Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancengleichheit Fabian Dietrich (cid:129) Martin Heinrich Nina Thieme (Hrsg.) Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancen- gleichheit Theoretische und empirische Ergänzungen und Alternativen zu ‘PISA’ Herausgeber Fabian Dietrich Prof. Dr. Martin Heinrich Dr. Nina Th ieme Leibniz Universität Hannover Deutschland ISBN 978-3-531-18424-1 ISBN 978-3-531-19043-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-531-19043-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio- n a lbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu- stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über- setzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in die- sem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu be- trachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürft en. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de Inhalt I Einleitung Fabian Dietrich, Martin Heinrich und Nina Thieme Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancengleichheit. Theoretische und empirische Ergänzungen und Alternativen zu ‚PISA‘ – Zur Einführung in den Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II Gerechtigkeitstheoretische Zugänge Dietmar Hübner Bildung und Gerechtigkeit: Philosophische Zugänge . . . . . . . . . . 35 Krassimir Stojanov Bildungsgerechtigkeit als Anerkennungsgerechtigkeit . . . . . . . . . 57 Mark Schrödter Der Capability Approach als Referenzrahmen von Gerechtigkeitsurteilen in der Sozialen Arbeit . . . . . . . . . . . . 71 III Sozialwissenschaftlich-theoretische Zugänge zur Bildungsgerechtigkeit Michael Vester Das schulische Bildungssystem unter Druck: Sortierung nach Herkunft oder milieugerechte Pädagogik ? . . . . . . . 91 Rolf-Torsten Kramer Abschied oder Rückruf von Bourdieu ? Forschungsperspektiven zwischen Bildungsentscheidungen und Varianten der kulturellen Passung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 6 Inhalt Marcus Emmerich und Ulrike Hormel Ungleichheit als Systemeffekt ? Schule zwischen sozialstruktureller Reproduktion und operativer Eigenrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Nina Thieme Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit oder jenseits von Chancengleichheit ? Ein Ansatz zur empirischen Untersuchung von Bildungsgerechtigkeitskonzeptionen schul- und sozialpädagogischer Professioneller in ganztägigen Arrangements . . . 159 Martin Heinrich Bildungsgerechtigkeit für alle ! – aber nicht für jeden ? Zum „Individual-Disparitäten-Effekt“ als Validitätsproblem einer Evidenzbasierung . . . . . . . . . . . . . . 181 IV Empirisch-rekonstruktive Zugänge zur Bildungsgerechtigkeit Christine Wiezorek und Margaret Pardo-Puhlmann Armut, Bildungsferne, Erziehungsunfähigkeit. Zur Reproduktion sozialer Ungleichheit in pädagogischen Normalitätsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . 197 Nicolle Pfaff Bildungsbezogene Orientierungen vor dem Hintergrund von Klasse, Geschlecht, Ethnizität und Bildungssystem: Was leisten intersektionale Rekonstruktionen ? . . . . . . . . . . . . . 215 Kerstin Rabenstein und Sabine Reh Von ,,Kreativen“, „Langsamen“ und „Hilfsbedürftigen“. Zur Untersuchung von Subjektpositionen im geöffneten Grundschulunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Fabian Dietrich und Uwe Fricke Reproduktion sozialer Ungleichheit im Prozess schulischer Leistungsbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Inhalt 7 Georg Breidenstein und Katrin U. Zaborowski Unterrichtsalltag, Verhaltensregulierung und Zensurengebung. Zur Schulformspezifik schulischer Leistungsbewertung . . . . . . . . . 