das heißt: Während der Film läuft (jedenfalls jener, der mich wahrhaft erreicht und mehr ist als ein medial-sozial-ideologisches Hintergrund- rauschen) bin ich nicht nur nicht Herr in meiner Seelenarchitektur, diese muss sich auch noch Umbauprozesse, womöglich Chaotisierung oder auch Reduzierung gefallen lassen. Der Film löst Teile meiner „ordentlichen“ Seele auf und setzt eigene seelische Ordnungen an ihre Stelle. Und wir wissen: Dies kann auf eine menschliche, demokratische, zärtliche, vernünftige oder heilsame Art ebenso geschehen wie auf eine gewalttätige, heimtückische, korrupte oder tyrannische Weise. (Deshalb bedeutet „Filmkritik“ stets so viel mehr als eine Betrachtung technisch-ästhetischer Perfektion oder Mangelhaftigkeit oder ideologisch-moralisches Maß- nehmen: Sie ist der nie vollständig gelingende Versuch, zugleich das Innenleben des Films IX und das des Zuschauers sowie die gesellschaftlichen Bedingungen dieser Korrelation in einen Diskurs zu bringen.) Wer ist der Mensch auf der Leinwand (oder auch das Pixelwesen mit den anthropomor- phen Eigenschaften)? Es ist zunächst ein eigenständiges Wesen, das seine eigene Geschichte, seine eigenen Empfindungen, seine eigenen Entscheidungen etc. vorführt. Es tut dies in einer Zeit, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit flickert (der Moment ist immer gerade eben vorbei); und es tut dies in einer Gewissheit des linearen Existierens – an dem, rabiat, der surrealistische Film und weniger rabiat das postmoderne Kino mit seinen „nicht-linearen“ Erzählweisen zweifelt, einer räumlichen und zeitlichen Abschließbarkeit. Es tut dies über- dies im Allgemeinen in einer Gleichung von „history = story“, das heißt die Geschichte der Helden oder Protagonisten ist auf die eine oder andere Weise eine Abbildung der Geschichte von Nationen, Gesellschaften, Klassen, „Lebensumständen“ etc. Als Held ist der Mensch auf der Leinwand entweder ein Problemlöser oder aber, häufiger fast noch, ein „Erlöser“, der unter anderem für meine Sünden (oder jedenfalls meine Schwächen) kämpft und leidet. Hel- den sind die ersten Seelenspiegel für eine Zeit, eine Gesellschaft oder auch für den einzelnen Zuschauer: Der Held drückt das Problem aus, welches den Zuschauer niederdrückt. Ebenso nimmt er die Strafe auf sich, die dieser als auf sich bezogen wähnen mag. (In trotzigem Furor gegen solche Mechanismen formulierte einst Theodor W. Adorno, dass Donald Duck auf der Leinwand die Prügel bezog, an die sich das Publikum im Zuschauerraum als Alltag gewöhnen sollte. Vielleicht achtete er zu wenig darauf, wie ambivalent auch unser Lachen im Kino sein kann, denn, after all, natürlich gönnten wir Donald ein wenig Missgeschick, weil er ja immer wieder allzu großspurig, egoistisch und anmaßend auftrat, aber zugleich liebten wir ihn ja auch, den ewig Scheiternden.) Als Held also erzählt das Wesen auf der Leinwand seine eigene symbolische Geschichte, und dabei folgt es, mehr oder weniger, den Modellen der Erzählung, der Heldenreise, der Abfolge von Entzweiung – Opfer – Erlösung, den Erscheinungen von Rätsel, Orakel, fantastischem Begleiter, die wir aus den Narrativen der Zeiten und Kulturen kennen. Odysseus, der John Wayne-Cowboy, Marilyn Monroes Reisen in „Some Like it Hot“, das macht da keinen großen Unterschied. Auch die zweite Funktion des Menschen auf der Leinwand ist ohne Weiteres von anderen Formen der Repräsentation, Theater, Literatur und Spiel, zu übernehmen: Dieser Mensch auf der Leinwand ist auch ICH. Im einfachsten Fall der Mensch, der ich gerne wäre, so stark wie Superman oder so schön wie Julie