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Anarchie: Träume, Kampf und Krampf im deutschen Anarchismus ; [eine Bestandsaufnahme] PDF

408 Pages·2012·52.626 MB·German
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Träume , Kamp f und Kramp f im deutschen Anarchismus Autor : Jörg Bergstedt Reihe „ScharfZeichner“ im SeitenHieb-Verlag ISBN 978-3-86747-047-6 Inhalt Vorweg ..................................................................................7 1 Intro ....................................................................................9 2 Wa sis tund we rwi ll Anarchie ? ...............................................13 Begrif fund Wirklichkei tzwischen Aufstand und Lebensgefüh l .....................13 Definitione n .........................................................................................13 Anarchie − de rBegrif ffü ralles ,auch völlig Verwirrte s ..................................2 1 Chao sund Anarchie : De rmoderne Teufe lal sProjektio nde rApokalypse .........22 Anarchie-Hetze i nTheorieform : Herrschaf tode rBarbare i ............................29 Anarchiehetze wa rimmer : Blicke i ndie Geschichte .....................................32 Anarchiekriti kvo nLink s..........................................................................34 Sympathie fü rdie Anarchie − of tabsurd wie die Hetze ...............................38 Wa sbleib ta nzentrale nDefinitionspunkten ?..............................................40 Variante nde sAnarchismu s ....................................................................42 Anarchistische Zeiten. Geschichte mi tund ohne Herrschaftskämpfen ...................................47 Sein .Schein .Wirklichkei t.....................................................................54 Who i swho im deutschsprachige nAnarchismus ? .......................................54 Erscheinungsforme nanarchistische rStrömunge n.........................................78 3 Theorien ,Lücken und blinde Flecken .......................................83 Aktuelle Theorieansätze. Worübe rAnarchistInnen nachdenken ,wenn sie denken ......................83 Z uwenig : Da straditionelle Verständni svo nHerrschaf t ................................84 Verschlafe node rvergessen : Moderne Herrschaftsanalyse ...........................88 Da sMenschenbild im Anarchismu s..........................................................93 Da sGute au sdem transzendenten „Off“ : Wa sis tMora l und wozu dien tsie ? ....................................... 95 Die Morale nde rAnarchistInne nund Gutmensche n .....................................97 Libertä rund brav : De ranarchistische Knigge ............................................103 Anarchistische rGedankenbrei : Religio n− nein ! Höhere Werte − ja ,doch ... ? 106 Anarchie und Demokratie .Die Gleichsetzung de sUnvereinbaren ...............108 Siebe nMal : Anarchie und (Basis-)Demokratie sind unvereinbar ! ...................108 Anarchistische Kriti ka nStaa tund Demokratie ...........................................120 Trotzdem : AnarchistInne nfü rdie (verbesserte )Demokratie ..........................122 Positive rBezug au fda sVol k ..................................................................127 Soziale rOrganismu s ...........................................................................129 Anarchie gleich Basisdemokratie ? ..........................................................129 Anarchie gleich Direkt-Demokratie ? ........................................................132 Konsensdemokratie .............................................................................134 De rKonsen sal sWaffe − Beispiele politische rKonkurrenzkämpfe .................14 1 Kriti kde rDemokratiebefürwortung .........................................................148 Wenn die Marktwirtschaf tzum anarchistischen Idea lwird .. . .....................149 Mark tode rStaa t− die falsche Frage .....................................................152 Einzelfrage n ......................................................................................154 Die Schnittstelle nz uMarktwirtschaf tund Bürgerlichke it...............................162 Pareco n− krude Wirtschaftstheorie anarchistische nKreise ..........................164 Alternativökonomie .............................................................................167 Kriti k ................................................................................................168 Libertäre rKommunismu sode rgegenseitige Hetze zwischen AnarchistInnen und MarxistInnen ? .................................................17 1 Vergleiche .........................................................................................173 Unterschiede im Deta il .........................................................................173 Anarchokriti kund -hetze gege n(autoritären )Kommunismus/Sozialismu s.........180 Sozialistische und kommunistische Kriti kund Hetze ....................................185 Zusammengedacht : Marxismu sund Anarchismu s ......................................187 4 Strategien und Streitfragen ...................................................189 Fre ivon Inhalt ?Hauptschwächen anarchistische rKonzepte − emanzipatorisch geprüf t..............................................................189 Angs tvo rde reigene nKonsequenz : Sicherhe itund Kontrolle stat tdynamische rOffenhe it ............................189 Revolution ode rReform ? Vom seltsamen Gegensat zzweie rof tdumme rKonzepte ....................193 Vo nQuantitäte nund Qualitäte n ............................................................193 Radikalität ?........................................................................................197 Fragend vora n.. . ................................................................................199 Ei nUpdate fü rdie Anarchie bitte .. . ....................................................... 200 Die Völke rde skleine sM@nne s− Anarchie ,Kollekti vund kollektive Identitä t ...................................... 20 1 Ega lwas ,Hauptsache Einhe itund/ode rKollekti v...................................... 202 Erscheinungsforme nund Steigerung ....................................................... 206 AnarchistInne npro Kollekti v ..................................................................215 AnarchistInne nal sKollektiv : Wi rund die andere n .....................................216 Anarchistische Kriti kde sKollektive n ........................................................219 Angs tessen Freihei tauf :Kontrollwahn in anarchistische rTheorie & Praxi s ..222 Anarch@ sfü rKontrolle ........................................................................ 222 Anarchismu svo nPolize ibi sKnas t.......................................................... 224 Spätesten si nde rKrise : Demokratisierung vo nEntscheidungsprozesse n......... 234 Naive sMachtverständnis : Hierarchie nschöngerede t ................................ 225 Gegenentwürfe : Herrschaftskritische Positione n ....................................... 238 Da sDoppeldogma :Gewaltfreihei tode rMilitan z− is tda seine Frage ? .......24 1 Trotzdem : Gewa ltal szentrale rPunk t− pro und contra .............................. 245 Die Argumente pro Gewaltfreihe it− und wa sdavo nz uhalte nis t ................ 245 Offene Frage nund blinde Flecke n ......................................................... 254 Is tdie Gewaltfrage wichtige ral sandere Aspekte ?.....................................26 1 Gu tund Böse : Identitätsstiftende Kraf tde rGewaltfreihe it........................... 262 Wie eine Religion : Gewaltfreihe ital sGesamtideologie ............................. 264 Pro Gewalt : Notwendig ode rFetisch ? .................................................... 267 Zu rBedeutung vo nMilitan zal sProtestform ............................................. 