Biographieforschung und Kulturanalyse Ralf Bohnsack Winfried Marotzki (Hrsg.) Biographieforschung und Kulturanalyse Transdisziplinare Zugange qualitativer Forschung Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1998 Gedruckt auf sliurefreiem und altersbestiindigem Papier. ISBN 978-3-8100-1821-2 ISBN 978-3-663-09433-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-09433-3 © 1998 Springer Fachmedien Wiesbaden Urspriinglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 1998. Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschlitzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzullissig und strafbar. Das gilt insbesondere fi.ir Vervielfliltigungen, Ubersetzungen, Mi kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhalt RalfB ohnsack und Wirifried Marotzki Einleitung 7 Teil I: Medien und offentliche Inszenierungen Burkhard Schaffer Generation, Mediennutzungskultur und (Weiter)Bildung. Zur empirischen Rekonstruktion medial vermittelter Generationenverhaltnisse 21 Jo Reichertz Wunder werden Wirklichkeit. Uberlegungen zur Funktion der "Surprise -Show" 51 Ronald Hitzler und Michaela Pfadenhauer "Let your body take control!" Zur ethnographischen Kulturanalyse der Techno-Szene 75 Uif Brudigam und Winfried Marotzki Die ausgefransten Rander der Rationalitat. Ein bildungstheoretisches Strukturformat am Beispiel von Star Trek- und Akte X-Fans 93 Teil II: Biographien: Prozesse der Bildung und Wandlung Jutta Ecarius Biographie, Lemen und Gesellschaft. Erziehungswissenschaftliche Uberlegungen zu biographischem Lemen in sozialen Kontexten 129 Imbke Behnken und Jurgen Zinnecker Kindheit und Biographie 152 Jochen Kade und Wolfgang Seitter Erwachsenenbildung und Biographieforschung. Metamorphosen einer Beziehung 167 5 Monika Wohlrab-Sahr "Protestantische Ethik" im islamischen Gewand. Habitusreproduktion und religioser Wandel - Das Beispiel der Konversion eines Afroamerikaners zum Islam 183 Teil III: Kulturelle Differenzierungen: Milieus und Geschlechterkulturen Bruno Hildenbrand Biographieanalysen im Kontext von Familiengeschichten: Die Perspektive einer Klinischen Soziologie 205 Cornelia Behnke, Peter Loos und Michael Meuser Habitualisierte Mannlichkeit. Existentielle Hintergriinde kollektiver Orientierungen von Mannem 225 Jilrgen Straub und Hartmut Seitz Metaphemanalyse in der kulturpsychologischen Biographieforschung - Theoretische Uberlegungen und empirische Analysen am Beispiel des "Zusammenschlusses" von Staaten 243 Ralf Bohnsack und Arnd-Michael Nohl Adoleszenz und Migration - Empirische Zugange einer praxeologisch fundierten Wissensoziologie 260 Autorinnen und Autoren 283 6 Ralf Bohnsack und Win fried Marotzki Einleitung 1. Der transdisziplinare Charakter qualitativer Methoden Der transdisziplinare Charakter gehOrt zu den Grundeigenschaften qualitati ver Methoden, ist also kein zusatzlich hinzutretendes Merkmal. Dies hat erkenntnistheoretische Griinde: Qualitative Methoden operieren gleichsam noch unterhalb der je disziplinspezifischen Zugange und Theoriemodelle. Ais Methoden der Interpretation und Analyse Oberbriicken sie die Diskrepanz zwischen diesen unterschiedlichen Theoriemodellen einerseits und dem, was Gegenstand theoretischer Aussagen ist, namlich dem Alltagshandeln, den alltaglichen Praktiken der Konstruktion und Typenbildung, andererseits. Qualitative Methoden leisten zuallererst die Re-Konstruktion alltaglicher Konstruktionen. Es geht also darum, der natiirlichen, d. h. der alltaglichen, routinisierten Ordnung und der Wissensbestande derjenigen, die Gegenstand der Forschung sind, Rechnung zu tragen, und die Geordnetheit ihrer kommu nikativen Regelsysteme zur Explikation zu bringen. Bereits im Alltag und nicht erst von Seiten der Forscher werden Interpretationen erbracht, Typen gebildet und Theorien konstruiert. Dariiberhinaus verfOgen wir alle - wie dies zuerst die Ethnomethodologen gesehen haben - bereits im Alltag Ober Methoden. Auch sie gilt es zu rekonstruieren oder zu explizieren. Die Aufgabe qualitativer Forschung ist somit grundlegend weder als ein Verstehen noch als ein Erklaren in angemessener Weise zu charakterisieren (be ide Konzepte sind zu eng und erkenntnistheoretisch zu befrachtet). Viel mehr geht es elementarerweise urn die Explikation alltaglicher Orientierungs muster und kommunikativer Regelsysteme. Erst wenn diese Explikation der Konstruktionen erster Ordnung geleistet ist, wird es in der empirischen