Delpy. Wenn wir freilich die Bild- und Sozialgeschichte der Filmstars betrachten, stellen wir fest, dass es so einfach wohl nicht ist. Weder wird der Schönste oder Stärkste automatisch zum Star, noch ist seine „Aussage“ so eindeutig, dass wir von einem Vorbild oder Vor-Bild sprechen könnten. Im Gegenteil, die meisten Stars bezeich- nen besondere Transitionen, Ambivalenzen, Widersprüche. Der Inbegriff des „Stars“ enthält also nicht nur, was mein Ich, sondern auch, was mein Es verlangen mag (jemand, der sein Begehren erfüllt, auch und gerade jenes, das „verboten“ scheint), und das, was mein Über-Ich verlangt (nicht nur in der patriarchalisch-bürgerlichen Form, sondern auch in der des dämo- nischen Tricksters). Damit sind wir bei der dritten Funktion des Wesens auf der Leinwand: Es ist, natürlich, das Objekt des Begehrens. Meine „Projektion“ sagt also nicht nur, ich will sie oder er sein, sondern auch, ich will sie oder ihn haben. Aus dieser Differenz mag ein gesamtes Analyserepertoire von Geschlechterbestimmung und Geschlechterrollen entwickelt werden. So wie einst das Theater, so definiert in seiner klassischen Form das Spielfilm-Kino nicht nur, was guter Bür- ger oder böser Fremder ist, sondern auch, was Mann und was Frau ist. Aber von Anbeginn an, also keineswegs erst, nachdem sich die gesellschaftlichen Regeln und der Mainstream- X Geleitwort Geschmack diesbezüglich änderten, steckte darin eine subversive, mehrdeutige Macht. Ein männlicher Zuschauer mag beim Betrachten von „Some like it Hot“ nicht nur Marilyn Mon- roe begehren (oder sich, via Tony Curtis, von ihr begehren lassen), er mag auch ausprobieren, wie es wäre, wenn man, via Marilyn Monroe, eine Frau sein könnte. Und wie wäre es, wenn dieser Mensch auf der Leinwand, vierte Funktion, nicht nur Ob- jekt der Verschmelzung und „Identifikation“, nicht nur Objekt des sozialen und sexuellen Begehrens (crossover, wie das nun geschehen mag, wenn ich mir selbst beim Zuschauen nicht allzu kritisch zuschaue) wäre, sondern auch ein autonomes Gegenüber, ein DU? Ein anderes Wesen, mit dem ich auf Augenhöhe, wie man so sagt, korrespondiere, mit ihm eine imaginäre Zwiesprache halte, einen Dialog führe, Rat und Kritik austausche. Es gibt Filmemacher, wie Ingmar Bergman einer war, die es gerade auf eine solche dialogische Beziehung abgesehen haben. Filmisch ist sie, natürlich, durch die Form der Einstellungen zu erzeugen, durch die Unabgeschlossenheit der Erzählung, durch die Imagination für den Zuschauer, einen Raum mit den Menschen auf der Leinwand zu teilen, ihnen näher zu sein als selbst die Kamera, in den Dargestellten so viel Frage wie Antwort zuzulassen etc.. Das ist nicht zuletzt eine Frage der Schauspielkunst und des Schauspielstils. Und damit gelangt man zu einer weiteren Identität des Wesens auf der Leinwand. Es ist immer auch der Darsteller (bzw., nehmen wir einen digitalen Animationsfilm, sind es reale Vor-Bilder des „Darstellers“ oder aber die Technik der Darstellung selber, ein Knetmassentier, das seine Knet- massenhaftigkeit ausdrückt), der mehr oder weniger durch den Dargestellten durchschim- mert. So werden wir Teilhaber eines Prozesses des reenactment, das magisch, technisch oder auch therapeutisch sein kann. John Wayne spielt den harten John Wayne auf der Leinwand, um das Leiden der Person John Wayne zu lindern, die im wirklichen Leben kein harter John Wayne sein konnte. Oder: Lauren Bacall erzählte von Humphrey Bogart, dass er im wirklichen Leben nur in wenigen Augenblicken unerträglich sein konnte, nämlich dann, wenn er sich selbst mit Humphrey Bogart verwechselte. All das