270 Perspektive nzu rGewaltfrage jenseit svo nHegemonialkämpfe n................... 276 Fü reine Protestkultu remanzipatorische rVielfa ltund Aneignung ................... 277 Fazit : Meh rHirn ! ................................................................................28 1 Die wichtige nFrage nstellen ! ................................................................ 286 5 Defizite − in die Praxi sumgesetz t .........................................289 Blicke vo rund hinte rdie Kulissen : Wie sieh tdie Praxi sde rAnarchistInnen aus ? ...................................289 Anarchistische Aktio n ......................................................................... 289 Anarchistische Organisierung ............................................................... 295 Projekte und Keimzelle n ...................................................................... 302 Wi rsind gut ,we ila lt− Anarchie al sNabelscha u .................................... 304 6 Jörg Bergstedt: Anarchie. Träume, Kampf und Krampf ... Moderne Formen von Hierarchie : Wie geh tDominan zin hierarchiekritischen Gruppen ? .......................306 Moder nführen : Da sMethodenpake tfü rversteckte Dominan z..................... 307 Herrschen ,ohne das se sjemand merkt : Instrumentalisierung ........................315 Kontrolle de rAußenvertretung ................................................................318 Nase vorn : Instantaktione nund Bewegungsagenture n al sAnführe rde rModernisierung .....................................................325 Vo nStaa tund Bewegungsoligarche ngefürchtet : Unberechenbare rProtes t .... 330 6 Perspektiven ......................................................................33 1 Theorie fü rAnarchie .Ein Update (Neue )AnarchistInnen brauch tda sLand! ? ..................................... 33 1 Herrschaftsanalyse modernisiere n ......................................................... 332 Wissensbasierte Radikalität : Wissenschaftliche rAnarchismus ? Materialismu sfü rAnarchistInnen ?....................................................333 Emanzipation : De rMensch im Mittelpunk t .............................................. 339 Da sneue Subjekt : Alle ,abe runterschiedlich ............................................ 340 Strategie fü rdie Anarchie .................................................................... 343 Wie kann e sweitergehen ?Konkrete Vorschläge und neue Ansätze fü rdie praktische Anarchie .................................349 Anarchie fü ralle : Herrschaftsfreie sLebe nund Überlebe nim Alltag ............... 349 Anarchie fü rGruppen : Organisierung ohne Hierarchie n ............................ 358 Anarchie fü rBetriebe : Produktio nund Verteilung ...................................... 372 Anarchie i nAktion : Interventio nin sHie r& Jetz t........................................ 377 Anarchie fü rTräume und TräumerInnen : Theorieentwicklung und Utopiedebatte ............................................395 Wa sHoffnung macht : Blicke übe rdie Grenze n ........................................ 397 Literatu r400 Die bissige Reihe fü rpolitische Analyse Weitere Büche ri nde rScharfZeichner-Reihe ab Seite 407! Passend zum Thema: Demokratie. Die Herrschaft 14, - (cid:238) des Volkes. Eine Abrechnung Ist Herrschaft des Volkes wirklich etwas so Gutes? Volk als konstruiertes, identitäres Subjekt existiert nur in Form seiner Stellvertretung. Wenn die dann herrscht „im Namen des Volkes“ über die Men- schen − was daran ist gut? Und wenn dann noch Bomben fallen, um die Demokratie weltweit zu ex- portieren − was unterscheidet diese Kriege von der Brutalität der Kolonialisierung und religiös mo- tivierten Missionen bis Kreuzzüge früherer Zeiten? Ab 3 St. 9 (cid:238), ab 10 St. 7 (cid:238). Kap. 1 Intro 7 Vorweg Es war eher unerwartet, vielleicht sogar zufällig. An einem kühlen No- vemberabend des Jahres 2011 fand in