293 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 I Einleitung Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancengleichheit Theoretische und empirische Ergänzungen und Alternativen zu ‚PISA‘ – Zur Einführung in den Band Fabian Dietrich, Martin Heinrich und Nina Thieme Der Titel des vorliegenden Bandes, mit dem die forschungsprogrammatische Stoßrichtung der versammelten Beiträge umrissen werden soll, verweist in dop- pelter Weise auf die Diskursmächtigkeit von ‚PISA‘ in Bezug auf das fokussierte Thema der Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Bildungssystem bzw. der Bil- dungsungerechtigkeit. Zweifellos verhalf der in der ersten PISA-Studie erbrachte und in der Folge immer wieder bestätigte Nachweis der hohen sozialen Selektivi- tät des deutschen Schulsystems dem Thema zu erneuter und nachhaltiger wissen- schaftlicher, aber auch bildungspolitischer Aufmerksamkeit (vgl. Maaz/Baumert/ Trautwein 2009, S. 11, 17 f.; Krüger u. a. 2010, S. 7 ff.). Davon ausgehend dominiert die in den letzten 15 Jahren in Deutschland Raum greifende Large-Scale-Assess- ment-Forschung die wissenschaftliche Debatte zum Thema. ‚PISA‘ wird nicht nur deswegen im Titel des Bandes als Chiffre für diese Forschungsbemühungen ver- wendet, weil es den zentralen Ausgangspunkt der neuen Auseinandersetzung dar- stellt. Wie Jürgen Baumert und Kai Maaz ausführen, definiert PISA als beispiel- gebende Studie für die Large-Scale-Assessment-Forschung insgesamt die Art und Weise, wie die soziale und ethnische Herkunft empirisch erhoben werden und welche forschungsmethodischen Standards an die Erhebung anzulegen sind (vgl. Baumert/Maaz 2010, S. 161 f.). Mit dem in diesem Sinne zu lesenden Verweis auf ‚PISA‘ wird in dem vorlie- genden Band der Anspruch erhoben, Ergänzungen und Alternativen zum Ansatz der auf das Thema der Reproduktion sozialer Ungleichheit im Schulsystem bezo- genen Large-Scale-Assessment-Forschung aufzuzeigen. Die Stoßrichtung der vor- liegenden kritischen Bezugnahme sowohl auf diesen Forschungsstrang als auch auf den von diesem ausgehenden PISA-Diskurs deutet sich im Obertitel an: Bil- dungsgerechtigkeit als dezidiert normative Variante der Bezeichnung des Themas F. Dietrich et al. (Hrsg.), Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancengleichheit, DOI 10.1007/978-3-531-19043-3_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 12 Fabian Dietrich, Martin Heinrich und Nina Thieme soll nicht selbstredend als Chancengleichheit konzipiert werden. Die unterstellte Ergänzungs- und Korrekturbedürftigkeit zielen demnach auf die ausgewiesenen oder impliziten Voraussetzungen, bei denen ‚PISA‘ und in seiner Folge zahlreiche andere Large-Scale-Studien ihren Ausgang zur Bearbeitung des Themas der Bil- dungsungerechtigkeit nehmen. 1 Bildungs(un)gerechtigkeit als fuzzy concept ? Die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) im deutschen Schulsystem wird seit den ersten PISA-Ergebnissen nicht nur primär durch den für das deutsche Schulsystem besonders stark ausgeprägten Zusammenhang von so- zialer Herkunft und Bildungserfolg bzw. Bildungsmisserfolg gefasst, sondern zu- nehmend auch neben der Kategorie der Chancenungleichheit mit der umfassen- deren der Bildungsungerechtigkeit verbunden (vgl. Stojanov 2011, S. 113). Stojanov konstatiert für die Kategorie der Bildungsungerechtigkeit eine „momentan[e] […] Hochkonjunktur in der deutschen bildungspolitischen Diskussion“ (ebd.). Auch im Bildungsjournalismus (vgl. u. a. Brand/Kil 2011, S. 20) sowie zunehmend im disziplinären Diskurs (vgl. u. a. als Beispiele dafür Heinrich 2010; Stojanov 2011) findet diese Kategorie entsprechende Beachtung. Hinausgehend über die verbreitet akzeptierte (vgl. Stojanov 2011, S. 18), gleich- wohl analytisch wenig tiefgehende Feststellung, dass Bildungsungerechtigkeit den ausgeprägten Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsmisserfolg bzw. -erfolg bezeichne, erweist sich im Rahmen einer Suche nach differenzierte- ren Betrachtungen die Kategorie der Bildungsungerechtigkeit schnell als das, was Markusen als fuzzy concept bezeichnet: „A fuzzy concept is one which posits an entity, phenomenon or process which posses- ses two or more alternative meanings and thus cannot be reliably identified or applied by different readers or scholars. In literature framed by fuzzy concepts, researchers may believe they are addressing the same phenomena but may actually be targeting quite different ones“ (Markusen 2003, S. 702). Folgte man der Definition von Markusen in dem Aspekt, Entitäten, Phänomene oder Prozesse, die zwei oder mehr Bedeutungen aufweisen, als fuzzy concepts zu fassen, müssten – bei strenger Betrachtung – nahezu alle Begrifflichkeiten in den Sozialwissenschaften als fuzzy concepts bezeichnet werden. Jedoch charakterisiert die Kategorie der Bildungs(un)gerechtigkeit ein besonderes Maß bzw. eine Steige-