For schung moglich, in gegenstandsadaquater oder gOItiger Weise mit den je dis ziplinspezifischen Wissensbestanden und Theoriemodellen als den Konstruk tionen zweiter Ordnung zu operieren I. Die Aufgabe qualitativer Methoden besteht also vor allem in dieser ganz elementar ansetzenden Explikation oder Re-Konstruktion des Forschungsgegenstandes, an welche die je disziplinspe zifischen Theoriekonstruktionen dann erst anschlieJ3en. Hieraus ergibt sich auch die Bedeutung, die den qualitativen Methoden fOr die Belebung und Innovation verkrusteter Theoriegebaude zukommt. Die qualitative Analyse in dem hier verstandenen Sinne einer rekonstruktiven Analyse vermag auch zur Uberwindung jenes Problems beizutragen, welches derzeit vor allem in der Bekanntlich hat dies Alfred Schlitz (1962) zuerst in dieser Weise auf den Begriff gebracht. Bei Karl Mannheim ist dies bereits 1921 umfassend begrlindet worden. 7 Soziologie zu beobachten ist: die zunehmende Entkoppelung der beiden Dis kurse der Theoretiker und Empiriker, die in manchen Bereichen zu einer theorielosen Empirie einerseits und zur Sterilitat einer archivarischen Rezep tion groBer Theorien andererseits gefiihrt hat. Qualitative Methoden weiterzuentwickeln und zu entfalten, bedeutet, da diese unterhalb der je disziplinspezifischen Theoriekonstruktionen angesie delt sind, sich auch auf den Weg zu machen in Richtung auf eine interdiszi plinare Grundlagen- und Anwendungswissenschaft2. Sowohl die Generie rung als auch die Anwendung von (disziplinspezifischen) Theoriemodellen ist auf ihre Vermittlung mit dem Alltagshandeln und dem Alltagswissen und somit auf eine grundlegende Methodologie angewiesen. Diese Methodologie ist adaquater als trans- denn als interdisziplinar zu bezeichnen, da letzterer Begriff implizieren wurde, daB die in den einzelnen Disziplinen intern bereits entfalteten Methoden und Methodologien erst sekundar in einen Austausch treten. 2. Biographieforschung und Kulturanalyse Der Titel Biographieforschung und Kulturanalyse ist von daher zu verstehen, daB - zum Zeitpunkt der Planung des Bandes - der Begriff Biographiefor schung in der Erziehungswissenschaft beinahe synonym zu demjenigen der qualitativen Forschung verwendet wurde. Dem soUte mit diesem Titel Rech nung getragen, zugleich soUte aber mit dem Hinweis auf Kulturanalyse auch auf andere Zugangsweisen qualitativer Forschung als die biographische ver wiesen werden. Inzwischen sind auch in der Erziehungswissenschaft wie in der Soziolo gie schon seit einigen Jahren zu den biographieanalytischen Verfahren - bzw. genauer: zu solchen Verfahren, die bei der Entwicklung von Individuen ansetzen oder diese als Zugang oder Ausgangspunkt der Analyse wahlen - solche Verfahren hinzugetreten, die sich direkt dem interaktiven und kollekti ven Charakter von sozialen Sinnwelten zuwenden. Damit wird auch dem Rechnung getragen, daB Biographien je nach kultureUen Erfahrungsraumen respezifiziert werden mussen. Hierauf zielt der Begriff der Kulturanalyse, der sich noch durch denjenigen der Milieuanalyse erganzen lieBe. Innerhalb der Kulturanalyse lassen sich dann wiederum mindestens zwei derzeit bedeutsa me methodische Zugangsweisen unterscheiden: einerseits die Ethnographie, von der vor aHem dort die Rede ist, wo Verfahren der direkten (teilneh- 2 So z. B. Fritz Schtltze (1993). Eine derartige Grundlagen- und Anwendungswissenchaft hat nicht nur Methoden bereit zu stellen, sondem auch formale oder metatheoretische Be griffssysteme. - Vgl. dazu auch Bohnsack 1997. 8 menden) Beobachtung im Zentrum stehen, ohne allerdings mono-methodisch auf ein Verfahren reduziert zu sein. Der Begriff Ethnographie steht vielmehr geradezu filr eine methodenplurale Vorgehensweise (vgl. dazu Marotzki 1998). Die andere derzeit bedeutsame Variante der Kulturanalyse stellen jene textinterpretativen Verfahren dar, die sich auf die Analyse von Diskursen oder Gruppendiskussionen stiitzen. 