Frankfurt eine Veranstaltung statt, zu der die dortige Humanistische Union eingeladen hatte. Eigent- lich ging es um eine absurde Polizeiaktion, mit der die hessischen Poli- zei- und innenpolitischen Führer über fünf Jahre zuvor einen unge- mütlichen Kritiker loswerden wollten. Dessen hartnäckige Recherche, einige Tapsigkeiten der Sicherheitsorgane und eine auf Vertuschung zielende Strategie der Landesregierung führten mit jahrelanger Verzö- gerung zu einigen Schwierigkeiten für die Männerriege an der hessi- schen CDU-Spitze. Doch der Hauptbetroffene erläuterte nicht nur die Abläufe des Ganzen, sondern rahmte das Ganze mit einer deutlichen Kritik an Recht und Ordnung, die − als Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse − vor allem den Interessen der Herrschenden die- nen. Das lockte entschiedenen Widerspruch bei marxistisch oder bür- gerlich gesinnten GegnerInnen herrschaftsfreier Utopien. Das Recht müsse „bis aufs Letzte verteidigt“ werden, forderte etwa der Linken- Landesvorsitzende − und ließ offen, ob er damit die Residenzpflicht, die Sicherung von Reichtumsunterschieden oder die vielen Gesetze, die Milliardenhilfen in Banken pumpten, meinte. Den rhetorischen Höhe- punkt aber lieferte eine Besucherin, die sich des mediengemachten Ru- fes erinnerte, mit dem der Referent und Hauptbetroffene immer wieder als „Anarchist aus Mittelhessen“ gebrandmarkt wurde. Recht wütend rief sie aus: „Wir müssen das Recht verteidigen, sonst sind wir keine richtigen Anarchisten“. Mensch ist ja einiges gewöhnt an absurden Meinungen über den Anar- chismus. Die Schreckensbilder von bombenden ChaotInnen aus dem bürgerlichen Lager wechseln sich mit platten Anpissen aus marxisti- schen Ecken, die AnarchistInnen just dort verorten, wo sie eben als BombenlegerInnen verteufelt werden. Aber das AnarchistInnen ausge- rechnet zum Bollwerk für Recht und Ordnung ausgerufen werden, ist doch eher selten. Was aber sind „richtige AnarchistInnen“? Kann es das überhaupt ge- ben? Wäre nicht eine Definition, die Abweichungen ausschließen könnte, ein Widerspruch zur Idee des Anarchismus? Ja und nein. Bejaht werden muss die Absage an Dogmen und Klarheiten. Denn eine tief- schürfende Herrschaftsanalyse muss immer offenlegen, dass alles von Interessen durchzogen ist. Auch die Analyse selbst (und damit z.B. auch dieses Buch!). Der Mensch ist nicht in der Lage, objektiv wahrzuneh- men. Es gibt folglich weder in der politischen Debatte noch in der so- zialen Organisierung und ebenso nicht in der Wissenschaft irgendeine Wahrheit oder Objektivität. Wer das von sich behauptet, offenbart nur einen ideologischen Willen, sich zwecks Durchsetzung eigener Ansich- ten auch schmutziger Tricks zu bedienen und andere Meinungen aus- zustechen. Zudem bedeutet menschliches Leben, individuell und − un- ausweichlich − im gesellschaftlichen Zusammenhang, immer einen Fortschritt an Möglichkeiten und Wissen. Es ist nicht möglich, aus der jeweils aktuellen Perspektive einzuschätzen, was Jahre oder Jahrzehnte 8 Jörg Bergstedt: Anarchie. Träume, Kampf und Krampf ... später gilt. Daher ist jede Auffassung immer auch relativ als Anschau- ung in der Gegenwart − einerseits von eigenen Interessen beeinflusst, andererseits dem zeitlichen Verfall ausgeliefert. Trotzdem gilt auch das Nein zur völligen Willkürlichkeit des Anarchie- Begriffs. Denn Anarchie bedeutet die Abwesenheit von Herrschaft und die Organisierung des sozialen Lebens ohne Hierarchien. Was Herr- schaft und Hierarchien sind bzw. was als herrschaftsfrei empfunden wird, unterliegt persönlicher Wahrnehmung und analytischem Fort- schritt. Aber es ist nicht willkürlich. Es lassen sich Kriterien für Herr- schaftsformen und machtförmigen Steuerungsmechanismen benen- nen. Wie sie genau aussehen und welche wie wichtig sind − darum lässt sich trefflich streiten. Aber sie nicht zur Kenntnis zu nehmen aus der Laune heraus, dass Anarchie gelebte Gleichgültigkeit sei, ist zwar