veranschaulicht nur von den Rändern her, wie sehr wir im Kino (oder eben auch: im Kinematografischen) Teil magischer, therapeutischer und sozialer Übertragungsprozesse sind, die, noch einmal, das Wesen auf der Leinwand zu wesentlich mehr machen als einem Stand-In für Figuren einer kohärenten Narration. (Eine weitere Randerscheinung liegt in der regelmäßig wiederkehrenden Erzählung von Menschen, bei denen diese Beziehung zu einer gefährlichen Krankheit wird; selbst Filme wie „The Fan“ oder „Die schönen Morde des Eric Binford“ erzählen von solchen Störungen der ansonsten gesellschaftlich mehr oder weniger kontrollierten Psychodramen der Mediennutzung.) Übrigens ist es eine Standardantwort von Filmemacherinnen und Filmemachern, Schau- spielern und Schauspielerinnen auf die Frage, warum sie (solch seltsame) Filme machen: weil Filmemachen besser ist, als verrückt zu werden, Selbstmord zu begehen oder Menschen um- zubringen. Lassen wir das Maß an Koketterie in solchen Antworten auf (törichte) Reporterfra- gen dahingestellt sein, so ist doch klar genug, dass wir, alle Beteiligten einer „Filmkultur“ (und sei es die Filmkultur der krudesten Zombiestreifen auf der Teenager-Kellerparty), auf die eine oder andere Art wissen, dass das Kinematografische sich um Symptome von Krankheiten, um therapeutische Selbstversuche und um ein Spiel von Offenbaren und Verbergen psychischer und psychosozialer Verletzungen entwickelt. XI III Auch dies wiederum, nämlich, dass Kino nichts anderes bedeutet, als individuelle und kollek- tive Therapie vermittels einer besonderen Form von Übertragungen, Projektionen, Symbolen, Wunscherfüllungen, Management überschießender Energien von Angst und Begehren mit einer mehr oder weniger perfekten formalen und sozial akzeptierten Hülle zu umgeben, kann man als triviale oder als furchtbare Aussage werten. Dass Kino dem Träumen verwandt ist, dass vieles von seinem Geschehen, je nachdem, ins Unterbewusste oder ins Unbewusste reicht, dass Kino-Erzählungen, ebenso wie mit Modellen von „Bild“, „Erzählung“, „Roman“, „Theater“ etc., mit Modellen wie „Mythos“, „Ritual“, „Neu- rose“, „Psychose“ etc. erklärt werden können, hat sich jedenfalls herumgesprochen (in einem Hase- und Igel-Wettlauf zwischen Filmproduktion und gesellschaftlichem, wissenschaftlichen oder pädagogischen Diskurs, möglicherweise). Jean-Luc Godard hat das Problem gelöst (oder wenigstens genau beschrieben), indem er den Film den „rêve extérieur“ nannte, den äußeren oder auch veräußerten Traum. Damit schließt sich ein Kreis unseres Modells von Kinematografie als Austausch von Ele- menten innerer und äußerer Bilder, der stets zugleich soziale Probleme (in Form des Mythos, so wie ihn Roland Barthes in „Mythen des Alltags“ verstand) und psychische Konflikte (Krän- kung, Versagung, Bindung/Befreiung, Obsession, Neurose, Psychose, Verdrängung) be- und verhandelt. Die wahre Kunst des Films indes besteht darin, über die Erfüllung dieses psychosozialen Auftrags hinaus zu gehen, die Probleme, Konflikte und Widersprüche nicht nur wiederzuge- ben, sondern auf einer anderen Ebene bewusst zu machen. Und die wahre Kunst der Kritik besteht darin, über den Nachweis der psychosozialen Grundierung des Kinematografischen im Allgemeinen und von einzelnen Filmen im Besonderen hinaus zu gehen, um den Dialog zwischen dem Kinematografischen und dem Psychoanalytischen (im weitesten Sinn) bewusst und gesellschaftlich fruchtbar zu machen. Eben davon handeln die Beiträge dieses Buches. Georg Seeßlen Kaufbeuren und Borgo di Vendone, im Juni 2012

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