3. Die Etablierung qualitativer Methoden Bereits ein erster Blick auf die in diesem Band versammelten Beitrage macht eines deutlich: Der Umgang mit Methoden qualitativer Forschung und mit dem in diesem Bereich erarbeiteten begrifflich-analytischen Instrumentarium ist in vielen Hinsichten ein selbstverstandlicher geworden. Dies zeigt sich zunachst darin, daB die hier versammelten Autorinnen und Autoren sich nicht mehr genotigt sehen, die Wissenschaftlichkeit der eigenen Vorgehensweise grundsatzlich unter Beweis stellen zu miissen. Die Beitrage sind nieht mehr auf die Legitimation der Vorgehensweise fokussiert, sondern primar sach und ergebnisorientiert. Zum anderen riihrt der selbstverstandliche Umgang mit qualitativen Ver fahren sicherlich auch daher, daB diese inzwischen so weit erprobt sind, daB sich zunehmend das herausgebildet hat, was Glaser/Strauss als deren "Glaub wiirdigkeit" und "Vertrauenswiirdigkeit" bezeiehnet haben (vgl. Glaser/ Strauss 1967, 223 ff.). Vor diesem Hintergrund wachst dann auch derzeit eine Generation von Sozialforscher(innen) heran, die diese Selbstverstand lichkeit bereits von Anfang an verinnerlicht hat. In dem dargelegten Sinne ist die Etablierung qualitativer Methoden als normal science offensichtlich be reits in vollem Gange, ohne daB sich dies allerdings in Curricula und Stel lendefinitionen in nennenswerter Weise bereits niedergeschlagen hatte. Angesichts der zunehmenden Etablierung qualitativer Methoden ware zu wiinschen, daB das rituelle Festhalten an spezifischen methodischen Verfah rensweisen, welches unter den Bedingungen eines permanenten Legitimati onsdrucks noch verstandlich war, nunmehr abgelost wird durch eine zuneh mende Offenheit gegeniiber anderen Methoden und durch Kombinationen unterschiedlicher Verfahren im Sinne der oben erwahnten methodenpluralen Vorgehensweise. Mit der zunehmenden Etablierung gewinnt allerdings auch die interne Konkurrenz unterschiedlicher Schulen an Bedeutung - und dies nicht nur in positiver Weise. Es zeigen sich auch Tendenzen bzw. Versuche, das eigene methodische Profil in der Weise zu starken, daB anderen Ansatzen und Stromungen per se die Legitimitat abgesprochen wird. Es bleibt zu hof fen, daB dies Ausnahmen bleiben. Sofem hier eine Differenzierung der quaJitativen Forschung in den be i- 9 den Disziplinen Erziehungswissenschaft und Sozio logie, die ja zunachst le diglich die formale Organisiertheit der Forscher(innen) erfaBt, uberhaupt sinnvoll ist, lliBt sich feststellen, daB unterschiedliche Stromungen, Ansatze oder Schulen gegenwlirtig im Bereich der Soziologie starker ausdifferenziert sind und entsprechend auch in Konkurrenz zueinander stehen als in der Er ziehungswissenschaft. 3. Unterschiedliche Mentalitaten qualitativer Forschung und ihre Gemeinsamkeiten Unsere Warnung vor dogmatischen Abgrenzungen ist aber nicht etwa in prinzipieller Weise gegen Schulenbildung gerichtet. Aneignung qualitativer Methoden bedeutet primlir eine Aneignung von Forschungs-Praxis. Die Ver mittlung von Forschungs-Praxis bedeutet, wie jedes Lehren professioneller Fahigkeiten, die Aneignung eines modus operandi, eines Habitus und ist da mit an Schulenbildung gebunden. Denn die Aneignung eines Habitus unter scheidet sich nachhaltig vom Erlemen von Prinzipien oder formalen Regel system en. Bourdieu hat dies folgendermaBen formuliert: "Da das, was es zu vermitteln gilt, im wesentlichen ein modus operandi ist, eine Weise der wis senschaftlichen Produktion, die eine Wahmehmungsweise voraussetzt, ein Ensemble von Wahmehmungs- und Gliederungsprinzipien, gibt es keine an dere Art und Weise sie zu erwerben, als sie praktisch in Aktion zu sehen oder zu beobachten, wie dieser wissenschaftliche Habitus ( ... ) reagiert, ohne dabei unbedingt in Gestalt formaler Regeln expliziert zu werden" (Bourdieu 1996, 256). Damit sind wir auch bei einer der wesentlichen Intentionen dieses Ban des angelangt: Es geht darum, einen Eindruck zu vermitteln von unterschied lichen modi operandi des Forschens und Analysierens oder - wie es in der Tradition der Chicagoer Schule genannt wird - von Forschungsstilen, von analytischen Mentalitaten, wie wir sie derzeit in der Erziehungswissenschaft und der Soziologie finden und die z.T. bereits in umfassenden Methodolo gien begriindet sind. Jenseits dieser unterschiedlichen Verfahrensweisen fin den sich jedoch auch Gemeinsamkeiten der Forschungsstile der hier versam melten Arbeiten aus dem Bereich der qualitativen oder rekonstruktiven Sozi alforschung. Einige gemeinsame Merkmale der flir qualitative Methoden ty pischen Analyseeinstellung sollen im folgenden kurz skizziert werden: - Die Analyse impliziter oder latenter Bedeutungsgehalte: Qualitative Me thoden leisten eine Differenzierung zwischen einer Oberflachenstruktur des Sinngehalts von AuBerungen (das, was wortlich, explizit oder inten tional mitgeteilt wird) und einem impliziten, latenten oder dokumentari schen Sinngehalt. 10