ein prägendes Merkmal vieler AnarchistInnen. Aber solche Herrschafts- freiheit ist nur gefühlt und beruht schlicht darauf, dass nicht genau hingeguckt wird und alles irgendwie cool und gleichberechtigt wirkt − oft genug vernebelt durch schwarze Kleidung, verbalradikale Sprüche und THC-geschwängerte Luft. Anarchie ist gelebter Widerstand gegen Herrschaft und Hierarchie − und das Basteln an Gegenmodellen, Experimenten und Freiräumen. Das setzt einen wachen Geist voraus, der skeptisch hinter die vermeint- lichen Selbstverständlichkeiten und Mauern schaut, die in Köpfen und in sozialen Räumen aufgebaut sind. Dieser Logik will dieses Buch fol- gen: Ein kritischer Blick auf das, was als Anarchismus im deutschspra- chigen Raum bezeichnet wird − und einer auf die, die mit solchen Logos und Slogans auftreten. Was hier allerdings fehlt, ist die Analyse von Herrschaft und der Ent- wurf herrschaftsfreier Utopien. Dafür gibt es das Buch „Freie Menschen in freien Vereinbarungen“, welches für die Theorie der Anarchie mit dem hier vorliegenden Werk ein Doppelpack bildet − keine softe Lektü- re, sondern eine Aufforderung zum Nachdenken, gerne auch zur Kritik. Denn Streit ist eine Produktivkraft und das Ziel eines jeden Buches soll- te sein, über sich selbst hinaus zu zielen − sicherlich ein hoher An- spruch in einer Zeit vereinfachter Welterklärungen, des MitläuferIn- nentums bei Instant-Aktionen und populistischer Minireförmchen, die auch politische Bewegung fast überall prägen. Saasen, 1.3.2012 Kap. 1 Intro 9 1 Intro Lassen wir drei Menschen sprechen − sicherlich sehr verschiedene Charaktere: Hessen sdamalige rInnenministe rVolke rBouffie r(danach : Minister- präsident )im Interview de sDeutschlandradio sam 20.4.2007 Ludwig Börne ,zitier tnach Gusta vLandauer : „Börne und de rAnar- chismus “(Erstveröffentlichung in : Sozialistische Monatshefte ,Nr . 2, 1900) ,in : ders. : Erkenntni sund Befreiung . Ausgewählte Reden und Aufsätze ,Frankfur ta . M .1976 ,S . 20 (Wor t„ist “in Mitte de sAbsat- ze sis tin manchen Zitierungen enthalten ,in anderen nicht) Quelle zu Börne : http:// projekte.free.de/dada/ anarchie.htm Alle Zitate aus diesem Buch als vollständige Sätze und viele weitere Quellen finden sich auf de rInternetseite www. anarchie-debatte.de.vu. Au sWilde ,Osca r(1970) : „De rSozialismu sund die Seele de sMen- schen“ ,Diogene s(S . 29 und 59) Diese Textsammlung ist keine Theorie der Herrschaftsfreiheit oder Anarchie. Das ist in anderen Veröf- fentlichungen erfolgt, vor allem Die beiden genannten Bücher den Textsammlungen und Büchern sind ebenfalls „Freie Menschen in Freien Verein- im SeitenHieb- barungen“ und „Autonomie & Verlag (www. Kooperation“. Auf die dortigen Ab- seitenhieb.info) handlungen und konkreten Uto- erschienen ,zu- pien bezieht sich dieser Text, wenn dem übe rwww. aktionsversand. in ihm Zielbilder herrschaftsfreier de.vu zu bestel- Gesellschaft als Anspruch mit der len. Wirklichkeit anarchistischen Trei- bens verglichen werden. Hier geht es nämlich nun darum, die im deutschsprachigen Raum vorhandenen Ansätze von Anarchie zu durchleuchten, sowohl hinsichtlich ihrer Theorien (soweit vorhanden) als auch ihrer Praxis, von Organisierungsfragen bis zu politischen For- derungen. Alle werden hinsichtlich ihres Gehalten und Beitrags zu 10 Jörg Bergstedt: Anarchie. Träume, Kampf und Krampf ... Emanzipation und Herrschaftsabbau geprüft. Es ist also eine kritische Bestandsaufnahme und Analyse. Wer über eine herrschaftsfreie Welt jenseits der oft enttäuschenden praktischen Versuche nachdenken will, muss zu den genannten Werken greifen. Die folgenden Texte sind in drei große Bereiche gegliedert. Zunächst folgt eine kurze Einführung in die Grundlagen dessen, was anarchisti- sche Praxis bedeuten müsste − und wie sie aussah, sich entwickelte und heute verfasst ist. Einerseits soll geklärt werden, was im Wort „Anar- chie“ eigentlich drin steckt. Das ist bereits schwierig, denn zwar lässt sich Anarchie schnell mit einigen Worten wie „Gesellschaft ohne Geset- ze“ oder − weitergehender − „Organisierung ohne Herrschaft“ überset- zen . Aber das Dilemma steckt im Detail der Begriffe, die dann verwen- det werden. Was ist Gesellschaft? Was ein Gesetz? Was bedeuten Organi- sierung oder Herrschaft genau? Mit solchen Schwierigkeiten steht die Anar- chie nicht allein da. Es ist z.B. ganz ähnlich Zu rKriti kder Demokratie beim Begriff und der Idee von Demokratie. siehe www. Fast überall wird das Wort mit Herrschaft demokratie- des Volkes übersetzt und die meisten sind total.de.vu damit sogar zufrieden. Wer aber dann auf die Begriffe Herrschaft und Volk schaut, er- kennt schnell, dass das keine besonders rei- zenden Kategorien sind: Die eine ist nichts als das Wort verfestigter Machtverhältnisse, das andere beschreibt eine Menge von Menschen, die zu einer Einheit gemacht und damit ihrer Vielfalt und Selbstorgani- sierung beraubt wurde. Ist Demokratie dann immer noch dieses Positi- ve, auf das sich nicht nur DemokratInnen, sondern auch viele Anar- chistInnen beziehen? In den Augen fast aller Menschen ja. So entsteht ein begriffliches Paradox: Minus plus Minus ergibt Plus. Nicht viel anders steht es um die Anarchie. „Anarchie bedeutet die völli- ge und absolute Verneinung jeder Form von Herrschaft und gleichzeitig die Schaffung und Erhaltung einer herrschaftsfreien gesellschaftlichen Ordnung“, findet sich z.B. auf einem selbstgestrickten Faltblatt aus anarchistischen Kreisen. Doch was genau ist Herrschaft, was Gesell- schaft und wie ordnet sich die? Wer solche Fragen stellt, gerät schnell ins Schlingern mit einfachen Antworten. Draußen bei den AnarchistIn- nen fällt das aber kaum auf. In ihrer Diskussion gibt es kaum noch ge- dankliche Auseinandersetzungen mit den gesellschaftlichen oder eige- nen Verhältnissen und Beziehungen. Die Theorieentwicklung ist über- wiegend vor über hundert Jahren stehengeblieben. Noch heute schwel- gen viele in Klassenkampftheorie oder träumen von der Zerschlagung repressiver Gewalten, während sie moderne Funktionseliten nicht or- ten und Diskurse selbst mit verbreiten. Das bildet also den ersten Teil der Texte: Was geben anarchistische Theorie und das Selbstverständnis der sich heute so verstehenden Menschen her? Was bedeutet Herrschaft und was müsste in der Folge eine herrschaftsfreie Welt auszeichnen? Dazu sollen Gedanken zusam- mengefasst werden, die in den Büchern „Freie Menschen in Freien Ver- einbarungen“ und „Autonomie & Kooperation“ ausführlich zu lesen Kap. 1 Intro 11 sind. Dort sind neben aktuellen Betrachtungen institutioneller Macht auch Debatten und Analysen über Funktionseliten, Diskurse, Verwer- tungs- und Profitzwänge, Vereinnahmungen, Assimilation und andere informelle Herrschaftsformen zu finden. Wenn eine gesellschaftliche Theorie die Freiheit von aller Beherrschung will, dann muss sie den Blick auch auf deren versteckte Formen richten. Denn eine Politikform, in der von Vornherein gar nicht mehr gewollt ist, als das Augenfällige zu verändern, wäre schlicht erbärmlich. Leider trifft das fast überall zu, wie zwei weitere Kapitel der Einleitung über die Geschichte anarchisti- scher Strömungen und die heutige Situation zeigen − immer bezogen vor allem auf den deutschsprachigen Raum. Diese Zusammenschau folgt dann im Kernstück dieser Textsammlung: Eine Bestandsaufnahme von aktuellen Theorie- und Organisierungs- ansätzen des Anarchismus. Diese werden dann mit den notwendigen Anforderungen an Theorien und Strategien der Herrschaftsfreiheit ge- genübergestellt, um zu schauen, wo sich Lücken oder gar Widersprüche finden lassen. Gibt es Klassen und kann etwas befreiend wirken, was Menschen in einheitliche Kategorien zwingt, um sie dann zum Subjekt der Revolution zu machen? Ist Demokratie nicht eine Form der Herr- schaft? Wie kann Anarchismus dann basis- oder direktdemokratisch sein wollen? Wo laufen die Debatten um diskursive Steuerungen, Ent- machtung der Funktionseliten oder das Spannungsfeld von Eigentum und gesellschaftlichem Reichtum? Ist kollektive Identität nicht auch ei- ne Form der Beherrschung? Warum aber weisen dann gerade politische Proteste sich als anarchistisch gebärdender Gruppen eine so hohe Ein- heitlichkeit von Fahnen, Schildern oder Labels auf? Anarchistische Theorie und Praxis sind regelmäßig weit entfernt da- von, sich der Herrschaftsfrage tatsächlich anzunähern und Konzepte für Protest und Experimente zu entwerfen. Zweifel scheinen berechtigt, ob ein Umgang mit den verschiedenen Formen der Herrschaft, z.B. ökomonische Abhängigkeiten und Zwänge, Zurichtungen und Rollen oder ungleicher Zugang zu Ressourcen gefunden werden soll. Es wer- den Kapitel sein, die vielen selbsternannten AnarchistInnen nicht ge- fallen werden − auch weil sie zeigen, dass herrschaftsfreie Organisie- rung mehr ist als ein Wohlfühl- oder Abgrenzungsspiel. Während also auf der einen Seite viele AnarchistInnen die Idee der Anarchie als Etikett ohne Inhalt und Praxis verwenden, brauchen an- dererseits die Gläubigen an die Notwendigkeit autoritärer Lenkung die Anarchie als Zerrbild, um ihre eigene permanente Gewaltanwendung zu legitimieren. Das sind weniger blutrünstige Diktatoren oder patriar- chale Warlords, sondern vor allem DemokratInnen und AnhängerIn- nen des Rechtsstaates. Sie zimmern sich eine Anarchie zurecht, die aus wenig mehr besteht als Mord und Totschlag. Oft steht sie schlicht für alles, was schief läuft innerhalb der sonst so geordneten Welt − meist eher wegen dieser Ordnung. Das Ganze ist ein billiger Propagandatrick, ähnlich dem Gerede vom bösen schwarzen Mann, mit dessen Erfin- dung Hirne und Herzen weich gemacht werden für die innere Aufrüs- tung der Gesellschaft. So wird Angst geschürt vor Chaos und Gewalt, um die eigene Gewalt zu legitimieren. Der Abschnitt zur Hetze gegen die 12 Jörg Bergstedt: Anarchie. Träume, Kampf und Krampf ... Anarchie zählt Beispiele auf und stellt sie in einen Zusammenhang mit der Legitimation von Macht. Die Wirkung strahlt bis zu den Anarchis- tInnen selbst, die sich − gefangen im Willen, als gute Menschen zu gel- ten − in Folge der Hetze immer wieder zu genau dem bekennen, aus dem heraus die Idee der Herrschaftsfreiheit am meisten diskreditiert wird: Demokratie und Rechtsstaat. Schließlich soll ein perspektivischer Ausblick das Ganze im dritten Teil abrunden: Was kann und was muss sich ändern? Und wie? Dabei geht es nicht um die Perspektiven für eine anarchistische Gesellschaft, die in den schon genannten anderen Büchern formuliert sind. Überlegungen, wie eine herrschaftsfreie Welt aussehen könnte, finden sich in den bei- den Büchern. Sondern es sind Überlegungen, was Anarchie heute be- deuten und wie sie in politische Praxis umgesetzt werden könnte. Das alles ist ein Beitrag zur Debatte. Wahrheiten gibt es nur in herr- schaftsförmigen Gesellschaften, denn die Definition der Wahrheit als einheitliche Wahrnehmung der Dinge bedarf des Prozesses der Verein- heitlichung − ist also immer ein Akt der Beherrschung. Aus der Vielfalt wird dann die Einheit, aus dem beschreibenden ein identitäres „Wir“. Das ist auch bei vielen AnarchistInnen so, stellt aber bereits eine der Widersprüchlichkeiten in Bewegungen dar, die eigentlich für Herr- schaftsfreiheit auftreten. Diese Texte haben keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit. Sie müssen auf Organisationen keine Rücksicht nehmen, weil hier niemand beworben werden muss und keine kollektive Meinung dargestellt wird. Es muss auch niemand geschont oder besonders kritisch geprüft werden. Es ist eine Analyse aus der konkreten Perspektive des Jahres 2011 im deutschsprachigen Raum. Hoffentlich eine von vielen − der Anarchis- mus könnte mehr analytische Theorie, strategische Praxis und kriti- sche Reflexion gebrauchen. www.vortragsangebote.de.vu

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